Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 22.04.2015, Az.: 1 A 9674/14
Abschiebungsanordnung; Dublin-Verfahren; Zweitantrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 22.04.2015
- Aktenzeichen
- 1 A 9674/14
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 45009
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 27a AsylVfG
- § 31 Abs 6 AsylVfG
- § 71a AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine ursprünglich auf § 27a AsylVfG gestützte Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig lässt sich nach einer wegen Ablaufs der Überstellungsfrist erfolgten Aufhebung der Abschiebungsanordnung nicht mehr in rechtmäßiger Weise aufrechterhalten. Eine Umdeutung des Bescheides in einen solchen, mit dem das Vorliegen der Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens verneint wird, scheidet aus.
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben.
Im Übrigen wird der Bescheid der Beklagten vom 2. Mai 2014 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand:
Die Klägerinnen, russische Staatsangehörige inguinischer Volkszugehörigkeit, wenden sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem ihre Asylanträge als unzulässig abgelehnt wurden (Nr. 1 des Bescheides) und ihre Abschiebung nach Belgien angeordnet wurde (Nr. 2 des Bescheides).
Die Klägerinnen reisten am 5. April 2014 in die Bunderepublik Deutschland ein, nachdem in Belgien zwei Asylverfahren erfolglos geblieben waren. Am 22. April 2014 stellten sie in Deutschland Asylanträge. Aufgrund eines EURODAC-Treffers wurde am 25. April 2014 ein Übernahmeersuchen an Belgien gerichtet. Nachdem infolge des Übernahmeersuchens die belgischen Behörden am 30. April 2014 ihre Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) VO (EG) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) erklärt hatten, wurden mit Bescheid vom 2. Mai 2014 die Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig abgelehnt und deren Abschiebung nach Belgien angeordnet. Belgien sei für die Antragsbearbeitung zuständig; außergewöhnliche humanitäre Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO seien nicht ersichtlich. Es bestünden in Belgien keine systemischen Mängel im Asylverfahren.
Gegen den Bescheid haben die Klägerinnen am 13. Mai 2014 Klage erhoben und zugleich um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Der Eilantrag sowie in der Folge mehrere Abänderungsanträge sind erfolglos geblieben (Beschlüsse vom 06.08.2014 - 1 B 9675/14 -, 08.10.2014 - 1 B 11622/14 -, 10.11.2014 - 1 B 12764/14 - und 12.01.2015 - 1 B 12977/14 -). Eine Überstellung der Klägerinnen nach Belgien ist gleichwohl nicht erfolgt. Unter dem 13. Februar 2015 hat die Beklagte die Regelung unter Nr. 2 des Bescheides wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist aufgehoben. Insoweit ist der Rechtsstreit von den Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt worden. An der Ablehnung der Asylanträge als unzulässig (Regelung unter Nr. 1 des Bescheides) hat die Beklagte jedoch festgehalten.
Die Klägerinnen beantragen,
den angefochtenen Bescheid vom 2. Mai 2015 insgesamt aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es handele sich bei den Asylanträgen der Klägerinnen um Zweitanträge i. S. v. § 71a AsylVfG. Ein wegen Unzulässigkeit des Antrags ablehnender Bescheid könne nur dann aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vorlägen. Wiederaufgreifensgründe seien nicht vorgetragen worden. Selbst wenn die Ablehnung des Antrags als unzulässig nicht mehr mit der ursprünglichen Begründung haltbar sei, ergäbe sich eine Unzulässigkeit aus anderen Gründen (Zweitantrag, keine Wiederaufgreifensgründe). Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für eine entsprechende Umdeutung vor. Das Gericht habe selbst über die Zulässigkeit des Zweitantrags zu entscheiden; es handele sich bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Zweitantrags nicht um ein wesensmäßig anderes Verfahren als das, in dem der zuständige Staat bestimmt werde.
Die Kammer hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 25. März 2015 zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist nach den übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten hinsichtlich der unter Nr. 2 des Bescheides der Beklagten vom 2. Mai 2014 getroffenen Regelung (Abschiebungsanordnung) in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Über die verbliebene Klage, mit der nunmehr noch die gerichtliche Aufhebung der Regelung unter Nr. 1 des Bescheides der Beklagten vom 2. Mai 2014 begehrt wird, entscheidet das Gericht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat Erfolg.
Die von den Klägerinnen (allein) erhobene Anfechtungsklage ist zulässig. In einem "Dublin-Verfahren" ist ein "isolierter" Antrag auf Aufhebung der Ablehnung der Asylanträge bzw. deren Feststellung als unzulässig und der Abschiebungsanordnung statthaft. Bereits eine Anfechtungsklage bietet nämlich den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz; die Zuständigkeitsprüfung ist im Übrigen der eigentlichen inhaltlichen Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dieser zu unterscheiden (vgl. dazu etwa OVG Nordrh.-Westf., Urt. v. 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 28 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 06.11.2014 - 13 LA 66/14 -, juris Rn. 7; Bayer. VGH, Beschl. v. 06.03.2015 - 13a ZB 15.50000 -, juris Rn. 7).
Die Klage ist auch begründet. Die unter Nr. 1 des angegriffenen Bescheides erfolgte Ablehnung der Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig erweist sich unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen gegenwärtigen Sach- und Rechtslage als rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten, so dass diese Regelung aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zwar ist der Bescheid ursprünglich insgesamt rechtmäßig ergangen und blieb dies auch bis zum Ablauf der sich aus Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) ergebenden sechsmonatigen Frist zur Überstellung der Klägerinnen nach Belgien (vgl. dazu die o. g. Beschlüsse im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes). Die Regelung unter Nr. 1 des Bescheides der Beklagten ist jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt rechtswidrig geworden, zu dem die Beklagte infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist einen Zuständigkeitsübergang selbst angenommen und deshalb eine Überstellung der Klägerinnen nach Belgien tatsächlich nicht mehr beabsichtigt hat. Das war hier am 6. Februar 2015 der Fall. Eine ursprünglich auf § 27a AsylVfG gestützte Ablehnung der Asylanträge als unzulässig lässt sich nicht mehr in rechtmäßiger Weise aufrechterhalten, wenn eine Überstellung in den zuständig gewesenen Staat ausgeschlossen ist, weil die Überstellungsfrist nach jeder erdenklichen rechtlichen Sichtweise abgelaufen ist und sich entweder der ersuchte Mitgliedsstaat auf den Fristablauf beruft oder der ersuchende Staat eine Überstellung nicht mehr vornehmen will.
Es ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht möglich, der ursprünglichen Regelung unter Nr. 1 des Bescheides (nachträglich) einen abweichenden Bedeutungsgehalt beizumessen bzw. die Regelung in eine solche umzudeuten, mit der die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71a AsylVfG verneint werden.
Mit der ursprünglichen Ablehnung der Asylanträge als unzulässig sollte erkennbar ausschließlich eine Regelung nach §§ 27a, 31 Abs. 6 AsylVfG getroffen werden, die sich auf die Frage der Zuständigkeit beschränkte. Die erfolgte Ablehnung der Asylanträge als unzulässig davon abweichend auszulegen, ist schon aus der maßgeblichen objektiven Sicht eines Erklärungsempfängers in der Rolle der Klägerinnen als Adressatinnen des Bescheides nicht möglich. Weder die Entscheidungsformel als solche noch die dafür gegebene Begründung lassen erkennen, dass es bei dem angegriffenen Bescheid um mehr gehen könnte, als eine reine Zuständigkeitsbestimmung und deren Durchsetzung. An diesem eindeutigen Erklärungsgehalt konnte sich auch durch eine veränderte Sach- und Rechtslage nichts ändern. Dass im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG stets auf die aktuelle Sach- und Rechtslage abzustellen ist, rechtfertigt es nicht, einem Bescheid nachträglich einen Regelungsgehalt "unterzuschieben", den er ursprünglich nicht haben sollte. Genau darauf liefe aber die Sichtweise der Beklagten hinaus.
Auch eine Umdeutung der Regelung unter Nr. 1 des Bescheides in die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens scheidet aus. Ein fehlerhafter Verwaltungsakt kann nach § 47 Abs. 1 VwVfG in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Nach Absatz 2 der Bestimmung gilt dies nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Die fehlerhaft gewordene Entscheidung nach §§ 27a, 31 Abs. 6 AsylVfG ist weder auf das gleiche Ziel gerichtet, wie eine Entscheidung nach § 71a AsylVfG, noch hätte sie in Anbetracht des § 71a Abs. 2 AsylVfG in der geschehenen Verfahrensweise rechtmäßig erlassen werden können (vgl. dazu VG Oldenburg, Urt. v. 11.03.2015 - 1 A 156/15 -, juris Rn. 28 f.). Es kommt hinzu, dass es keineswegs die ursprüngliche Absicht der Beklagten war, eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG zu treffen. Zudem stellen sich die Rechtsfolgen für den Betroffenen bei dem anvisierten Wechsel des Regelungsgehalts als ungünstiger dar. Ohne dass überhaupt ein entsprechendes behördliches Verfahren durchgeführt worden wäre, werden nämlich sogleich die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens verneint und im Falle eines anhängigen Gerichtsverfahrens die originär behördlichen Aufgaben auf das Gericht "delegiert".
Die Situation ist hier auch eine andere als bei Folgeanträgen, die (zu Unrecht) als unzulässig abgelehnt worden sind und bei denen das Gericht im Rahmen seiner Verpflichtung zur Herbeiführung der Spruchreife in der Regel "durchentscheiden" muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.02.1998 - 9 C 28/97 -, juris). In der Folgeantragssituation war die mit besonderer Sachkunde versehene Behörde zumindest zu einem früheren Zeitpunkt bereits mit einer inhaltlichen Prüfung befasst. An einer solchen Vorbefassung, die über die bloße Zuständigkeitsfrage hinausgeht, fehlt es hier völlig. Die Regelungen des Asylverfahrensgesetzes lassen darauf schließen, dass eine sachliche Prüfung vorrangig von der Fachbehörde nachzuholen ist und nicht generell eine Pflicht zum "Durchentscheiden" angenommen werden kann (vgl. Bayer. VGH, Beschl. v. 06.03.2015 - 13a ZB 15.50000 -, juris Rn. 8 m. w. N.). Dies gilt auch für die vorliegende Konstellation, in der es zunächst nur um die Prüfung des Vorliegens eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags geht. Ein derart beschränktes "Durchentscheiden" - sozusagen ein "Weiterentscheiden" - hätte zur Folge, dass nicht das Gericht eine behördliche Entscheidung kontrollieren würde, sondern sich anstelle der Exekutive erstmalig mit behördlicherseits noch gänzlich ungeprüft gebliebenen Fragestellungen befassen würde (vgl. dazu auch: Bayer. VGH, Beschl. v. 02.02.2015 - 13a ZB 14.50068 -, juris Rn. 9). Zudem wären die notwendigen Folgeentscheidungen bei einer Unzulässigkeit des Asylantrages wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylVfG - insbesondere der Erlass einer Abschiebungsandrohung bezogen auf den Herkunftsstaat - ohnehin wieder von der Beklagten zu treffen. Letztlich versucht die Beklagte lediglich, das rechtliche Schicksal der Nrn. 1 und 2 des "Dublin-Bescheides" gleichsam künstlich aufzuspalten, anstatt - wie es die vormals gängige und überzeugende Praxis der Beklagten selbst war - im Falle des Zuständigkeitsübergangs wegen Ablaufs der Überstellungsfrist den Bescheid insgesamt aufzuheben.
Die Klägerinnen sind durch die Aufrechterhaltung der rechtwidrig gewordenen Regelung unter Nr. 1 des angegriffenen Bescheides auch in ihrem subjektiven Recht auf ordnungsgemäße Prüfung ihres Asylbegehrens in der zuständig gewordenen Bundesrepublik Deutschland verletzt. Ihnen würde durch die von der Beklagten beabsichtigten Vorgehensweise die nach § 71a Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG ausdrücklich vorgesehene behördliche Prüfung ihres Begehrens unter Einhaltung der vorgesehen Verfahrensschritte nach § 71a Abs. 2 AsylVfG verlorengehen. Es steht indessen außer Frage, dass eine gesetzlich vorgesehene und mit umfassenden Verfahrensgarantien ausgestattete behördliche Tatsacheninstanz - was auch für die Prüfung der Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylVfG gilt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 19.01.2015 - A 11 S 2508/14 -, juris Rn. 8) - auch den subjektiven Rechten von Asylbewerbern zu dienen bestimmt ist. Die vorliegende Situation ist auch anderes zu beurteilen als der bloße Ablauf der Überstellungsfrist, der als solcher keine subjektiven Rechte zu begründen vermag (vgl. dazu VG Hannover, Beschl. v. 10.11.2014 - 1 B 12764/14 -, juris Rn. 8 ff.). Es geht nicht um eine unionsrechtlich determinierte Zuständigkeitsbestimmung, der die subjektive Komponente fehlt, sondern um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens im innerstaatlichen Bereich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben. Es entspricht billigem Ermessen, der Beklagten insoweit die Kosten aufzuerlegen. Diese hat infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist die Abschiebungsanordnung aufgehoben, nachdem sie offenbar zuvor auf eine rechtzeitige Überstellung der Klägerinnen nach Belgien nicht (erfolgreich) hat hinwirken können, obwohl dies mangels aufschiebender Wirkung der Klage dem Grunde nach möglich gewesen wäre. Hinsichtlich des streitig gebliebenen Teils folgt die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.