Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 22.05.2007, Az.: 9 U 49/06
Anpassung eines Abfindungsvergleichs nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage; Hinzuzählen der Veränderung der von Dritten bereitgestellten Leistungsstrukturen zu den in Kauf genommenen Risiken beim Abschluss eines Abfindungsvergleichs; Kürzung oder Abschaffung von Landesblindengeld als Wegfall der Geschäftsgrundlage für einen Abfindungsvergleich; Kürzung und Wegfall des Landesblindengeldes als eine nachträgliche und erheblicheÄquivalenzstörungen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 22.05.2007
- Aktenzeichen
- 9 U 49/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 49966
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2007:0522.9U49.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 06.11.2006 - AZ: 4 O 1149/06
- nachfolgend
- BGH - 12.02.2008 - AZ: VI ZR 154/07
Rechtsgrundlagen
- § 313 BGB
- § 7 Abs. 3 LandesblindengeldG,NI
- § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO
Fundstellen
- DAR 2008, 354-356 (Urteilsbesprechung von VorsRiOLG a.D. Lothar Jaeger)
- r+s 2007, 522-523 (Volltext mit red. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Zu den im Rahmen eines Abfindungsvergleichs von einem Unfallgeschädigten regelmäßig in Kauf zu nehmenden Risiken, deren Realisierung nicht zu einer Anpassung nach den Prinzipien der Störung der Geschäftsgrundlage führt, gehören auchÄnderungen in Leistungsstrukturen, in die der Geschädigte im Verhältnis zu Dritten (Behörden, Krankenkassen etc.) eingebettet ist. Eine Anpassung der Geschäftsgrundlage kommt in diesem Zusammenhang vielmehr nur dann in Betracht, wenn es sich um Änderungen handelt, die soüberraschend sind, dass sie von den Parteien bei Vergleichsschluss weder ihrer Art noch ihrem Umfang nach als möglich hätten erwartet werden können. Die Kürzung bzw. der Wegfall von Landesblindengeld stellt grundsätzlich keine solche überraschende Änderung dar.
In dem Rechtsstreit
...
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
durch
den Präsidenten des Oberlandesgerichts ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
auf die mündliche Verhandlung vom 22.05.2007
fürRecht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 06.11.2006 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger erlitt bei einem Verkehrsunfall schwere Verletzungen, die zur Erblindung auf beiden Augen führten. Die Haftung der Beklagten für die Unfallfolgen ist dem Grunde nach unstreitig.
Am 08.12.2000 unterzeichnete der Kläger eine Abfindungserklärung auf einem Formular der Beklagten zu 2), in der er sich nach Zahlung von insgesamt 750.000,00 DM "für alle bisherigen und möglicherweise künftig noch entstehenden Ansprüche, seien sie vorhersehbar oder nicht vorhersehbar, (...) endgültig und vorbehaltlos abgefunden" erklärte. In dem Formular war unter anderem auch angegeben, dass der Kläger aufgrund des Unfallereignisses Landesblindengeld (nach dem Niedersächsischen Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde) erhält.
Der Kläger hat behauptet, bei den Verhandlungen über die Abfindungssumme sei von der Beklagten zu 2) immer wieder auf den Bezug des Blindengeldes hingewiesen worden. Die Parteien seien davon ausgegangen, dass der Kläger das Blindengeld bis zum Tode beziehen werde. Dies sei maßgeblicher Faktor für die Bemessung der Abfindungssumme gewesen. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass durch die Reduzierung des Landesblindengeldes im Jahr 2004 (von 510,00 EUR auf 409,00 EUR) sowie die vollständige Streichung des Landesblindengeldes ab Januar 2005 die Geschäftsgrundlage für den Abfindungsvergleich entfallen sei. Er hat beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 9.372,00 EUR (für den Zeitraum Januar 2004 bis April 2006) nebst Zinsen zu verurteilen und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ab Mai 2006 510,00 EUR monatlich an den Kläger zu zahlen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Feststellungen und der weiteren Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen ( § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt; hilfsweise stellt er Zahlungsantrag in Höhe von weiteren 4.080,00 EUR nebst Zinsen für den Zeitraum Mai bis Dezember 2006 und begehrt Feststellung der Zahlungspflicht ab Januar 2007 in Höhe der Differenz zwischen einem Betrag von 510,00 EUR und dem inzwischen wieder eingeführten Landesblindengeld in Höhe von - zurzeit - 220,00 EUR.
Das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass die Beklagte zu 2) verpflichtet war, dem Landkreis Cloppenburg das an den Kläger gezahlte Blindengeld zu erstatten (was unstreitig ist) und von dieser Zahlungspflicht nun - durch die Streichung bzw. Reduzierung des Landesblindengeldes - befreit werde. Dieser Vorteil stehe ihr nicht zu; für den Kläger sei dieses Ergebnis untragbar.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil und beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
1.)
Der Kläger ist nicht berechtigt, eine Anpassung des Abfindungsvergleichs nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu verlangen.
Durch den mit Erklärung des Klägers vom 08.12.2000 zustande gekommenen Abfindungsvergleich sollten alle Ansprüche des Klägers aus dem Unfall endgültig erledigt und auch unvorhergesehene Schäden mit bereinigt werden.
Will der Geschädigte dennoch von einem solchen Vergleich abweichen und Nachforderungen stellen, muss er darlegen, dass ihm ein Festhalten am Vergleich nach Treu und Glauben nicht mehr zumutbar ist, weil entweder die Geschäftsgrundlage für den Vergleich sich geändert hat, sodass eine Anpassung an die veränderten Umstände erforderlich erscheint, oder weil nachträglich erhebliche Äquivalenzstörungen in den Leistungen der Parteien eingetreten sind, die für den Geschädigten nach den Gesamtumständen eine ungewöhnliche Härte bedeuten würden (BGH NJW 1984, 115 [BGH 12.07.1983 - VI ZR 176/81] m.w.N.).
a)
Es liegt im Wesen eines Abfindungsvergleichs, der die Kapitalisierung zukünftig fällig werdender Leistungen beinhaltet, dass er mehr als eine technisch-mathematische Zusammenfassung der Ansprüche darstellt. Wer eine Kapitalabfindung wählt, nimmt das Risiko in Kauf, dass maßgebliche Berechnungsfaktoren auf Schätzungen und unsicheren Prognosen beruhen. Die Entscheidung für eine Kapitalabfindung wird er trotzdem dann treffen, wenn es ihm vorteilhaft erscheint, alsbald einen Kapitalbetrag zur Verfügung zu haben. Andererseits will und darf sich der Schädiger darauf verlassen, dass mit der Bezahlung der Kapitalabfindung, die gerade auch zukünftige Entwicklungen einschließen soll, die Sache für ihn ein für allemal erledigt ist (vgl. BGH a.a.O.; Palandt/Sprau, BGB, 66. Aufl., § 779 Rdnr.12; OLG Oldenburg, 6. Zivilsenat, Urteil vom 30.06.2006 - 6 U 38/06, NJW 2006, 3152 f.).
Zu diesen in Kauf genommenen Risiken, deren Realisierung nicht zu einer Anpassung nach den Prinzipien der Störung der Geschäftsgrundlage führt, gehören auch Änderungen in Leistungsstrukturen, in die der Geschädigte im Verhältnis zu Dritten (Behörden, Krankenkassen etc.) eingebettet ist. Sind diese Leistungsverhältnisse bei Abschluss eines Abfindungsvergleichs nur als Positionen gesehen worden, kommt es nicht darauf an, ob die Parteien mögliche Änderungen in ihre Vorstellungen mit einbezogen haben oder nicht. Maßgebend ist vielmehr, ob es sich um Änderungen handelt, die so überraschend sind, dass sie von den Parteien bei Vergleichsschluss weder ihrer Art noch ihrem Umfang nach als möglich hätten erwartet werden können (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Oldenburg, a.a.O.).
Um derartige Änderungen handelt es sich bei Kürzung und Wegfall des Landesblindengeldes nicht. Hierfür spricht vor allem der Charakter des Landesblindengeldes. Es gewährt den Blinden angesichts der mit der Erblindung einhergehenden schweren Belastung unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer konkreten krankheitsbedingten Beeinträchtigungen eine pauschale finanzielle Unterstützung. Angesichts der haushaltsrechtlichen Lage des Landes war es nicht überraschend, dass der Landesgesetzgeber derartige freiwillige Leistungenüberprüft und deren weitere Gewährung von fiskalischen Erfordernissen abhängig macht. Der mögliche Eintritt solcher fiskalischer Zwänge war bereits bei Abschluss des Vergleichs im Jahr 2000 voraussehbar. Deshalb ist es auch aus der damaligen Perspektive nicht als völlig überraschende Entwicklung anzusehen, dass das Landesblindengeld gekürzt bzw. vollständig gestrichen werden würde (vgl. OLG Oldenburg, a.a.O.).
b)
Deshalb kommt es nicht darauf an, ob der - bestrittene - Vortrag des Klägers zum Verlauf der Verhandlungen vor Abschluss des Abfindungsvergleichs zutrifft. Entscheidend ist nicht, ob das Blindengeld - wie vom Kläger vorgetragen - als Faktor berücksichtigt wurde (bekannt war der Bezug dieser Leistung ausweislich des Formulars jedenfalls). Maßgeblich ist vielmehr, ob die weitere Entwicklung des Blindengeldes völlig überraschend war, was - wie ausgeführt - nicht der Fall ist.
Damit ist auch das neue Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 04.05.2007 unerheblich, wonach von der Beklagten zu 2) schon anlässlich der Vergleichsverhandlungen betont worden sei, dass sie das Blindengeld, welches dem Kläger vom Land Niedersachsen gezahlt werde, zu erstatten hätte und es "damit praktisch so (sei), als ob die Beklagten das Blindengeld direkt an den Kläger zahlen würden." Abgesehen davon ist dieses - streitige - Vorbringen gemäß § 531 ZPO nicht zu berücksichtigen (die Beklagten haben behauptet, die Beklagte zu 2) sei erstmals im Jahr 2002 vom Landkreis Cloppenburg in Anspruch genommen worden).
c)
Der offenbar auf § 7 Abs. 3 Nds. LandesblindengeldG gestützte Übergang der Ansprüche des Klägers gegen die Beklagten auf den für die Zahlung des Blindengeldes zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe ist für die Entscheidung nicht relevant. Aufgrund des Forderungsübergangs hat die Beklagte zu 2) an den Landkreis Cloppenburg die von dort erbrachten Leistungen erstattet. Dass sie im Umfang der Kürzung bzw. Streichung des Blindengeldes von diesen Zahlungen entlastet wird, ist aber nur ein - unbeabsichtigter - Nebeneffekt der finanzpolitisch motivierten Leistungskürzungen. Für die Frage nach dem Wegfall der Geschäftsgrundlage des Abfindungsvergleichs ist dieser Umstand ohne Belang. Denn auch unter Berücksichtigung der Entlastung der Beklagten zu 2) stellen die Streichung bzw. Kürzung des Blindengeldes keineÄnderungen dar, die so überraschend waren, dass sie von den Parteien bei Vergleichsschluss nicht als möglich hätten erwartet werden können.
Dieses Ergebnis mag aus Sicht des Klägers unbillig erscheinen. Andererseits hat der Kläger sich auf den Abschluss eines Abfindungsvergleichs eingelassen, der für beide Parteien bindend ist. Der Vergleich hat auch für den Kläger den Vorteil, dass eventuelle unerwartet positiven Entwicklungen (die von der Beklagten in diesem Zusammenhang auch behauptet werden) nicht zu einer Reduzierung seiner Ansprüche bzw. zu Rückforderungen der Beklagten führen können.
d)
Durch die Kürzung und den Wegfall des Landesblindengeldes ist auch nicht nachträglich eine erhebliche Äquivalenzstörungen eingetreten, die für den Kläger eine ungewöhnliche Härte bedeutet (vgl. BGH NJW 1984, 115 [BGH 12.07.1983 - VI ZR 176/81]). Zwar bedeuten die Einschränkungen der Leistungen einen spürbaren Einkommensverlust. Die Grenze zur Unzumutbarkeit ist aber nach Auffassung des Senats angesichts der sonstigen Einnahmen des Klägers (Pension und unstreitige Einkünfte aus Nebenbeschäftigung) noch nicht überschritten.
2.)
Die Nebenentscheidungen beruhen hinsichtlich der Kosten auf § 97 Abs. 1 ZPO und hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 543 Abs. 2 ZPO).