Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 19.06.2013, Az.: L 3 U 110/11

Anerkennung einer Berufskrankheit gemäß BKV Anl. 1 Nr. 1301 in der gesetzlichen Unfallversicherung nach der Einwirkung aromatischer Amine

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.06.2013
Aktenzeichen
L 3 U 110/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 41639
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0619.L3U110.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 23.05.2011 - AZ: S 36 U 66/08

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Mai 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Harnblasenkarzinoms des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 1301 der Anl 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV; "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine").

Der 1933 geborene Kläger absolvierte eine Lehre zum Elektroinstallateur und war von 1950 bis 1965 (mit Unterbrechungen) als Elektroinstallateur bzw -monteur beschäftigt. Zuletzt war er vom 16. Juli 1958 bis zum 16. Oktober 1965 Elektromonteur in den Gummiwerken der F. in G ... Ab Oktober 1965 bis zum Ende seiner beruflichen Tätigkeit 1998 war er Tankwart bzw Pächter einer Tankstelle. Erstmals im Oktober 2000 wurde bei ihm ein Urothel-Karzinom der Harnblase diagnostiziert, das trotz operativer Behandlung in den Folgejahren wiederholt rezidivierte (vgl zusammenfassend den Bericht des Urologen H. vom 13. Dezember 2006) und 2007 zur Entfernung der Harnblase führte.

Im Juni 2007 wurde der Krankheitsfall der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie (als Rechtsvorgängerin der Beklagten; im Folgenden: BG) gemeldet, den der Kläger zunächst auf seine Tätigkeit als Tankstellenpächter zurückführte. Nachdem der Arbeitsmediziner Dr. I. als Gewerbearzt darauf hingewiesen hatte, dass die Gummiindustrie ein klassischer Risikobereich für beruflich erworbene Harnblasenkarzinome sei, führte die BG durch ihren Technischen Aufsichtsdienst (TAD) Ermittlungen zur Arbeitsplatzexposition bei der F. in G. durch. Danach war es von Juli 1958 bis Ende Oktober 1965 Aufgabe des Klägers, als Elektroinstallateur in der Flurförderwerkstatt Gabelstapler zu warten oder instand zu setzen. Nach Angaben des Klägers seien die Arbeiten zu 2/3 in der Werkstatt und zu 1/3 in der Produktion durchgeführt worden; detaillierte Angaben zu den zeitlichen Anteilen der Bereiche Lager, Konfektionierung, Vulkanisation und Mischerei seien ihm nicht mehr möglich. Auf der Grundlage einer angenommenen gleichmäßigen Verteilung der Zeitanteile errechnete der TAD eine Exposition gegenüber dem aromatischen Amin - (bzw 2-) Naphthylamin (BNA) iHv insgesamt 0,6 mg. Außerdem sei von einer Exposition gegenüber o-Toluidin iHv ca 10 % des zuletzt geltenden TRK-Grenzwertes auszugehen (Bericht vom 3. Mai 2007). Dr. I. ging - unter Hinweis auf ein von ihm angefertigtes Gutachten zu den Krebserkrankungen der Harnblase und Harnwege aufgrund von Tätigkeiten in der niedersächsischen Gummiindustrie aus dem Jahr 2001 - von einer BK-rechtlich relevanten Exposition zumindest gegenüber BNA aus.

Mit Bescheid vom 8. Oktober 2007 lehnte die BG das Vorliegen einer BK nach der Nr 1301 ab. Nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand gebe es bei einer Exposition gegenüber aromatischen Aminen in der vom TAD festgestellten Höhe keinen Hinweis darauf, dass ein signifikant erhöhtes Risiko bestehe, an Blasenkrebs zu erkranken. Soweit Dr. I. von einer höheren Schadstoffeinwirkung ausgehe, habe er keine Hinweise gegeben, die seiner Vermutung die Qualität eines Belegs geben könnten. Der hiergegen eingelegte Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2008, abgesandt am 15. Februar 2008).

Hiergegen hat der Kläger am 17. März 2008 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben, zu deren Begründung er sich auf die Einschätzung durch Dr. I. berufen hat. Sämtliche von ihm gewartete bzw reparierte Fahrzeuge seien mit einem schmierigen Belag überzogen gewesen, sodass die ursprüngliche Farbe der Fahrzeuge nicht mehr erkennbar gewesen sei. Schutzmaßnahmen oder Schutzkleidung habe es seinerzeit nicht gegeben.

Das SG hat ein Gutachten des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. J. (vom 31. März 2009) eingeholt, der den Kausalzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers und den damit einhergehenden arbeitsstofflichen Belastungen durch primäre aromatische Amine und dem Auftreten des Urothel-Karzinoms der Harnblase nicht für hinreichend wahrscheinlich gehalten hat. Demgegenüber blieb Dr. I. in seiner vom SG angeforderten Stellungnahme vom 17. Juli 2009 der Auffassung, der Zeitraum der Tätigkeit und die Art der Tätigkeit des Klägers hätten zu einer Exposition gegenüber Harnblasenkrebs erzeugenden aromatischen Aminen geführt, die als wesentlich für die Entstehung des Urothel-Karzinoms der Harnblase zu betrachten sei.

Mit Urteil vom 23. Mai 2011 hat das SG Hannover die Klage abgewiesen. Die Krebserkrankung des Klägers sei zwar eine Erkrankung iSd Nr 1301, hieran sei er jedoch nicht infolge seiner versicherten Tätigkeit erkrankt. Nach § 9 Abs 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) werde ein Zusammenhang zwischen der Belastung und der Erkrankung vermutet, wenn der Versicherte in einem erhöhten Maß der Gefahr der Erkrankung ausgesetzt sei. Dies sei hier jedoch nicht der Fall gewesen, weil der Kläger nach der Berechnung des TAD nur gegenüber 0,6 mg BNA exponiert und damit nur 1/10 der Dosis ausgesetzt gewesen sei, bei der sich nach dem Gutachten von Dr. J. bei Rauchern das Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken, verdoppele. Der hieran geäußerten Kritik von Dr. I. könne das Gericht nicht folgen. Auch die Exposition gegenüber o-Toluidin sei nicht ausreichend gewesen, um ein erhöhtes Maß der Gefahr der Erkrankung zu verursachen, weil sie nur 10 % des gesetzlichen Grenzwertes betrage.

Gegen das ihm am 3. Juni 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 10. Juni 2011 Berufung eingelegt, die am 14. Juni 2011 bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingegangen ist. Das SG habe übersehen, dass bei krebserzeugenden Gefahrstoffen sog gesundheitsbasierte Grenzwerte - bis auf ganz seltene Ausnahmen - nicht festzulegen seien. So sei o-Toluidin ein Gefahrstoff, der erwiesenermaßen bei Menschen Krebs der ableitenden Harnwege erzeuge. Der Argumentation des Gerichts in Hinblick auf gesetzliche Grenzwerte sei darüber hinaus entgegenzuhalten, dass sich Grenzwerte nach vorliegenden neuen Erkenntnissen veränderten. Für o-Toluidin sei jedenfalls derzeit kein Arbeitsplatzgrenzwert festgelegt.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 23. Mai 2011 und den Bescheid vom 8. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Februar 2008 aufzuheben,

2. festzustellen, dass das bei ihm diagnostizierte Urothel-Karzinom der Harnblase eine Berufskrankheit nach Nr 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und meint, der Auffassung von Dr. I. könne nicht gefolgt werden. Dieser übersehe bei der Bewertung der Exposition gegenüber aromatischen Aminen, dass der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeit als Elektromonteur ausschließlich mit der Reparatur und Wartung von Gabelstaplern beschäftigt gewesen sei und somit lediglich indirekt Kontakt mit den Gefahrstoffen der Produktion gehabt habe. Auch seine Kritik an der Verdoppelungsdosis im Zusammenhang mit den Wirkungen des Tabakrauchs könne nicht unwidersprochen bleiben.

Der Senat hat bei der Beklagten eine aktualisierte Einschätzung der Schadstoffexposition am Arbeitsplatz des Klägers durch deren Geschäftsbereich Prävention eingeholt. Dieser hat die am Arbeitsplatz vom Kläger aufgenommene Gesamtdosis BNA (unter Berücksichtigung des Stoffes o-Toluidin) in seiner Stellungnahme vom 31. Oktober 2011 auf nunmehr insgesamt 2,3 mg geschätzt. Außerdem hat der Senat ein Gutachten des Arbeitsmediziners Prof. Dr. K. eingeholt, der unter dem 4. Mai 2012 zum Ergebnis gekommen ist, dass das Harnblasenkarzinom des Klägers auf der Grundlage des aktuellen medizinischen Erkenntnisstands nicht mit Wahrscheinlichkeit durch aromatische Amine als Berufsstoffe verursacht worden ist.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 2013 beantragt, eine Stellungnahme des staatlichen Gewerbeaufsichtsamts Hannover, hilfsweise eine gutachterliche Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Prof. Dr. L., zum Gutachten von Prof. K. und weiter hilfsweise ein Gutachten von Prof. Dr. L. nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einzuholen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Die Klage ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs 1 S 1, 55 Abs 1 Nr 3 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Erkrankung des Klägers eine BK nach der Nr 1301 der Anl 1 zur BKV ist.

BKen sind gem § 9 Abs 1 S 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer dem Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Gemäß diesen Vorgaben lassen sich nach der Recht-sprechung des Bundessozialgerichts (BSG; SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 mwN) im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Notwendigkeit (BSG aaO.; SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Dabei hat die Kausalitätsprüfung von einer objektiv-wissenschaftlichen Beurteilung auszugehen, wobei der neueste anerkannte Stand des einschlägigen Erfahrungswissens zugrunde zu legen ist; dies wird in der Regel die Auffassung der Mehrheit der im jeweiligen Fragenbereich veröffentlichenden Wissenschaftler/Fachkundigen eines Fachgebiets sein (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 44). Ist die Kausalität im objektiv-naturwissenschaftlichen Sinne zu bejahen, liegen aber neben den beruflichen Einwirkungen andere Mitursachen für den Eintritt des Schadens vor - etwa: Vorerkrankungen oder berufsfremde Einwirkungen -, muss in einem zweiten Schritt wertend entschieden werden, ob die berufsbedingten Einwirkungen die wesentliche Ursache für den Schadenseintritt gewesen sind, was zu bejahen ist, wenn sie wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg am Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl BSG SozR 4-2700 § 8 Nrn 15 und 17).

Für die hier maßgebliche BK Nr 1301 ist demnach entscheidend, ob beim Kläger eine der dort genannten Erkrankungen (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege) mit Gewissheit festgestellt werden kann (im Folgenden: 1.) und ob er im Rahmen einer gesetzlich unfallversicherten Tätigkeit der Einwirkung aromatischer Amine ausgesetzt war (2.); darüber hinaus muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die genannte Erkrankung durch diese Einwirkung (wesentlich) verursacht worden ist (3.).

1. Der Kläger ist an einem rezidivierenden Urothel-Karzinom der Harnblase erkrankt, was sich insbesondere aus dem Bericht des Urologen H. vom 13. Dezember 2006 ergibt. Damit liegt eine Krebserkrankung der Harnwege iSd BK Nr 1301 vor.

2. Während seiner seinerzeit gem § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO; heute: § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII) versicherten Beschäftigung als Elektromonteur in den Gummiwerken der F. G. vom Juli 1958 bis Oktober 1965 war er der Einwirkung aromatischer Amine ausgesetzt. Dies ergibt sich aus dem Ermittlungsergebnis des TAD der BG (vom 3. Mai 2007, aktualisiert im Berufungsverfahren unter dem 31. Oktober 2011), wonach der Kläger im Rahmen seines dortigen Tätigkeitsbereichs (Wartung und Instandsetzung von Gabelstaplern in der Werkstatt und im Produktionsbereich der Gummiwerke) mit den Stoffen BNA und o-Toluidin in Berührung gekommen ist. Hierbei handelt es sich um aromatische Amine der Kategorie 1, die (unstreitig) beim Menschen Krebs erzeugen können (Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand: September 2012, M 1301 Rn 2).

3. Es ist jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Krebserkrankung des Klägers durch diese Einwirkungen im naturwissenschaftlichen Sinne verursacht worden ist. Das ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 4. Mai 2012. Dieser hat seine detaillierte Untersuchung auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Meinungsstreits über eine mögliche Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Einwirkung von BNA und o-Toluidin und dem Entstehen eines Harnblasenkarzinoms erstellt und die Kausalität mit schlüssiger Begründung für beide sich daraus ergebenden Alternativen verneint.

a) Nach Auffassung von Weiß, Henry und Brüning (ASUMed 2010, 222 ff) soll sich das Risiko für die Entstehung eines Harnblasenkarzinoms verdoppeln, wenn der Versicherte in seiner beruflichen Tätigkeit einer Gesamtbelastungsdosis von ca 6 mg BNA und ca 30.000 mg o-Toluidin ausgesetzt gewesen ist. Grundlage hierfür waren einerseits Untersuchungen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen dem Rauchen von Tabak - das mit dem Aufnehmen ua von BNA und o-Toluidin einhergeht - und der Entwicklung von Harnblasenkarzinomen und andererseits experimentelle Untersuchungen der Auswirkungen der genannten aromatischen Amine auf das Entstehen von Harnblasenkarzinomen bei Hunden.

Auf der Grundlage dieses Modells - dem auch der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. J. gefolgt ist - ist der Sachverständige zum Ergebnis gekommen, dass eine entsprechende Risikoverdoppelung - die nach Weiß ua für die Wahrscheinlichkeit einer schadstoffbedingten Verursachung spricht - im Fall des Klägers nicht angenommen werden kann. Selbst wenn man dabei mit Prof. Dr. K. eine geringere Mindestdosis - von 4 mg BNA bzw 22.500 mg o-Toluidin - voraussetzt, bleibt die für den Kläger anzunehmende Gesamt-Schadstoffmenge von (umgerechnet) insgesamt 2,3 mg BNA eindeutig unter dieser Dosis.

Die genannte Schadstoffmenge hat der Geschäftsbereich Prävention der Beklagten im Berufungsverfahren ermittelt (Stellungnahme vom 31. Oktober 2011) und dabei in zutreffender Weise die aktuellen Erkenntnisse zugrunde gelegt, die im BK-Report 2/2011 - Aromatische Amine (einsehbar unter publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/aromatische Amine web.pdf) zur Einschätzung früherer Expositionen gegenüber aromatischen Aminen erarbeitet worden sind. Gemäß den dortigen Vorgaben (aaO. S 75 ff, insbesondere S 78) hat der Präventionsbereich die in den Jahren 1957 bis 1960 bzw 1961 bis 1965 in Unternehmen der Gummiindustrie erfahrungsgemäß angefallenen BNA-Jahresbelastungen, differenziert nach vier Arbeitsbereichen, zugrunde gelegt (zwischen 13.000 und 100 ng) und den Kläger als Handwerker dabei den Arbeitsbereichen anteilig zugeordnet, in denen er im Produktionsbereich tätig war. Dabei ist er von den Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren ausgegangen (vgl TAD-Bericht vom 3. Mai 2007), wonach dieser zu 1/3 in der Produktion und zu 2/3 in der Werkstatt gearbeitet hat, wobei ihm eine genauere Differenzierung zwischen den einzelnen Produktionsbereichen nicht mehr möglich war und deshalb von gleichen Anteilen der vier Bereiche ausgegangen worden ist. Auch die Exposition des im geringeren Grade toxischen o-Toluidin ist gem BK-Report (dort vor allem S 81) ermittelt und in BNA-Äquivalente umgerechnet worden.

Eine höhere individuelle Belastung des Klägers kann nicht festgestellt werden. Insbesondere beruft er sich ohne Erfolg darauf, er sei aufgrund der Exposition nach Schichtende "schwarz wie ein Neger" gewesen. Verwertbare Angaben über die Belastung mit BNA oder o-Toluidin ergeben sich hieraus nicht. Schließlich kann auch nicht zusätzlich die Tätigkeit im Werkstattbereich dosiserhöhend in Ansatz gebracht werden. Dies widerspricht der - bereits oa - Vorgabe des BK-Reports für Handwerker (aaO. S 78 aE) und steht in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. K. (vgl Bl 16 des Gutachtens), wonach der Aufnahme von BNA oder o-Toluidin über die Haut - durch Hautkontakt mit den zu wartenden Gabelstaplern - nur geringe Bedeutung im Rahmen der Gesamtexposition zukommt.

b) Ob die Arbeit von Weiß ua zur Dosis-Wirkungs-Beurteilung bei aromatischen Aminen dem aktuellen anerkannten Stand des Erfahrungswissens entspricht, ist aber zweifelhaft (so wohl auch Mehrtens/Brandenburg aaO., Rn 2; aA: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. März 2012 - L 3 U 289/09 - juris). Denn ihr sind namhafte Arbeitsmediziner (Henschler, Norpoth, Thielmann und Woitowitz, Zbl Arbeitsmed 2012, 64 ff) entgegengetreten, die ua darauf hingewiesen haben, dass die von Weiß ua angesetzten Mengen von aromatischen Aminen beim Rauchen auf unsicheren Messwerten basieren und die Heranziehung der Ergebnisse von Tierversuchen verschiedenen wissenschaftlichen (zB toxikologisch begründeten) Zweifeln unterliegt. Ferner hat der Sachverständige Prof. Dr. K. auf einen kritischen Leserbrief von Golka und Bolt zur Untersuchung von Weiß ua hingewiesen (vgl Bl 23 des Gutachtens).

Dies kann aber auf sich beruhen, weil der Sachverständige Prof. Dr. K. auch für den Fall, dass der Auffassung von Weiß ua nicht zu folgen ist, überzeugend dargelegt hat, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der berufsbedingten Einwirkung aromatischer Amine und dem Entstehen eines Harnblasenkarzinoms nicht wahrscheinlich ist. Dabei hat er unter Hinweis auf neuere epidemiologische Studien (aus den Jahren 2003 und 2005) zunächst dargelegt, dass krebserzeugende aromatische Amine nicht nur in der Arbeitswelt, sondern allgemein in der Umwelt (ubiquitär) vorkommen (ebenso: Henschler ua aaO., S 73; Weiß ua aaO., S 223). Auch wenn der Kläger nicht zur Risikogruppe der Raucher gehört, bestanden deshalb Einwirkungsmöglichkeiten etwa durch die Nahrungsaufnahme oder durch Passivrauchen (S 6 des Gutachtens). Um eine Ursächlichkeit der Berufsstoffe von der einer ubiquitären Schadstoffbelastung abzugrenzen, ist es deshalb notwendig, die Erkrankungsgenese beim Kläger von derjenigen abzugrenzen, die bei nachgewiesenen BK-Fällen nach der Nr 1301 anzutreffen ist. Auch Henschler ua haben in ihrem Beitrag aaO. (S 74) darauf hingewiesen, dass sich die Sachverständigen ohne anerkannte Dosisgrenzwerte mit einer Untersuchung der Intensität und Dauer der Tätigkeit in bestimmten gefährdeten Berufen bzw Berufszweigen behelfen müssten.

Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang überzeugend darauf hingewiesen, dass ein signifikant erhöhtes Risiko für ein Harnblasenkarzinom nach epidemiologischen Studien erst bei einer langjährigen beruflichen Exposition in der Größenordnung ab 10 Jahren besteht (S 20 des Gutachtens). Die mittlere Expositionsdauer bei anerkannten BKen betrug 20,2 Jahre (S 26 und Anl 3 zum Gutachten). Demgegenüber war der Kläger nur rund 7 Jahre der beruflichen Einwirkung aromatischer Amine ausgesetzt. Schließlich spricht der Zeitraum zwischen dem Ende der beruflichen Exposition gegenüber aromatischen Aminen (1965) und der erstmaligen Diagnose der Erkrankung des Klägers (im Jahre 2000) gegen eine berufliche Verursachung. Nach epidemiologischen Studien zum Tabakrauch-assoziierten Harnblasenkrebs - der ebenfalls auf krebserzeugenden aromatischen Aminen beruht - liegt bei Ex-Rauchern bereits nach 10 bis 15 Jahren ein stark vermindertes Erkrankungsrisiko vor. Im Vergleich hierzu erscheint eine Interimszeit von 35 Jahren - wie beim Kläger - ungewöhnlich. Nach alledem muss - mit dem Sachverständigen - davon ausgegangen werden, dass sich hinreichende Anhaltspunkte für eine wahrscheinliche Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit beruflich bedingter Einwirkungen aromatischer Amine für die Entstehung der Krebserkrankung des Klägers nicht feststellen lassen.

c) Der abweichenden, zugunsten des Klägers abgegebenen Stellungnahme von Dr. I. kann sich der Senat nicht anschließen. Dr. I. beruft sich auf ein von ihm erstelltes Gutachten, das aus dem Jahr 2001 stammt und schon deshalb den aktuellen Erkenntnisstand nicht wiedergeben kann. Insbesondere berücksichtigt es nicht die von Prof. Dr. K. angegebenen neueren Studien zum ubiquitären Auftreten krebserzeugender aromatischer Amine in der Umwelt. Seine Schlussfolgerung, allein mit der vor 1967 bestehenden erheblichen Belastung der Arbeitsplätze in der Gummiindustrie mit aromatischen Aminen lasse sich die berufliche Verursachung eines Harnblasenkarzinoms begründen, kann angesichts dessen nicht überzeugen. Sie würde im Übrigen darauf hinauslaufen, dass eine bestimmte Schadstoffbelastung die medizinisch-wissenschaftliche Kausalität indiziert. Eine derartige Regelung - wie sie zB bei der BK Nr 4104 der Anl 1 zur BKV vorliegt (vgl BSG SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2) - hat der Verordnungsgeber in Hinblick auf die BK-Nr 1301 jedoch nicht getroffen.

d) Auch aus der vom SG angesprochenen Beweiserleichterung nach § 9 Abs 3 SGB VII kann der Kläger nichts für sich herleiten. Die dort vorgesehene Vermutung eines Ursachenzusammenhangs kann bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht eingreifen, wenn Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit vorliegen (BSG aaO.). Derartige Anhaltspunkte liegen aber mit der angeführten allgemeinen Umweltbelastung mit aromatischen Aminen vor.

e) Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni beantragte weitere Sachermittlung musste nicht erfolgen. Die Einholung weiterer Gutachten bzw gutachterlicher Stellungnahmen - hier: vom staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Hannover bzw von Prof. Dr. L. - ist nur erforderlich, wenn die bislang eingeholten Gutachten ungenügend sind (BSG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 - B 13 R 333/12 B - juris). Dies ist in Anbetracht des überzeugenden und aktuellen Gutachtens von Prof. Dr. K. nicht ersichtlich. Auch der Kläger trägt nichts Substantiiertes vor, aus dem sich die Notwendigkeit weiterer Gutachten ergeben könnte. Insbesondere verkennt er, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige sich nicht nur auf eine Grenzdosisbewertung gestützt und dabei den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand berücksichtigt hat. Der Antrag auf Anhörung von Prof. Dr. L. nach § 109 SGG war abzulehnen, weil diese zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt hätte und der Antrag aus grober Nachlässigkeit verspätet vorgebracht worden ist (§ 109 Abs 2 SGG), nachdem der Senat bereits mit Verfügung vom 15. Oktober 2012 darauf hingewiesen hatte, dass weitere Sachermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht ersichtlich.