Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 23.04.2015, Az.: 3 B 2129/15

A. M. E.; EGMR; Garantieerklärung; Italien; junger männlicher alleinstehender Asylbewerber; Rückführung; systemische Mängel; Tarakhel

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
23.04.2015
Aktenzeichen
3 B 2129/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45005
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es ist auf der Basis der tatsächlichen Feststellungen des EGMR (Große Kammer) in der Rechtssache Tarakhel (Nr. 29217/12) sowie des BVerfG in seinen Entscheidungen vom 17.09.2014 (u.a. 2 BvR 732/14) unverändert davon auszugehen, dass in Italien systematische Mängel in den Aufnahmebedingungen für (rückzuführende) Asylbewerber bestehen. Abweichende Tatsachenfeststellungen hat die 3. Section des EGMR in der Rechtssache A.M.E. vs. NL (Nr. 51428/10) nicht getroffen.
2. Von den bestehenden systemischen Mängeln wären im Falle der Rückführung auch alleinstehende, junge, männliche Flüchtlinge betroffen. Für diese Personengruppe ist der Schutzbereich des Art. 3 EMRK in der konkretisierenden Ausgestaltung der Aufnahmerichtlinie (2013/33EU) in gleicher Weise eröffnet wie für alle anderen Flüchtlinge (entgegen EGMR - 3. Section - vom 05.02.2015, Nr. 51428/10 A.M.E. vs. NL).
3. Auch für die Gruppe alleinstehender, junger, männlicher Asylbewerber ist eine Rückführung auf Basis der Dublin III VO nur zulässig, wenn die zuständigen italienischen Behörden zuvor eine individuelle Garantieerklärung über eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK in der konkretisierenden Ausgestaltung der Aufnahmerichtlinie genügende Unterbringung und Versorgung abgeben.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 14.04.2015 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 01.04.2015, zugestellt am 09.04.2015, wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Antragsteller, nach eigenen Angaben verheiratet und eritreischer Staatsangehöriger aus dem Volk der Tigrinya, reiste nach eigenen Angaben im Oktober 2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16.12.2014 einen Asylantrag. Eine Abfrage in der EURODAC-Datenbank bestätigte die Angaben des Antragstellers, dass er im Oktober 2014 erstmals in Italien in das Gebiet der Mitgliedstaaten des Dubliner Übereinkommens eingereist war. Auf das Rückübernahmeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) reagierten die italienischen Behörden nicht.

Mit Bescheid vom 01.04.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Zur Begründung ist ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 27a AsylVfG unzulässig sei, weil Italien gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO als Land der Ersteinreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten des Dubliner Übereinkommens für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig sei. Es lägen keine außergewöhnlichen humanitären Gründe dafür vor, das Selbsteintrittsrecht aus Art. 17 Dublin III-VO auszuüben. Namentlich sei davon auszugehen, dass Italien seine Verpflichtungen zur Einhaltung der Mindestanforderungen an die Behandlung von Asylbewerbern erfülle. Es lägen keine systemischen Mängel vor, die diese Vermutung widerlegen würden. Hierzu setzt sich der Bescheid ausführlich mit Rechtsprechung und Erkenntnismitteln betreffend die Lage des Asylsystems und der Aufnahmebedingungen in Italien aus den Jahren 2011 - 2014 auseinander. Auf die Entscheidungen des EGMR vom 04.11.2014 (Nr. 29217/12 - Tarakhel) und vom 05.02.2015 (Nr. 51428/10 - A. M. E) sowie den Beschluss des BVerfG vom 17.09.2014 (2 BvR 732/14, juris) geht der Bescheid nicht ein.

Der Antragsteller hat gegen den am 09.04.2015 zugestellten Bescheid am 14.04.2015 Klage (3 A 2128/15) erhoben und zugleich um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht.

Er beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angegriffenen Bescheid.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

1. Der Antrag ist zulässig.

Er ist gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, soweit sich die Klage gegen die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Abschiebung nach Italien richtet, und auch fristgerecht gestellt worden.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt. Im vorliegenden Fall überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen - derzeit - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Vollzuges der angeordneten Abschiebung des Antragstellers nach Italien.

a) In ihrem Beschluss vom 29.01.2015 (3 B 13203/14, juris) hat die Kammer rechtsgrundsätzlich entschieden, dass auf Grund vorhandener systemischer Mängel in den Aufnahmebedingungen für (rückgeführte) Asylbewerber in Italien Abschiebungen dorthin auf der Basis der Dublin III-VO grundsätzlich unzulässig sind, wenn nicht die italienischen Behörden im jeweiligen Einzelfall zuvor eine „Garantieerklärung“ dahingehend abgeben, dass der betreffende Asylbewerber nach seiner Rückführung einer menschenrechtskonformen Behandlung und Unterbringung zugeführt werden wird. Im Einzelnen hat die Kammer dazu ausgeführt:

„Die Antragsgegnerin stützt ihre Abschiebungsanordnung auf § 34a AsylVfG. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen gemäß § 27a AsylVfG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung dorthin an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind auf der Grundlage des nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen aktuellen Sachstandes nicht vollständig erfüllt.

Es steht jedoch nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 AsylVfG fest, dass derzeit eine Abschiebung nach Italien durchgeführt werden kann. Nach Auffassung der Kammer ist eine Überstellung des Antragstellers nach Italien auf der Grundlage der angegriffenen Abschiebungsanordnung gegenwärtig unzulässig, weil es im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH sowie des EGMR und auch des BVerfG wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die (auch) für den Antragsteller auf der Basis des derzeitigen Verfahrensstandes bei einer Überstellung die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich brächten.

(1) Der EGMR hat bereits früher derartige systemische Mängel für das Asylverfahren wie für die Aufnahmebedingungen in Fällen der Überstellung von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems nach Griechenland bejaht (vgl. EGMR – Große Kammer, Urteil vom 21.01.2011 – Nr. 30696/09, M.S.S. – NVwZ 2011, 413) und in Folgeentscheidungen insoweit ausdrücklich auf das Kriterium des systemischen Versagens (‚systemic failure‘) abgestellt (EGMR, Entscheidungen vom 02.04.2013 – Nr. 27725/10, Mohammed Hussein u. a. – ZAR 2013, 336 Rn. 78; vom 04.06.2013 – Nr. 6198/12, Daytbegova u. a. – Rn. 66; vom 18.06.2013 – Nr. 53852/11, Halimi – ZAR 2013, 338 Rn. 68; vom 27.08.2013 – Nr. 40524/10, Mohammed Hassan – Rn. 176 und vom 10.09.2013 – Nr. 2314/10, Hussein Diirshi – Rn. 138).

In seinem jüngsten Urteil vom 04.11.2014 (- Nr. 29217/12 -, Tarakhel; veröff. unter http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-148070#C.) hat der EGMR diese Rechtsprechung weiterentwickelt. Er hat dort die dem Betroffenen drohende Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK durch eine drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und dazu ausgeführt, dass sich die Ursache der drohenden Gefahr weder auf das Schutzniveau auswirke, das durch die Konvention garantiert wird, noch auf die sich aus der Konvention ergebenden Pflichten des Staates, der die Abschiebung der Person anordnet. Das dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liegende Prinzip gegenseitigen Vertrauens befreit diesen Staat danach gerade nicht davon, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und die Durchsetzung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, falls die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festgestellt werden sollte (EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 104).

Ein „systemisches Versagen“ im Sinne dieser Rechtsprechung setzt nach Ansicht der Kammer deshalb nicht voraus, dass ein Systemfehler zwangsläufig eine Vielzahl von Asylsuchenden betreffen muss. Der Begriff der „systemischen Mängel“ beschreibt danach vielmehr die Vorhersehbarkeit und Reproduzierbarkeit einer drohenden Rechtsverletzung. Ein systemischer Mangel liegt demgemäß vor, wenn die Struktur des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen eine Stelle aufweist, die so defizitär ausgestaltet ist, dass dort, Rechtsverletzungen regelhaft eintreten können (ähnlich VG Hannover, Kammer-Beschl. vom 22.12.2014, 10 B 11507/14, juris Rn. 20; vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107).

(2) Ausgehend davon besteht auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnislage bei summarischer Prüfung zumindest hinsichtlich der Aufnahmebedingungen Italiens für (rückkehrende) Asylbewerber ein abschiebungsrelevanter systemischer Mangel.

Die Kammer geht in tatsächlicher Hinsicht übereinstimmend mit dem BVerfG und dem EGMR davon aus, dass auf Grund von aktuellen Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und auch des Auswärtigen Amtes belastbare Hinweise für das Bestehen von erheblichen Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter bzw. asylsuchender Ausländer in Italien vorliegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 –, juris Rn. 15; EGMR, Urteil vom 04.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 106 ff.; ausführlich zum neueren Erkenntnisstand VG Gelsenkirchen, Beschl. vom 13.11.2014 – 7a L 1718/14.A –, juris Rn. 18 ff.; vgl. zuletzt auch VG Gießen, Beschl. v. 03.01.2015, 1 L 3772/14.GI.A, juris Rn. 11). Bezeichnenderweise hat auch die italienische Regierung selbst in dem Tarakhel-Verfahren vor dem EGMR nicht geltend gemacht, dass die Kapazitäten des SPRAR-Systems und der CARAs zusammengenommen derzeit in der Lage wären, den Großteil, geschweige denn die komplette Nachfrage nach Unterbringung zu decken. Danach ist auf der Grundlage der verfügbaren aktuellen Erkenntnisse nicht auszuschließen, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer „gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung“ untergebracht werden könnte (so ausdrücklich: EGMR, Urt. vom 04.11.2014, a. a. O., Rn. 115) , was mit Art. 4 der EU-Grundrechtecharta nicht vereinbar wäre. Darin liegt im Sinne der Rechtsprechung des EGMR ein systemischer Mangel. Denn wenn auch nicht in jedem Einzelfall eine derartige menschenrechtswidrige bzw. entwürdigende Unterbringung droht, so kann dieses doch auf Grund der insgesamt unzureichenden angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten regelhaft wiederkehrend in einer Vielzahl von Fällen eintreten.

Dem kann die Antragsgegnerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, in der (deutschen) Rechtsprechung werde das Vorliegen systemischer Mängel im Asylsystem und hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Italien überwiegend verneint. Der weitaus größte Teil der von der Antragsgegnerin dafür angeführten Rechtsprechung ist vor den o. a. Entscheidungen des  EGMR und des BVerfG ergangen und schon deshalb für die Beurteilung der aktuellen Lage von nur geringer Bedeutung. Die danach ergangene Rechtsprechung setzt sich, soweit sie veröffentlicht bzw. der Kammer zugänglich ist, mit dieser Frage nicht unter ausreichender Berücksichtigung der Einschätzungen des BVerfG und des EGMR auseinander. Soweit darin insbesondere behauptet wird, die Aussagen zu der Unterbringungssituation von Asylbewerbern in Italien in der Tarakhel-Entscheidung des EGMR und in der Entscheidung des BVerfG vom 17.09.2014 seien ausschließlich auf die Situation von Familien/Eltern mit kleinen Kindern bezogen und deshalb insbesondere auf alleinstehende (junge) Männer von vornherein nicht übertragbar (vgl. z. B. VG Aachen, Beschl. vom 17.12.2014, 2 L 622/14.A, juris Rn. 29 f.; VG Oldenburg, Beschl. vom 15.12.2014, 12 B 2771/14, juris Rn. 35; VG Arnsberg, Beschl. vom 09.12.2014, 5 L 1237/14.A, juris Rn. 6; VG Ansbach, Beschl. vom 09.12.2014, AN 14 K 14.50187b, juris Rn. 30; VG Hannover, Beschl. v. 05.12.2014, 6 B 13305/14, n. v.; VG Stade, Beschl. vom 02.12.2014, 6 B 2025/14, n. v.) stimmt die Kammer dem nicht zu. Die Feststellungen des EGMR in der Tarakhel-Entscheidung zu den tatsächlichen Verhältnissen in Italien (Rn. 37 ff, 106 ff) und seine Schlussfolgerung daraus (a.a.O., Rn. 115) sind seinen weiteren Ausführungen zu der Situation der Beschwerdeführer in dem von ihm konkret entschiedenen Fall einer Familie mit mehreren Kindern (Rn. 120 ff) vorgelagert. Sie beziehen sich - erkennbar - auf die Situation des dortigen Asylsystems insgesamt und betreffen damit alle Asylbewerber in Italien. Auch das BVerfG hat seine Aussage zu den Kapazitätsengpässen im asylrechtlichen Unterbringungssystem in Italien in tatsächlicher Hinsicht gerade nicht auf die Situation von Familien mit kleinen Kindern beschränkt (BVerfG, Beschl. vom 17.09.2014, 2 BvR 732/14, juris Rn. 15).

(3) Daraus folgt zugleich, dass der vorliegende systemische Mangel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Italien in Form unzureichender angemessener Unterbringungsmöglichkeiten auch für den Antragsteller als alleinstehenden jungen Mann derzeit die Gefahr begründet, im Falle einer Rücküberstellung einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, was seiner Abschiebung im gegenwärtigen Verfahrensstand entgegensteht.

Dagegen lässt sich auch nicht anführen, der EGMR selbst habe in der Tarakhel-Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse in Italien nicht mit jenen in Griechenland zu vergleichen seien, die den Gerichtshof dazu veranlasst hätten, Abschiebungen dorthin als mit der EMRK unvereinbar anzusehen (Rn. 114). Nach dem Verständnis der Kammer hat der EGMR vielmehr in der Tarakhel-Entscheidung seine Rechtsprechung zu einem möglichen Verbot von Abschiebungen innerhalb des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf der Rechtsfolgenseite fortentwickelt und ihr darin eine neue Kategorie im Sinne eines „auflösend bedingten“ Abschiebungsverbotes bei drohenden Menschenrechtsverletzungen hinzugefügt. Nach dem bisherigen Rechtsverständnis waren Abschiebungen auf der Grundlage der Dublin III-VO nur entweder zulässig, oder - ausnahmsweise - wegen zu befürchtender Menschenrechtsverletzungen in Folge eines systemischen Versagens des Asylsystems im Zielland unzulässig. Nunmehr sieht der EGMR zusätzlich die Möglichkeit als gegeben an, in den Fällen, in denen zwar systemische Schwachstellen im Asylsystem eines Mitgliedstaates bestehen, dieses System aber jedenfalls noch als so hinreichend leistungsfähig angesehen werden kann, dass im Einzelfall die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung bei einer Überstellung abwendbar erscheint, Abschiebungen weiterhin durchzuführen. Erforderlich ist dafür aber nach Auffassung des EGMR, dass der aufnehmende Staat, dessen Asylsystem systemische Schwachstellen aufweist, vor der Rücküberstellung eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene, hinreichend konkrete „Garantieerklärung“ zu einer menschenrechtskonformen Behandlung der zu überstellenden Person abgibt. In einem solchen Fall ist dann eine Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat trotz dort vorhandener systemischer Schwachstellen nicht (mehr) „unmöglich“ im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO, sondern wird zulässig.“

b) An dieser Rechtsprechung hält die Kammer nach erneuter Überprüfung auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR (3. Section) vom 05.02.2015 (Nr. 51428/10 - A. M. E. ./. NL) fest.

Soweit die 3. Section des EGMR dort die Beschwerde eines jungen männlichen Asylsuchenden ohne abhängige Angehörige gegen seine Rückführung nach Italien als offensichtlich unbegründet verworfen hat, weil „kein hinreichend reelles und unmittelbares Risiko erkennbar [sei], das die Schwelle zu einer Eröffnung des Schutzbereichs von Artikel 3 EMRK erreicht“, vermag die Kammer dieser Auffassung nicht zu folgen. Der 3. Section des EGMR hat in dieser Entscheidung ohne erkennbare weitere Aufklärung des Sachverhalts „keinen Anhalt“ für die Vermutung gesehen, dass der Kläger außerstande sein würde, die „zur Verfügung stehenden Ressourcen für Asylsuchende“ in Anspruch zu nehmen oder dass die italienischen Behörden nicht in angemessener Weise auf seine Bedürfnisse eingehen würden (sämtlich zitiert nach EGMR, Beschluss vom 5.2.2015 – A. M. E. –, Rn. 36 des amtl. Abdrucks). Dies widerspricht aber den Feststellungen der Großen Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Tarakhel, wonach jedenfalls hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Unterkünfte die Ressourcen in Italien derart knapp bemessen sind, dass es nicht genügt, Familien mit Kindern generell bevorzugt zu behandeln, sondern es einer individuellen Zusicherung der geordneten Unterbringung bedarf.

Dass angesichts dessen sowie unter Berücksichtigung des aktuell gegenüber den Verhältnissen in 2014 nochmals erhöhten Zustroms von Flüchtlingen nach Italien alleinstehenden jungen männlichen Asylsuchenden offenkundig keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK drohen soll, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Die Kammer teilt insbesondere nicht die – auch nicht näher begründete – Auffassung der 3. Section des EGMR, es sei schon nicht ersichtlich, dass in diesen Fällen der Schutzbereich des Art. 3 EMRK berührt sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR muss zwar eine Misshandlung ein notwendiges Minimum an Intensität erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, wobei dieses Minimum von den Umständen des Einzelfalls abhängt, beispielsweise der Dauer der Behandlung, ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in einigen Fällen, Geschlecht, Alter und dem Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. EGMR, Urteile vom 26.10.1996 (Große Kammer) – Nr. 30210/96, Kudła –, Rn. 91, ECHR 2000-XI, und vom 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. –, Rn. 249). Weiterhin hat der EGMR zwar wiederholt entschieden, dass Art. 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteile vom 18.1.2001 (Große Kammer) – Nr. 27238/95, Chapman –, ECHR 2001-1 Rn. 99; vom 26.4.2005 – Nr. 53566/99, Müslim –, Rn. 85; und vom 21.1.2011 – M. S. S., a. a. O. –, Rn. 249). Zugleich hat der Gerichtshof aber betont, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen. Auch das BVerfG hat festgestellt, dass von einer Rückführung in sichere Drittstaaten betroffene Ausländer – anders als bei einer Rückführung in ihr Heimatland – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 – a. a. O. –). Das betrifft den Kläger nicht weniger als eine junge Frau oder eine Familie mit Kindern.

In einer solchen Konstellation sieht auch der EGMR in ständiger Rechtsprechung Art. 3 EMRK als verletzt an, wenn in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung der Betroffene in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert wird (vgl. EGMR, Entscheidung vom 18.6.2009 – Nr. 45603/05, Budina –). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und hinreichende materielle Bedingungen zu gewähren, Bestandteil des positiven Rechts geworden und die Behörden gehalten sind, ihre eigene Gesetzgebung zu befolgen, aber ein dahingehendes Unterlassen es dem Betroffenen unmöglich macht, diese Rechte in Anspruch zu nehmen und für seine grundlegenden Bedürfnisse zu sorgen.

In diesem Zusammenhang sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Aufnahmerichtlinie – (ABl. L 180 S. 96) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Nach Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie tragen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, die einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen erlaubt Art. 18 der Aufnahmerichtlinie für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, niedrigere Standards der Unterbringung, wobei allerdings unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt werden müssen. Zu diesen Grundbedürfnissen rechnet die Kammer auch die Unterkunft an sich, die Versorgung mit Nahrung, elementare Hygienebedürfnisse und den Schutz vor Übergriffen und geschlechtsbezogener Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung in Unterbringungszentren.

Es steht für die Kammer außer Zweifel, dass auch der Antragsteller diese Grundbedürfnisse tatsächlich hat. Es ist auch nicht erkenn- bzw. begründbar, dass Art. 3 EMRK diese in der Aufnahmerichtlinie konkretisierten elementaren Grundbedürfnisse nicht auch für die Gruppe der alleinstehenden, jungen und gesunden männlichen Asylsuchenden, der der Antragsteller angehört, garantiert. Dass Art. 3 EMRK bei schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 21 der Aufnahmerichtlinie die Berücksichtigung weiterer individueller Bedürfnisse gebietet – etwa hinsichtlich der gemeinsamen Unterbringung von Familien und des Schutzes der Kinder oder des Bedarfs besonderer medizinischer Versorgung –, steht dem nicht entgegen.

Auch der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt.“

erlaubt keine derartige Differenzierung am untersten Rand der Existenzsicherung. Vielmehr sind eine dauerhafte Obdachlosigkeit und Unterernährung ebenso wie Gewalt und gesundheitsgefährdende Zustände in Unterkünften geeignet, auch einen jungen, alleinstehenden und (bisher) gesunden Asylbewerber an Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit zu bringen, vor deren Überschreitung ihn Art. 3 EMRK schützen soll.

c) Ausgehend davon droht dem Antragsteller eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK auf Grund der weiterhin im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung der Kammer bestehenden systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen jedenfalls solange, wie die italienischen Behörden keine individuelle Garantieerklärung dazu abgeben, dass er einen Platz in einer Unterkunft erhält und seine grundlegenden Bedürfnisse an Nahrung, Hygiene und medizinischer Versorgung gedeckt sind (für eine vergleichbare Konstellation ebenso VG Hannover, Urt. vom 26.03.2015, - 10 A 1060/15, n. n. v.). Eine solche Erklärung liegt im vorliegenden Fall nicht vor. Vielmehr haben die italienischen Behörden schon das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin unbeantwortet gelassen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.