Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 17.07.2017, Az.: 1 B 2237/17
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 17.07.2017
- Aktenzeichen
- 1 B 2237/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 24543
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
Fundstelle
- SVR 2020, 296
Gründe
I.
Der am E. geborene Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den Widerruf seiner Fahrerlaubnis der Klassen B, AM und L.
Diese wurde ihm am 3. Mai 2016 durch die F. erteilt. Die Fahrerlaubnis war mit der Auflage versehen, dass von ihr nur dann Gebrauch gemacht werden dürfe, wenn der Antragsteller während des Führens des Kraftfahrzeuges von mindestens einer namentlich benannten Person begleitet wird. Mit Schreiben vom 15. Mai 2017 stellte der Antragsgegner dem Antragsteller den Widerruf der Fahrerlaubnis in Aussicht. Dieser habe am 15. Februar 2017 ein Kraftfahrzeug geführt, ohne in erforderlicher Begleitung zu sein. Der Antragsteller wandte sich hiergegen. Er benötige seinen Führerschein, weil er in G. lebe und täglich mit dem Auto nach H. zum Training fahren müsse. Er sei Profiboxer. Mit einer Begleitperson habe er nicht fahren können, weil sein Vater verstorben sei.
Mit Bescheid vom 13. Juni 2017 widerrief der Antragsgegner die dem Antragsteller erteilte Fahrerlaubnis. Er stützte sich hierbei auf § 6e Abs. 2 StVG. Der Antragsgegner ordnete die sofortige Vollziehung an. Dieses sei im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit notwendig. Das begleitete Fahren solle jungen Fahranfängern eine erweiterte fahrpraktische Kompetenzgrundlage bieten. Dadurch solle das Unfallrisiko gesenkt werden, da dieses während der ersten Phase der Fahrpraxis von Anfängern überdurchschnittlich sei. Die Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer solle reduziert und die Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr gewährleistet werden. Der Antragsteller habe gegen die Auflage verstoßen und damit die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer billigend in Kauf genommen. Gerade Fahranfänger könnten Gefahren im Straßenverkehr nicht immer richtig beurteilen und riskante Verkehrssituationen nicht immer richtig einschätzen. Dies könne nicht hingenommen werden und nur durch die Anordnung des Sofortvollzuges wirksam unterbunden werden.
Der Antragsteller hat hiergegen am 15. Juni 2017 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Am 12. Juli 2017 hat er Klage erhoben (I.). Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor:
Zu der Fahrt ohne Begleitung sei es wegen seiner besonderen persönlichen Situation gekommen. Sein Vater sei einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Die Familie habe wegen der weiter bestehenden Gefährdungslage H. verlassen müssen. An seinem jetzigen Wohnort könne man sich mit dem öffentlichen Personennahverkehr schwer fortbewegen. Im Übrigen sei er, der Antragsteller, verkehrsrechtlich nicht negativ in Erscheinung getreten. Am J. habe er das 18. Lebensjahr vollendet. Eine Gefährdung des Straßenverkehrs und anderer Verkehrsteilnehmer stehe deswegen nicht zu befürchten.
Der Antragsgegner ist dem entgegengetreten. Zunächst bestehe ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung. Die Einführung des Modellversuchs "begleitetes Fahren ab 17 Jahre" habe der Erprobung neuer Ansätze zur Senkung der Unfallgefahren junger Fahranfänger gedient. Diese überschätzten sich und unterschätzten Gefahren im Straßenverkehr aus jugendlichem Leichtsinn. Wegen der schwerwiegenden Gefahren, die von jungen Fahranfängern ausgingen, müssten die privaten Belange des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Widerrufs der Fahrerlaubnis zurückstehen.
Der Widerruf der Fahrerlaubnis sei zwingende Rechtsfolge, wenn die Voraussetzungen des § 6e Abs. 2 StVG vorlägen. Das sei hier der Fall. Der Umstand, dass der Antragsteller mittlerweile das 18. Lebensjahr vollendet habe, rechtfertige es nicht, von dem Widerruf abzusehen. § 6e Abs. 2 Satz 2 StVG verweise auf § 2a Abs. 2 StVG. Danach sei auch dann noch die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen, wenn die Probezeit zwischenzeitlich abgelaufen sei, die im Gesetz aufgeführte Zuwiderhandlung aber noch innerhalb der Probezeit begangen worden sei. Durch den geahndeten Verkehrsverstoß habe der Fahrerlaubnisinhaber ein Fehlverhalten gezeigt, das im Regelfall weniger auf einer fehlenden Kenntnis der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften beruhe oder der fehlenden Beherrschung des Fahrzeuges, sondern die Ursache in einer mangelhaften Einstellung zum erforderlichen Verhalten im Straßenverkehr finde. Durch den vorsätzlichen Verstoß gegen die Auflage des begleiteten Fahrens habe der Antragsteller ebenfalls eine mangelnde Einstellung zu dem erforderlichen Verhalten gezeigt. Auch wenn die Auflage mittlerweile durch Zeitablauf erloschen sei, sei die Anordnung des Widerrufs der Fahrerlaubnis gerechtfertigt.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Es hat auch die Akte I. vorgelegen.
II.
Der auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gerichtete Antrag des Antragstellers hat Erfolg.
Die gerichtliche Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ergeht auf Grund einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, d.h. dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der behördlichen Verfügung einerseits und dem Interesse des Antragstellers bzw. der Antragstellerin, bis zur Entscheidung über den erhobenen Rechtsbehelf hiervon verschont zu bleiben, andererseits. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache erhobenen Rechtsbehelfs zu berücksichtigen.
Im Rahmen des vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes kann allerdings offen bleiben, ob der Antragsgegner dem Antragsteller zu Recht die Fahrerlaubnis auf der Grundlage des § 6e Abs. 2 Satz 1 StVG widerrufen hat. Nach dieser Vorschrift ist eine auf der Grundlage der Rechtsverordnungen nach Absatz 1 erteilte Fahrerlaubnis der Klassen B und BE zu widerrufen, wenn der Fahrerlaubnisinhaber entgegen einer vollziehbaren Auflage nach § 6e Abs. 1 Nr. 2 StVG über die Begleitung durch mindestens eine namentlich benannte Person während des Führens von Kraftfahrzeugen zuwiderhandelt. Hier ist unstreitig, dass der Antragsteller gegen diese Auflage verstoßen hat. Es stellt sich allerdings die Frage, ob § 6e Abs. 2 Satz 1 StVG den Widerruf der Fahrerlaubnis auch dann vorsieht, wenn der Betroffene - wie hier der Antragsteller - zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat und die Auflage mit Erreichen des Mindestalters nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StVG i.V. mit § 10 Abs. 1 Nr. 5a FeV entfallen ist (§ 48a Abs. 2 Satz 2 FeV).
Diese Frage kann hier aber dahinstehen, weil dem Antrag des Antragstellers bereits aus anderen Gründen stattzugeben ist. Es kommt nämlich im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO nicht allein auf die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache an. Vielmehr hat das Gericht in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, d.h., wenn die sofortige Vollziehung durch die Behörde angeordnet wurde, immer auch zu prüfen, ob überhaupt ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes besteht (vgl. hierzu z.B. Brenner, in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 80 Rn. 155ff m.w.N.; Schoch, in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 Rn. 387ff; in diesem Sinne wohl auch: Nds.OVG, Beschl. v. 20.12.2016 - 12 ME 197/16 -). Die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung ist eine Ausnahme von dem Regelfall des § 80 Abs. 1 VwGO, der die aufschiebende Wirkung u.a. der Anfechtungsklage bestimmt. Ein Abweichen vom Regelfall darf nur unter den im Gesetz festgelegten Voraussetzungen erfolgen (Brenner, in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. § 80 Rn. 156). § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erlaubt die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde aber nur, wenn hieran ein überwiegendes Interesse eines Beteiligten oder ein öffentliches Interesse besteht.
Ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung setzt dabei voraus, dass ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist. Es ist nicht gleichzusetzen mit dem Interesse am Erlass des Verwaltungsaktes sondern geht darüber hinaus. Es bezieht sich gerade auf den Sofortvollzug und muss so gewichtig sein, dass es gerechtfertigt erscheint, die aufschiebende Wirkung der Klage zurückzustellen (Puttler, in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 80 Rn. 84 - 87). Dabei kann sich das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug auch aus denselben Umständen ergeben, wie das Interesse am Erlass des Verwaltungsaktes selbst, was i.d.R. bei Verwaltungsakten der Fall ist, die zur Gefahrenabwehr erlassen werden, wenn zu erwarten ist, dass eine Gefahr für die Öffentlichkeit schon in der Zeit bis zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache besteht (vgl. Puttler, a.a.O.).
An den vorstehenden Grundsätzen gemessen fehlt es hier an dem notwendigen besonderen öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes. Insbesondere ist auch mit Rücksicht auf die überragende Bedeutung der Verkehrssicherheit keine Gefahrenlage ersichtlich, die es gebieten würde, den Antragsteller für die Dauer des Klageverfahrens von einem Führen von Kraftfahrzeugen u.a. der Klasse B auszuschließen. Allein der Umstand, dass der Antragsteller vor Erreichen des 18. Lebensjahres gegen die Auflage zur Fahrerlaubnis verstoßen hat, wonach er während des Führens von Kraftfahrzeugen von mindestens einer namentlich genannten Person begleitet werden musste, rechtfertigt entgegen der Auffassung des Antragsgegners insbesondere nicht den Schluss, dass von dem Antragsteller eine Gefahr für die Verkehrssicherheit ausgeht. Soweit sich der Antragsgegner auf die Gefahren beruft, die von jungen Fahranfängern ausgehen, überzeugt das nicht. Mit Erreichen des Mindestalters, das nach der gesetzlichen Regelung u.a. zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse B berechtigt, gehen von dem Antragsteller keine anderen Gefahren aus, als von anderen 18-jährigen Inhabern einer derartigen Fahrerlaubnis.
Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen in einem Ausmaß rechtfertigen würden, dass dem Antragsteller seine Fahrerlaubnis nicht für die Dauer des Klageverfahrens belassen werden könnte. Der Widerruf der Fahrerlaubnis auf der Grundlage des § 6e Abs. 2 StVG knüpft nicht an die Eignung des Betroffenen an, sondern ist eine (bloße) Sanktion, da das Fahren ohne Begleitung nach der Intention des Gesetzgebers einen schweren Verstoß darstellt (BTDrs. 17/3022, S. 1). Nicht jeder Verkehrsverstoß führt aber dazu, dass dem Betroffenen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 2 Abs. 4 StVG abgesprochen werden kann. Zwar stellt die von dem Antragsteller begangene Ordnungswidrigkeit eine schwerwiegende Zuwiderhandlung im Sinne des Abschnitts A Nr. 2.1 der Anlage 12 zu § 34 FeV dar, alleine diese Ordnungswidrigkeit rechtfertigt auf der Grundlage des § 2a StVG aber die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht.