Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.05.2009, Az.: 1 Ws 248/09
Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des Anhaltens von in "Sütterlinschrift" bzw. "Deutscher Schreibschrift" verfassten Schreiben eines Gefangenen im Strafvollzug
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.05.2009
- Aktenzeichen
- 1 Ws 248/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 17649
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2009:0519.1WS248.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg vom 23.03.2009
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- NStZ 2010, 438
- NStZ-RR 2009, 326
Amtlicher Leitsatz
Allein der Umstand, dass der Schriftverkehr eines Gefangenen vollständig oder zum Teil in "Sütterlinschrift" bzw. "Deutscher Schreibschrift" abgefasst ist, rechtfertigt nicht die generelle Anordnung des Anhaltens derartiger Schreiben gemäß § 31 NJVollzG.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss und die Verfügung der Antragsgegnerin vom 6. November 2008 werden aufgehoben.
Die Kosten beider Rechtszüge und die notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Landeskasse zur Last.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 300 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt C.. Er führt seit Dezember 2005 mit seiner inzwischen Verlobten Schriftverkehr in Sütterlinschrift bzw. Deutscher Schreibschrift. Mit mündlich eröffneter Verfügung vom 6. November 2008 hat die Antragsgegnerin angeordnet, dass künftig alle ein und ausgehenden Schreiben des Antragstellers, die - auch nur in einzelnen Passagen - in "Sütterlin" abgefasst seien, angehalten und zurückgesandt werden, solange sich der Antragsteller nicht schriftlich bereit erklärt, die Kosten der "Übersetzung" dieser Schreiben zu übernehmen und die daraus resultierenden Verzögerungen zu akzeptieren. Zur Begründung hat die Antragsgegnerin ausgeführt, dass auf Grund einer Zunahme des Schriftverkehrs des Antragstellers in Sütterlinschrift der Kontrollaufwand zu hoch geworden sei. Der Antragsteller und seine Verlobte seien ohne Probleme in der Lage, in lateinischer Schrift zu schreiben.
Den gegen diese Verfügung gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Antragstellers vom 18. November 2008 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts L. mit Sitz in C. mit Beschluss vom 23. März 2009 - dem Antragsteller zugestellt am 1. April 2009 - als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die angefochtene Maßnahme nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 NJVollzG rechtmäßig sei, weil die Anstalt "nachvollziehbar dargelegt" habe, dass wegen des Umfangs des Schriftverkehrs dieser nicht mehr kontrolliert werden könne.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde, die am 4. Mai 2009 bei Gericht eingegangen ist. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden. Da das Fristende auf Freitag, den 1. Mai 2009, und damit einen Feiertag fiel, war der Eingang der Rechtsbeschwerde am ersten darauf folgenden Werktag, nämlich Montag, dem 4. Mai 2009, gemäß § 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 43 Abs. 2 StPO noch rechtzeitig. Es ist auch geboten, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung sowohl zur Fortbildung des Rechts als auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Überprüfung führt bereits auf die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der Verfügung der Antragsgegnerin vom 6. November 2008, so dass es eines Eingehens auf die erhobene Verfahrensrüge nicht bedarf. Die angefochtene Entscheidung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht Stand.
a) Schon die Beschlussgründe werden den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht. Zwar enthält der Tatbestand eine ausführliche Darstellung des Sach- und Streitstandes. Die Entscheidungsgründe sind jedoch unzureichend. Diese müssen die Gründe wiedergeben, die für die richterliche Überzeugungsbildung zum Sachverhalt und für dessen rechtliche Beurteilung im Einzelnen maßgebend gewesen sind (vgl. Senatsbeschl. v. 22. Dezember 2008 - 1 Ws 585/08 [StrVollz]). Im vorliegenden Fall ist den Entscheidungsgründen weder eine Aufklärung des streitigen Sachverhalts und nachvollziehbare Beweiswürdigung noch eine erschöpfende rechtliche Bewertung des Falles zu entnehmen. Im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG gilt der Untersuchungsgrundsatz. Das Gericht darf seiner Entscheidung nicht den Sachvortrag einer Seite ungeprüft zugrunde legen. Wenn die Vollzugsbehörde Tatsachen vorgetragen hat, die ihre Maßnahme gegenüber dem Gefangenen begründen sollen, dann muss das Gericht aufklären, ob sie zutreffen oder nicht, ehe es sie übernimmt (st. Rspr.. vgl. Senatsbeschl. v. 13. Juni 2008 - 1 Ws 268/08 [StrVollz]. ebenso BVerfGE 21, 195 [BVerfG 15.02.1967 - 2 BvR 658/65]. OLG Stuttgart NStZ 1987, 295. Kammann/Volckart, in: AKStVollzG, 5. Aufl., § 115 Rdnr. 1. Callies/MüllerDietz, StVollzG, 11. Aufl., § 115 Rdnr. 3. jew. m. w. Nachw.). Dem wird die vorliegende Entscheidung nicht gerecht. Schließt sich das Gericht - wie hier - lediglich den Argumenten einer Partei an, so fehlt es an der gebotenen Überprüfung der angefochtenen Maßnahme (Senat aaO und bei Matzke NStZ 1997, 429). Soweit die Strafvollstreckungskammer hier ausgeführt hat, die Antragsgegnerin habe in ihrer Stellungnahme "nachvollziehbar dargelegt", dass wegen des Umfangs des Schriftverkehrs dieser nicht mehr kontrolliert werden könne, stellt dies keine eigene Beweiswürdigung des Gerichts dar. Zwar genügt im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG der Freibeweis (vgl. Callies/MüllerDietz a. a. O. Rdnr. 4 m. w. Nachw.). Dies mindert jedoch nicht den erforderlichen Grad der richterlichen Überzeugungsbildung. Die bloße Nachvollziehbarkeit der Erwägungen einer Prozesspartei reicht hierfür nicht aus. Abgesehen davon fehlt es im Beschluss - wie auch in der Stellungnahme der Antragsgegnerin - an konkreten Angaben zum Umfang des Schriftverkehrs des Antragstellers.
b) Trotz der Lückenhaftigkeit der Entscheidungsgründe ist die Sache spruchreif im Sinne des § 119 Abs. 4 Satz 2 StrVollzG. Denn bereits auf der Basis des Sachvortrags der Antragsgegnerin ist festzustellen, dass die Verfügung vom 6. November 2008 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 115 Abs. 2 Satz 1 StVollzG). Die generelle Anordnung des Anhaltens von Schreiben eines Gefangenen, die allein daran anknüpft, dass diese Schreiben vollständig oder auch nur zum Teil in Sütterlinschrift verfasst sind, findet weder in § 31 NJVollzG noch in einer anderen Regelung des Gesetzes ihre Rechtsgrundlage.
Eine konkrete Gefahr durch den Inhalt des Schriftverkehrs hat die Strafvollstreckungskammer nicht festgestellt. eine solche wurde von der Antragsgegnerin auch nicht zur Begründung ihrer Maßnahme angeführt. Zwar kann auch der Umfang des Schriftverkehrs eines Gefangenen grundsätzlich Maßnahmen der Anstalt nach § 31 NJVollzG rechfertigen. Dies setzt aber voraus, dass die Kontrolle des Schriftverkehrs einen so übermäßigen Aufwand erfordert, dass die mit der Kontrolle betrauten Bediensteten insgesamt überlastet sind und nicht ohne Beeinträchtigung anderer Aufgaben entlastet werden können. nur dann wäre eine Gefährdung der Ordnung der Anstalt im Sinne des § 31 Abs. 1 Nr. 1 NJVollzG anzunehmen (vgl. OLG Celle ZfStrVo 1985, 184. OLG Hamm NStZ 1989, 359 bei Bungert). Auch eine derartige Beeinträchtigung der Aufgabenerfüllung hat die Strafvollstreckungskammer vorliegend nicht festgestellt. sie ergibt sich auch nicht aus dem Sachvortrag der Antragsgegnerin. Vielmehr ist diesem zu entnehmen, dass nicht der Umfang des Schriftverkehrs an sich, sondern die verwendete Schriftart Anknüpfungspunkt für die Maßnahme ist. Abgesehen davon wäre bei einer Gefährdung der Ordnung durch den Kontrollaufwand regelmäßig nur eine Begrenzung des Schriftverkehrs auf ein zumutbares Maß, nicht aber eine generelle Anhalteanordnung gerechtfertigt (ebenda).
Dementsprechend könnte als Rechtsgrundlage für die Maßnahme nur § 31 Abs. 1 Nr. 6 NJVollzG in Betracht kommen. Danach können Schreiben angehalten werden, wenn sie in Geheimschrift, unlesbar, unverständlich oder ohne zwingenden Grund in einer fremden Sprache abgefasst sind. Indes ist keine dieser Voraussetzungen durch das Verwenden von Sütterlinschrift bzw. Deutscher Schreibschrift erfüllt.
Sütterlinschrift ist eine von dem Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin um 1911 im Auftrag des preußischen Kulturministeriums geschaffene Schreibschrift. Sie wurde verschiedenen Orts erprobt, leicht abgeändert und war die Grundlage der 1935 an den deutschen Schulen als "Normalschrift" eingeführten "Deutschen Schreibschrift". 1941 wurde die "Deutsche Schreibschrift" durch die "Deutsche Normalschrift", eine lateinische Schreibschrift, ersetzt. Diese wiederum wurde 1952 durch den "Iserlohner Schreibkreis" neu gestaltet und in modifizierter Form 1954 von der Kultusministerkonferenz als "Lateinische Ausgangsschrift" zur Grundlage des Schreibunterrichts in allen Bundesländern gemacht. Parallel dazu wurde - in einigen Bundesländern zum Teil bis in die 1990er Jahre - die Sütterlinschrift als weitere Schriftart zumindest im Leseunterricht an bundesdeutschen Schulen gelehrt (vgl. Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl.).
Hiernach liegt es zunächst auf der Hand, dass Sütterlinschrift bzw. Deutsche Schreibschrift keine Geheimschrift ist. Auch die Benutzung einer fremden Sprache ist nicht festzustellen. Zwar können Schreiben mittels Sütterlinschrift bzw. Deutscher Schreibschrift auch in einer fremden Sprache abgefasst werden, weil es sich dabei eben nur um Schriftarten handelt. Dass der Antragsteller und seine Verlobte vorliegend eine fremde Sprache benutzen, hat die Antragsgegnerin indes nicht vorgetragen. Das Tatbestandsmerkmal "unverständlich" knüpft ersichtlich an den Inhalt des Schreibens an und ist deshalb im vorliegenden Fall, in dem es lediglich um die Form des Schreibens geht, ebenfalls nicht einschlägig. Somit verbleibt "unlesbar" als einzig in Betracht kommendes Tatbestandsmerkmal. Nach welchen Kriterien sich die Lesbarkeit eines Schreibens beurteilt, ist im Gesetz nicht geregelt. Verbindliche Vorschriften darüber, welche Schriftart im Schriftverkehr zu verwenden ist, existieren in Deutschland nicht. Es finden sich nur Regelungen der Bundesländer darüber, welche Schriften im schulischen Schreibunterricht gelehrt werden. Dies sind nach heutigem Stand die Druckschrift als Erstschrift sowie die Lateinische Ausgangsschrift und die Vereinfachte Ausgangsschrift als weitere Schriften (vgl. Bartnitzky in "GS aktuell" Heft 91/September 2005, 3 ff.). Was hiernach im Allgemeinen als "lesbar" angesehen wird, ist somit davon abhängig, welche Schriften der Bevölkerungsdurchschnitt in der Schule zu lesen gelernt hat und wie "formklar" (vgl. Bartnitzky aaO, 10) diese Schrift dann vom jeweiligen Verfasser in der Ausprägung seiner persönlichen Handschrift verwendet wird. Da die Antragsgegnerin allein auf die verwendete Schriftart, nicht auf die persönliche Handschrift des Antragstellers und seiner Verlobten abstellt, ist hier nur jenes Kriterium maßgeblich. Hierzu stellt der Senat als allgemeinkundig fest, dass Sütterlinschrift bzw. Deutsche Schreibschrift zwar schon seit Jahrzehnten nicht mehr Grundlage des Schreibunterrichts an deutschen Schulen sind, diese Schriften aber nach wie vor von weiten Teilen der Bevölkerung zumindest gelesen werden können. Unstreitig sind auch Bedienstete der Antragsgegnerin in der Lage, diese Schriften zu lesen. Dies mag sich in Zukunft ändern, wie auch der Schreibunterricht in den Schulen ständigen Wandlungen unterworfen ist (vgl. Bartnitzky aaO), derzeit ist es aber noch Stand der gesellschaftlichen Entwicklung.
Da hiernach die Verwendung von Sütterlinschrift bzw. Deutscher Schreibschrift keinen Verbotstatbestand des Gesetzes erfüllt, bedurfte der Antragsteller für die Verwendung dieser Schriften auch keiner Erlaubnis. Es wirkt sich deshalb nicht weiter aus, dass die Strafvollstreckungskammer auch diesen Streitpunkt nicht aufgeklärt und die angefochtene Verfügung ggfs. unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Widerrufs einer Erlaubnis nach § 100 NJVollzG überprüft hat.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Nr. 1j, 63 Abs. 3, 65 GKG.