Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 02.12.2005, Az.: 6 A 1150/05

Voraussetzungen für einen Widerruf eines bereits zuvor gewährten Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) (jetzt: § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ( AufenthG )); Nachträgliche entscheidungserhebliche Änderung der zum Zeitpunkt der Gewährung des Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) maßgeblichen Verhältnisse als Widerrufsgrund; Endgültiger Verlust der politischen und militärischen Herrschaft des bisherigen Regimes von Saddam Hussein über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA; Frage nach der hinreichend beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer gruppengerichteten Verfolgung wegen yezidischen Glaubens im Irak nach dem Sturz des bisherigen Regimes von Saddam Hussein; Anzahl sowie bevorzugter Lebensraum der im Irak lebenden Yeziden; Repressalien können indes dem irakischen Staat weder unmittelbar noch mittelbar zugerechnet werden; Unmittelbare oder mittelbare Zurechnung real- existierender Repressalien an den irakischen Staat; Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK )als ein geplantes vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln durch den Staat

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
02.12.2005
Aktenzeichen
6 A 1150/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 35227
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2005:1202.6A1150.05.0A

Verfahrensgegenstand

Abschiebungsschutz - Widerruf

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Stade - 6. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2005
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Gärtner als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Kostenbetrages abwenden, sofern nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1

I.

Die Klägerin ist nach eigenen Angaben 1973 (01.01.1973) in C./Irak geboren und irakische Staatsangehörige yezidischen Glaubens.

2

Die Klägerin meldete sich am 11. Juli 2001 in D. als Asylsuchende und stellte dort am 12. Juli 2001 einen Asylantrag.

3

Am 16. Juli 2001 wurde die Klägerin in D. vom Bundesamt angehört. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf die Anhörungsniederschrift verwiesen.

4

Mit Bescheid vom 24. Juli 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Ziffer 1). Es stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - bei der Klägerin hinsichtlich des Irak vorliegen (Ziffer 2). Zur Begründung führte das Bundesamt im Einzelnen aus: Der Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte sei abzulehnen. Die Klägerin könne sich aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht auf Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - berufen. Sie habe selbst angegeben, in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Landweg über unbekannte Drittländer eingereist zu sein. Eine der Ausnahmen des § 26a Abs. 1 Satz 3 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - liege nicht vor. Der Klägerin stehe aber Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zu. Auf Grund des von ihr geschilderten Sachverhaltes und der dem Bundesamt vorliegenden Erkenntnismittel sei davon auszugehen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Irak zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG wegen der illegalen Ausreise ausgesetzt sein würde.

5

Dieser Bescheid ist seit dem 21. August 2001 bestandskräftig.

6

Im November 2004 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren zu § 51 Abs. 1 AuslG ein und teilte dies der Klägerin mit Schreiben vom 19. Januar 2005 mit: Nach dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten habe sich die politische Lage im Irak gravierend verändert. Das Bundesamt beabsichtige daher, die Feststellung bezüglich § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - zu widerrufen und festzustellen, dass auch keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Absätze 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Klägerin widersprach dem beabsichtigten Widerruf mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 31. Januar 2005 und kündigte an, auf die Sache zurückzukommen. Eine weitere Stellungnahme erfolgte nicht.

8

Mit Bescheid vom 6. Juni 2005, zugestellt am 9. Juni 2005, widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 24. Juli 2001 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (Ziffer 1. des Bescheides). Zugleich stellte das Bundesamt fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), ebenso wenig Abschiebungsverbote nach § 60 Absätze 2 bis 7 AufenthG (Ziffer 3.). Wegen der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.

9

Am 23. Juni 2005 hat die Klägerin die vorliegende Klage - 6 A 1150/05 - erhoben.

10

Zur Begründung macht sie geltend:

11

Der Widerruf des Abschiebungsschutzes sei nicht gerechtfertigt. Auch nach der Machtübergabe an die irakische Regierung und der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität sei der Irak von gravierender Instabilität und einer gefährlichen Sicherheitssituation gekennzeichnet. Nach wie vor bestehe unzureichende Versorgung mit grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, insbesondere medizinische Versorgung, aber auch Elektrizität, Wasser und Wohnungen. Besonders instabil seien die hauptsächlich von Kurden und Yeziden bewohnten Städte, auch die humanitäre Situation sei hier besonders schlecht. Obwohl sich die Lebensbedingungen im Nordirak insgesamt gegenüber denen im übrigen Staatsgebiet verbessert hätten, seien dort besonders offene Meinungsverschiedenheiten unter den kurdischen Machthabern zu verzeichnen. Für die Klägerin persönlich komme eine außerordentlich ungünstige gesundheitliche Situation sowohl ihrer selbst als auch ihres zweijährigen Kindes hinzu. Die Klägerin leide unter einer aus ihrer persönlichen Biografie hervorgegangenen Erschöpfungsdepression sowie an einer schweren Blutarmut und einer Stoffwechselerkrankung, die regelmäßig medizinische Behandlung erfordere. Auch ihr zweijähriges Kind (geboren 13. Februar 2003) leide an dieser angeborenen Stoffwechselstörung, die regelmäßiger medizinischer und medikamentöser Behandlung bedürfe.

12

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Juni 2005 aufzuheben,

13

hilfsweise,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Juni 2005 aufzuheben, soweit er entgegensteht, und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, vorliegen.

14

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

15

Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Verhandlungsniederschrift vom 2. Dezember 2005 verwiesen.

16

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 A 1150/05 und auf die Bundesamtsakten und die Ausländerakten des Landkreises E. Bezug genommen.

17

II.

Die Klage hat weder mit dem Hauptantrag noch mit dem Hilfsantrag Erfolg.

18

1.

Die Voraussetzungen für einen Widerruf des der Klägerin mit Bescheid vom 24. Juli 2001 gewährten Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -) liegen vor.

19

Nach der Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, auf die sich der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes stützt, ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Absatz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, also insbesondere dann, wenn die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Gewährung des Abschiebungsschutzes nach § 51 Absatz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) maßgeblichen Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich geändert haben (BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80 = Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 37). Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn die Gewährung von Abschiebungsschutz von Anfang an rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. August 2004 - BVerwG 1 C 22.03 -).

20

Diese Voraussetzungen für einen Widerruf des der Klägerin gewährten Abschiebungsschutzes liegen hier vor. Denn die für die Gewährung des Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG mit Bescheid vom 24. Juli 2001 maßgeblichen Verhältnisse haben sich nach Ergehen dieses Bescheides entscheidungserheblich geändert und die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) ist deswegen nunmehr ausgeschlossen.

21

Die Zuerkennung des Abschiebungsschutzes gemäß § 51 Abs. 1 AuslG mit Bescheid vom 24. Juli 2001 beruhte auf der Einschätzung, der Klägerin drohe im Zentralirak eine politische Verfolgung durch das dort herrschende Regime von Saddam Hussein wegen ihrer illegalen Ausreise. Der Anknüpfung an die illegale Ausreise - wie auch an die Asylantragstellung und den Auslandsaufenthalt - ist jedoch mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen. Die damit begründete Verfolgungssituation hat ihre abschiebungsschutzrelevante Bedeutung verloren, weil sie ihre Grundlage allein im Unrechtsregime von Saddam Hussein hatte (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 13. August 2004 - 9 LB 9/03 -).

22

Das bisherige Regime von Saddam Hussein hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren (vgl. die Ad hoc - Berichte des Auswärtigen Amtes - a.A. - über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak vom 30. April 2003, 7. August 2003, 6. November 2003 und 7. Mai 2004). Die Baath - Regierung unter der Führung Saddam Husseins hat, namentlich nach der Festnahme von Saddam Hussein im Dezember 2003, ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak vollständig eingebüßt.

23

Am 11. Mai 2003 hat der damalige US- Oberbefehlshaber General Franks die Baath - Partei des gestürzten Präsidenten Saddam Hussein für aufgelöst erklärt (AP vom 11. Mai 2003). Die amerikanisch geführte Zivilverwaltung löste am 23. Mai 2003 die irakische Armee, die Elitetruppe Republikanische Garden und das Verteidigungsministerium auf (FAZ vom 24. Mai 2003; dpa vom 23. Mai 2003).

24

Als erster Schritt zum Aufbau einer Übergangsregierung wurde am 13. Juli 2003 ein provisorischer, 25-köpfiger Übergangsrat ("Transitory Governing Council" - "majlis al-hukuma al-intiqali") berufen (AA, Ad hoc -Berichte vom 7. August 2003, 6. November 2003 und 7. Mai 2004). Seine Mitglieder sollten alle Schichten und Richtungen des Landes abdecken. Ihm gehörten 13 Vertreter der Schiiten, je 5 Sunniten und Kurden sowie jeweils 1 Vertreter der Christen und Turkmenen an. US-Zivilverwalter Bremer behielt bei allen Entscheidungen des Rates ein Veto-Recht. Der Rat sollte u.a. Übergangsminister ernennen, bei der Erstellung des Staatshaushalts mitwirken und das Land nach außen vertreten. Ferner sollte er die Ausarbeitung einer neuen Verfassung mit dem Ziel einer durch allgemeine und freie Wahlen legitimierten Regierung einleiten (AA, Ad hoc - Berichte vom 7. August 2003, 6. November 2003 und 7. Mai 2004).

25

Am 15. November 2003 wurden in einem Abkommen zwischen dem Regierungsrat und der CPA die nächsten Schritte zur Souveränität und Wahlen im Irak vereinbart. Gemäß diesem Abkommen wurde vom Regierungsrat am 8. März 2004 ein Übergangsgesetz ("Transitional Administrative Law" - TAL -) verabschiedet, das den politischen Rahmen für die Übergangszeit zwischen dem Ende der Besatzung und der Bildung endgültiger politischer Strukturen Ende 2005 regelt (vgl. den Bericht über asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 10. Juni 2005 - Stand: Mai 2005 - und - nachrichtlich - den Lagebericht vom 24. November 2005 - Stand: November 2005 -). Das Übergangsgesetz enthält folgende Hauptaussagen: ausführlicher Grundrechtskatalog, Frauenrechte, unabhängige Justiz, Islam als eine(nicht die) Hauptquelle für die Gesetzgebung, föderale Struktur, kurdische Autonomie, Amtsprachen Arabisch und Kurdisch (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005). Das TAL stellte den Zeitplan für die Übergangsperiode auf, der weitgehend eingehalten wurde. Obwohl der rechtliche Status des Übergangsgesetzes nicht geklärt wurde, hat die Übergangsregierung das Gesetz als verbindlich anerkannt (AA, wie vor).

26

Am 1. Juni 2004 wurde die irakische Übergangsregierung berufen. Der bisherige Vorsitzende des irakischen Regierungsrates, Ghasi Maschal Adschil el Jawer, wurde zum Interimspräsidenten gewählt. Der Regierende Rat gab anschließend seine vorzeitige Auflösung bekannt.

27

Nach dem einstimmigen Beschluss des UN - Sicherheitsrats vom 8. Juni 2004 - Resolution 1546 - sollte der Irak am 30. Juni 2004 mehr Souveränität, aber kein Vetorecht über US-geführte Militäreinsätze erhalten. In Absprache mit der irakischen Übergangsregierung sind die US-geführten Truppen der Resolution zufolge befugt, "alle notwendigen Maßnahmen" zu ergreifen, die zur Sicherheit und Stabilität im Irak beitragen. Die Resolution sieht Wahlen bis Ende Januar 2005 vor und gibt der irakischen Regierung das Recht, jederzeit die internationalen Truppen zum Abzug aufzufordern.

28

Bereits zum 28. Juni 2004 sind die CPA und der provisorische Regierungsrat aufgelöst und die Regierungsgeschäfte auf eine mehr oder weniger souveräne Übergangsregierung übertragen worden (vgl. den Ad-hoc-Bericht des a.A. vom 2. November 2004). Die amerikanisch-britische Besatzung Iraks wurde an diesem Tag formal beendet und die Souveränität Iraks wiederhergestellt (AA, Lagebericht vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

29

Am 1. September 2004 wurde ein Übergangs-Nationalrat durch eine nationale Konferenz mit rund 1.100 Teilnehmern, die ca. 70 politische und gewerkschaftliche Gruppen Iraks repräsentierten, gewählt. Der Nationalrat wählte die Interimsregierung, hatte darüber hinaus aber nur beratende Funktion (AA, Lagebericht vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

30

Das Kabinett der Interimsregierung (bis 28. April 2005) konnte Rechtsakte mit einmütiger Zustimmung des Präsidenten und seiner beiden Vertreter erlassen. Langfristig bindende Entscheidungen durften nicht getroffen werden. Die Außenkompetenzen der Interimsregierung waren beschränkt auf diplomatische Beziehungen, internationale Kredite und Hilfen sowie die Regelung der Auslandsschulden (AA, wie vor).

31

Am 30. Januar 2005 fanden die ersten demokratischen Wahlen im Irak statt. Trotz Nichtteilnahme großer Teile der sunnitischen Bevölkerung und einiger Unregelmäßigkeiten, vor allem im Norden des Landes, führten die Wahlen zu einer demokratischen Legitimierung der irakischen Regierung (AA, Lageberichte vom 10. Mai 2005 und 24. November 2005).

32

Als Sieger mit absoluter Mehrheit ging die Schiitenallianz aus der Wahl hervor. Für einige wichtige politische Entscheidungen bedarf es aber einer Zweidrittelmehrheit in der Übergangs-Nationalversammlung. Daher ging die Schiitenallianz am 28. April 2005 mit der bei den Wahlen zur zweitstärksten Liste aufgestiegenen Kurdenallianz eine Koalition ein (vgl. die Lageberichte des a.A. vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

33

Die am 30. Januar 2005 gewählte Nationalversammlung hat am 6. April 2005 den Führer der Kurdenpartei PUK, Jalal Talabani, zum neuen Staatspräsidenten gewählt (FAZ vom 7. April 2005). Talabani ist am 7. April 2005 als Interimspräsident vereidigt worden. Anschließend hat er den schiitischen Politiker Ibrahim Al-Jaafari zum Ministerpräsidenten ernannt (Die Welt vom 8. April 2005). Hauptaufgabe der neuen Übergangsregierung ist die Arbeit an einer neuen Verfassung (Die Welt vom 8. April 2005).

34

Die neue irakische Führung repräsentiert die wichtigsten Bevölkerungsgruppen des Landes. Die unter Saddam Hussein einflussreichen Sunniten, die rund 15 bis 20% ausmachen, sind mit Parlamentspräsident Al-Hassani sowie Vizepräsident Ghasi Al-Jawar an der Spitze des Staates vertreten, obwohl sie die Parlamentswahl am 30. Januar 2005 weitgehend boykottiert haben. Zum dreiköpfigen Präsidialrat um Talabani gehört außerdem der schiitische Politiker Adel Abdul Mahdi (Die Welt vom 8. April 2005).

35

Die Sunniten wurden mit einzelnen Posten ebenfalls an der Übergangsregierung beteiligt. Die Ressortaufteilung folgte weitgehend den ethnischen und religiösen Proporz im Irak. Die Schiiten stellen den Ministerpräsidenten Al-Jaafari und 16 Minister, die Kurden acht Minister, die Sunniten sechs, Christen und Turkmenen je einen Minister. Die neue gewählte Übergangsregierung ist in ihren Entscheidungsbefugnissen inhaltlich nicht beschränkt. Gesetze werden von der gewählten Übergangs-Nationalversammlung erlassen (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

36

Die irakische Bevölkerung nahm am 15. Oktober 2005 in einem Referendum die neue irakische Verfassung an. Die Wahlbeteiligung belief sich auf 63%. In den meisten Provinzen sprach sich eine deutliche Mehrheit für die neue Verfassung aus, landesweit votierten 79% für den Verfassungstext. In den sunnitisch geprägten Provinzen Al Anbar und Salahad Din votierten mehr als 2/3 der Wähler gegen den neuen Verfassungstext, in der Provinz Ninive sprachen sich 55% gegen das Gesetz aus. Das Referendum wäre gescheitert, wenn sich in mindestens drei Provinzen mehr als 2/3 der Wähler gegen die Verfassung ausgesprochen hätten (AA, Lagebericht vom 24. November 2005).

37

Das größte innenpolitische Ziel, die Einbindung der sunnitischen Gemeinschaft, konnte im Verfassungsprozess nicht erreicht werden. Die Aussichten für eine Eindämmung der Gewalt haben sich damit nicht verbessert (AA, wie vor). Zumindest haben irakische Politiker kurz vor dem Referendum beschlossen, eine Kommission mit der Überarbeitung des Verfassungstextes 2006 zu beauftragen. So soll sunnitischen Interessen mehr Geltung verschafft werden (AA, Lagebericht vom 24. November 2005).

38

Die Verfassung bestimmt, dass Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat ist. Der Islam ist Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung. Die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25% im Parlament (AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Die Öleinkünfte werden gemeinsam von Zentral- und Regionalregierungen verwaltet. Die konkrete Ausgestaltung des Föderalismus bleibt dem Parlament vorbehalten, das am 15. Dezember 2005 gewählt werden soll. Bis zum 31. Dezember 2005 soll eine neue Regierung bestimmt werden. Mit ihrer Vereidigung wird die neue Verfassung in Kraft treten (AA, Lagebericht vom 24. November 2005).

39

Am 19. Oktober 2005 hat das irakische Sondergericht zur Aufarbeitung der Verbrechen des ehemaligen Regimes das erste Verfahren gegen Saddam Hussein sowie sieben weitere Repräsentanten der Diktatur eröffnet. Gegenstand des Verfahrens ist die Tötung von 143 schiitischen Moslems 1982 in Dschulail. Den Angeklagten droht die Todesstrafe (AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Das Verfahren wird seit Ende November 2005 fortgesetzt.

40

Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein ist nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der nach wie vor problematischen, in jüngster Zeit sogar eskalierenden Sicherheitslage im Irak, insbesondere im Hinblick auf terroristische Anschläge. Eine Rückkehr der Baath - Regierung kann nämlich nach den derzeit gegebenen Machtverhältnissen und der Offenkundigkeit der veränderten politischen Gegebenheiten eindeutig und weiterhin als ausgeschlossen bewertet werden.

41

Mit den veränderten politischen Gegebenheiten haben sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des den Abschiebungsschutz gewährenden Bundesamtsbescheides vom 24. Juli 2001 von Grund auf geändert. Der Anknüpfung an das frühere Unrechtsregime ist mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen.

42

Auch wenn man unter Berücksichtigung der aufgezeigten Entwicklung im Irak davon ausgeht, dass die irakische Übergangsregierung staatliche Macht ausübt (so VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. September 2004 - A 2 S 471/02 -) bzw. dass sich in absehbarer Zeit eine irakische Staatsgewalt bzw. irakische quasistaatliche Strukturen, die politische Verfolgungsmaßnahmen veranlassen könnten, bilden, ist derzeit eine politische Verfolgung der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak nicht zu prognostizieren.

43

Anhaltspunkte dafür, dass ein (künftiger) irakischer Staat die illegale Ausreise und/oder die Asylantragstellung bzw. den Auslandsaufenthalt der Klägerin zum Anlass für gegen diese gerichtete abschiebungsschutzerhebliche Maßnahmen nehmen könnte, gibt es derzeit nicht.

44

Soweit den Koalitionsstreitkräften im Irak staatsähnliche Gewalt zugeschrieben wird (VG Aachen, Urteil vom 11. September 2003 - 4 K 2360/01.A -), fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass sie die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit politischen Verfolgungsmaßnahmen überziehen.

45

Der Klägerin droht bei einer Rückkehr in den Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gruppengerichtete Verfolgung wegen ihres yezidischen Glaubens. Denn die Yeziden sind im Irak einer abschiebungsschutzrelevanten Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre Religion nicht ausgesetzt. Es liegen keine Erkenntnisse über eine zielgerichtete und systematische Verfolgung von Angehörigen dieser religiösen Minderheit im Irak vor (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 11. Januar 2005 - 2 A 145/04 -).

46

Die Zahl der Yeziden im Irak liegt Schätzungen zufolge zwischen 200.000 und 600.000 (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005). Nach anderen Schätzungen leben im Irak etwa 700.000 bis 1 Million yezidische Glaubensangehörige (vgl. Home Office, Iraq country report, April 2004; IWPR, "Devil-worshippers" fear renewed persecution" vom 15. April 2004). Laut Stellungnahme des Yezidischen Forums e.V. vom 30. Dezember 2004 ("Menschenrechtssituation der Yeziden im Irak") wird die Gesamtzahl der Yeziden auf 800.000 geschätzt, von denen mehr als 600.000 im Irak leben. Das Deutsche Orient-Institut - Uwe Brocks - (Stellungnahme vom 14. Februar 2005 an das VG D.) hält eine Zahl von ca. 200.000 bis 250.000 irakischen Yeziden für realistisch. Der UNHCR (vgl. Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten (aktualisierte Fassung, Oktober 2005)) geht von weltweit etwa 800.000 Yeziden aus, von denen Schätzungen zufolge 550.000 im Irak leben.

47

Die Mehrzahl der im Irak lebenden Yeziden siedelt im Nordirak, v.a. im Gebiet um die Stadt Sinjar (Sindschar) und im Sheikhan (Scheichan)-Gebiet, einem Bezirk nordwestlich von Mossul gelegen (vgl. AA, Lageberichte vom 14. Juni 2005 und 24. November 2005; UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak (aktualisierte Fassung Oktober 2005); amnesty international, Stellungnahme vom 16. August 2005 an das VG D.; Deutsches Orient-Institut - Uwe Brocks -, Stellungnahme vom 14. Februar 2005 an das VG D.; Eva Savelsberg und Siamend Hajo, Stellungnahmen vom 3. November 2004 an das VG D. und vom 2. November 2004 an das VG Regensburg), und in Mossul (Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 14. Februar 2005). Bagdad gehört nicht mehr zum traditionellen "Siedlungsgebiet" der irakischen Yeziden, dort leben nach den Angaben des Deutschen Orient-Instituts - Uwe Brocks - (Stellungnahme vom 14. Februar 2005 an das VG D.) nur ganz wenige Familien, meistens handele es sich um junge Männer, die dort Arbeit und Einkunft zu finden versuchten und deren Familien weiterhin in den angestammten Dörfern lebten. Auch als Folge von Umsiedlungsmaßnahmen des Saddam-Regimes leben heute viele der ethnisch den Kurden angehörenden Yeziden nicht mehr innerhalb der Grenze der von den Kurdenparteien kontrollierten Region (AA, Lageberichte vom 14. Juni 2005 und 24. November 2005). Der Sheikhan-Bezirk lag zu Zeiten Saddams zu etwa 90% auf dem Gebiet Zentraliraks und zu etwa 10% auf "kurdischem Gebiet" (Deutsches Orient-Institut, wie vor). Die familiären Kontakte und Strukturen hat aber die de-facto-Trennung Iraks in einen Zentralirak und einen Nordirak nicht zerstören können, sodass die sozialen Kontakte erhalten blieben und sich lediglich nach der tagespolitischen Sicherheitslage zu richten hatten, also danach, wann, ob und wo die Passage frei war (Deutsches Orient-Institut, wie vor). Allerdings hat es insoweit nach Erkenntnissen des Deutschen Orient-Instituts (wie vor) seit Ende der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zunehmend weniger Probleme gegeben. Diese Hemmnisse sind seit März 2003 weggefallen.

48

Aus Mossul wurde 2004 eine wachsende Anzahl von Entführungen berichtet. Im Irak lebende Yeziden und Menschenrechtsorganisationen berichten von mehreren Dutzend Mordfällen an Yeziden in den vergangenen Monaten vor allem in den Städten Tal Afar und Sinjar (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005; UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak (aktualisierte Fassung Oktober 2005); amnesty international, Stellungnahme vom 16. August 2005 an das VG D.; Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 14. Februar 2005; Yezidisches Forum e.V., Stellungnahme vom 30. Dezember 2004 ("Menschenrechtssituation der Yeziden im Irak"); E. Savelsberg/S. Hajo, Stellungnahmen vom 2. und 3. November 2004). Täter waren danach Muslime, die Yeziden z.T. für ihr nicht den Regeln des Koran entsprechendes Verhalten "bestrafen" wollten (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005). Die Zunahme der Angriffe auf Yeziden geht einher mit dem Anstieg der Spannungen zwischen Arabern und Kurden in Mossul (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005). Im Vordergrund stehen nicht staatliche Repressionen gegen Yeziden. Sie sind - wie auch andere religiöse Minderheiten - Übergriffen aus der Mitte einer irakischen Gesellschaft, die immer stärker radikal-islamische Haltungen einnimmt, ausgesetzt. Die noch im Aufbau befindlichen staatlichen Sicherheitsstrukturen vermögen nicht immer Schutz zu gewährleisten (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

49

Gemessen an der Größe der Bevölkerungszahl sind die Übergriffe von Bedrohung, Einschüchterung, Anschlägen bis hin zu Mord von bzw. an yezidischen Religionszugehörigen zahlenmäßig so gering, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass jeder Angehörige dieser Gruppe aktuell und konkret mit einer Gefährdung seiner Person zu rechnen hat (VG Göttingen, Urteil vom 11. Januar 2005 - 2 A 145/04 -). Vielmehr treffen diese Übergriffe die Yeziden ebenso wie die Angehörigen anderer religiöser Minderheiten oder Moslems unterschiedlicher Glaubensausrichtung eher zufällig.

50

Auch die in der Stellungnahme des Yezidischen Forums e. V., Oldenburg, vom 30. Dezember 2004 erwähnten 25 Mordfälle und doppelt so viele Gewaltakte gegen Yeziden von September 2004 bis Dezember 2004 erreichen gemessen an der Bevölkerungsdichte der Yeziden nicht die für eine mittelbare Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 11. Januar 2005 - 2 A 145/04 -; ebenso wohl auch VG D., Urteil vom 22. August 2005 - 18 K 8648/01.A - m.w. Rechtsprechungsnachweisen). Hinzu kommt, dass die erwähnten Gewaltakte sich ganz überwiegend im früheren zentralirakischen Herrschaftsgebiet ereignet haben, während die yezidische Bevölkerung im kurdisch kontrollierten Gebiet wie etwa in der Provinz Dohuk weitgehend unbehelligt geblieben ist.

51

Die drei kurdisch kontrollierten Provinzen sind nach der Stellungnahme von E. Savelsberg/S. Hajo vom 2. November 2004 für Yeziden als eher sichere Gebiete einzustufen. Die Sicherheitslage für die kurdisch kontrollierten Gebiete wird auch vom Yezidischen Forum e. V., Oldenburg, als weniger gefährlich eingestuft.

52

Die Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden, wird in der Stellungnahme von E. Savelsberg und S. Hajo an das VG Regensburg vom 2. November 2004 insbesondere auch für yezidische Würdenträger für die Gebiete bejaht, die nicht unter kurdischer Kontrolle stehen. Angriffe auf Yeziden in yezidischen Dörfern oder auf yezidische (Zentral-) Dörfer seien bislang nicht bekannt.

53

Eine unmittelbar staatliche Verfolgung der Yeziden findet im Irak nicht statt. Artikel 2 der neuen irakischen Verfassung bestimmt in Absatz 1 den Islam als Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung. Absatz 2 enthält den Grundsatz, dass auch Christen, Yeziden, Sabäer und Mandäer (neben Moslems) ihre Religionen frei ausüben dürfen. Artikel 3 legt im Satz 1 ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest. Satz 2 der Vorschrift betont den arabisch-islamischen Charakter des Landes (vgl. AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Festschreibung der Religionsfreiheit sind formal betrachtet keine staatlichen Repressionen gegen die irakischen Yeziden mehr zu befürchten (UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak (aktualisierte Fassung, Oktober 2005).

54

Allerdings verfügen die Yeziden nach der Auflösung des früheren Ministeriums für Religionsangelegenheiten zu Gunsten dreier neu geschaffener Ressorts für die Angelegenheiten der Schiiten, der Sunniten und der Christen in derzeitigem irakischen Regierungsgefüge über keine eigene Interessenvertretung mehr (UNHCR, wie vor). Auf Grund der Rückbesinnung der irakischen Mehrheitsbevölkerung auf traditionell islamische Werte, der bestehenden Sicherheitsdefizite, der wachsenden Radikalisierung konservativ-muslimischer Kreise und der anhaltenden Auseinandersetzungen verschiedener Gruppierungen um die Souveränität über den Irak sind Yeziden als nicht-muslimische Minderheit im Irak in gleicher Weise wie Christen, Juden und Mandäer gewalttätigen Übergriffen, Bedrohungen und Beeinträchtigungen ihrer Lebensführung ausgesetzt (UNCHR, wie vor). Diese bereits erwähnten Repressalien können indes dem irakischen Staat weder unmittelbar noch mittelbar zugerechnet werden. Zudem fehlt es ihnen - wie bereits festgestellt - an der erforderlichen Verfolgungsdichte.

55

Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Ausnahmevorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um eine Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die "zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe" setzen voraus, dass einerseits trotz Vorverfolgung des Ausländers die Grundlagen des ihm gewährten Abschiebungsschutzes infolge einer nunmehr hinreichenden Sicherheit vor erneuter Verfolgung entfallen sind, andererseits aber die Schwere der Vorverfolgung und die dabei verursachten Beeinträchtigungen trotz der Änderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat und des Zeitablaufs wegen der damit verbundenen besonderen Belastungen für schwerwiegend Verfolgte die Rückkehr unzumutbar machen. Für eine solche Fallgestaltung ist hier aber nichts ersichtlich.

56

Die Klägerin hat eine politische Vorverfolgung in ihrem Asylverfahren nicht glaubhaft gemacht. Die Gewährung des Abschiebungsschutzes gemäß § 51 Abs. 1 AuslG mit Bescheid vom 24. Juli 2001 beruht nicht auf der Annahme einer politischen Vorverfolgung der Klägerin. Vielmehr liegt ihr - wie bereits erwähnt - die Annahme zu Grunde, der Klägerin drohe bei einer Rückkehr in den Zentralirak politische Verfolgung durch das Regime von Saddam Hussein wegen ihrer geschilderten illegalen Ausreise.

57

2.

Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vor.

58

Es besteht kein hinreichender Anhalt dafür, dass das Leben oder die Freiheit der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft bedroht ist.

59

Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen unter 1. - zu § 51 Abs. 1 AuslG - verwiesen.

60

Der Klägerin droht auch keine Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Zwar kann nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine solche Fallgestaltung liegt hier aber nicht vor. Die Klägerin ist im Irak nicht wegen ihres weiblichen Geschlechts einer Verfolgung ausgesetzt.

61

Im Übergangsgesetz des Regierungsrates vom 8. März 2004, das den politischen Rahmen für die Übergangszeit zwischen dem Ende der Besatzung und der Bildung endgültiger politischer Strukturen 2005 regelt, ist die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% für das Übergangsparlament vorgesehen. Bei der Wahl des Nationalrats auf der Nationalkonferenz vom 15.08. bis 18.08.2004 wurde diese Quote eingehalten (vgl. den Ad-hoc-Bericht des a.A. vom 2. November 2004). Bei der Wahl zur Übergangsnationalversammlung am 30. Januar 2005 war jeder dritte Listenplatz mit einer Frau besetzt. In der Übergangsnationalversammlung selbst sind 87 der insgesamt 275 Abgeordneten Frauen, was einem Anteil von 31,6% entspricht (AA, Lagebericht vom 10. Juni 2005). Laut Artikel 12 des Übergangsgesetzes ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Inhaltlich entsprechende Vorschriften enthält die neue Verfassung in Artikeln 14 und 20 (AA, Lageberichte vom 10. Juni 2005 und 24. November 2005).

62

Der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung liegt bei ca. 60%. Die Stellung von Frauen hat sich in der Praxis im Vergleich zur Zeit des Saddam Hussein-Regimes allerdings kaum verbessert, teilweise sogar verschlechtert. Auf einfachgesetzlicher Ebene findet die im Übergangsgesetz garantierte rechtliche Gleichstellung häufig keine Entsprechung (AA, Lagebericht vom 24. November 2005; UNHCR, Aktualisierte Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak (November 2005)). Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Mehrehe ist zulässig. Frauen erben nur die Hälfte dessen, was einem männlichen Erben zusteht (AA, wie vor). Nach Angaben des UNHCR sind "Ehrenmorde" in der Praxis noch immer weitgehend straffrei, obwohl sie zumindest im kurdisch beherrschten Nordirak unter Strafe stehen (AA, wie vor; UNHCR, wie vor). Berichten zufolge finden in Teilen des Nordiraks u.a. in der Provinz Sulaimaniya Genitalverstümmelungen statt. Die irakische Polizei berichtet, dass es im Juli 2005 in Bagdad mehrere Fälle von Säureattentaten gegen Frauen gegeben hat, weil es die Opfer ablehnten, sich zu verschleiern (AA, Lagebericht vom 24. November 2005; UNHCR, Aktualisierte Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak (November 2005)). Auch wird seit dem Ende des Krieges im Irak in Presseberichten immer wieder auf eine gestiegene Zahl von - teils auf offener Straße verübten - Vergewaltigungen und Entführungen irakischer Frauen hingewiesen (UNHCR, wie vor). Diese Vorkommnisse erreichen jedoch nicht die für die Annahme einer frauenspezifischen politischen (Gruppen-)Verfolgung erforderliche Verfolgungsdichte.

63

Zwar sind Tendenzen zur Durchsetzung islamischer Regeln, z.B. Kleidervorschriften (Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten), erkennbar. Muslimische und christliche Frauen werden zunehmend unter Druck gesetzt, was ihre Freizügigkeit und Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben einschränkt (AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Diese Einschränkungen rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer frauenspezifischen Verfolgung. Ihnen fehlt das hierfür erforderliche Gewicht. Maßgebend ist nämlich nicht die subjektive Sicht der einzelnen Frau. Vielmehr muss hier ein objektiver Maßstab angelegt werden, der sich daran orientiert, was im Heimatland der Betroffenen als das herrschende Wertesystem anzusehen ist (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17. Mai 2002 - 6 A 10217/02.OVG -; OVG Hamburg, Beschluss vom 12. August 2003 -1 Bf 355/00 -). Bei der asylrechtlichen Beurteilung einer fremden Rechtsordnung kann diese nicht am weltanschaulichen Neutralitäts- und Toleranzgebot des Grundgesetzes gemessen werden, denn es ist nicht Aufgabe des Asylrechts, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1986, BVerwGE 74, 31, 37) [BVerwG 18.02.1986 - 9 C 16/85]. Der Islam ist seit jeher die im Irak vorherrschende Religion, deren Wertesystem insbesondere in den ländlichen Gebieten gilt.

64

Auch die Erweiterung des Flüchtlingsschutzes durch § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG kommt der Klägerin nicht zugute. Danach kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure - nämlich der Staat bzw. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen - einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

65

Über die Erweiterung der Verfolgungssubjekte hinaus hat der Gesetzgeber des Aufenthaltsgesetzes jedoch mit der Neuregelung in § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG keine weitere Änderung der Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft herbeiführen wollen. Das Gericht legt daher bei der Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf die hier inmitten stehende Frage, ob die Klägerin allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur yezidischen Religionsgemeinschaft einer (nichtstaatlichen) politischen Verfolgung ausgesetzt ist, die zu Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG a.F. ergangene Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu Grunde (VG Göttingen, Urteil vom 11. Januar 2005 - 2 A 145/04).

66

Eine derartige mittelbare Gruppenverfolgung liegt immer dann vor, wenn die Verfolgungsschläge, von denen die Angehörigen einer Gruppe getroffen werden, in quantitativer und qualitativer Hinsicht so dicht und eng gestreut fallen, dass für jedes Gruppenmitglied die aktuelle Gefahr besteht, in eigener Person Opfer von Übergriffen zu werden. Hierfür ist erforderlich, dass Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen wertend und nicht allein rechnerisch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann ( BVerwG, Urteil vom 5.7.1994 -9 C 158.94-, BVerwGE 96, 200, 206[BVerwG 05.07.1994 - 9 C 158/94]; Beschluss vom 26.2.1999 -9 B 835/98-, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 203; Beschluss vom 23.12.2002 -1 B 42/02-, Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 49). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

67

Insoweit wird auf die Ausführungen unter Ziffer 1. verwiesen. Danach fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Zudem besteht für die Yeziden eine innerstaatliche Fluchtalternative in den drei kurdischen Provinzen im Nordirak.

68

3.

Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vor.

69

Der Klägerin droht im Irak nicht die konkrete Gefahr der Folter im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG. Da § 60 Abs. 2 AufenthG nicht ein generelles Abschiebungsverbot statuiert, sondern dem Individualschutz dient (Begründung zu § 53 Abs. 1, BT-Drucksache 11/6321, S. 75), muss die Foltergefahr für den Ausländer konkret bestehen; deshalb reicht eine abstrakte oder generelle Gefahr nicht aus (vgl. zum wortgleichen § 53 Abs.1 AuslG Nds. OVG, Urteil vom 22. Februar 1996 - 12 L 7722/95 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Juli 1993 - A 16 S 154/93 - VBl. BW 1993, 480, 482).

70

Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 und 4 AufenthG liegen bei der Klägerin nicht vor.

71

Ein Abschiebungshindernis ergibt sich für die Klägerin nicht aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 -, 18. April 1996 - 9 C 77.95 -, 4. Juni 1996 - 9 C 139.95 -, 15. April 1997 - 9 C 38.96 -) setzt eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ein geplantes vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus, und zwar grundsätzlich ein solches durch staatliche Organe. Ausnahmsweise können auch Misshandlungen durch Dritte eine unmenschliche Behandlung darstellen, sofern sie dem Staat zugerechnet werden können. Dem Staat können ferner solche staatsähnliche Organisationen gleichstehen, die den Staat verdrängt haben, selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet die effektive Gebietsgewalt innehaben. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn gerade dem schutzbegehrenden Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuell die konkrete Gefahr droht, Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Machthaber zu werden (BVerwG, Urteil vom 18. April 1996 - 9 C 77.95 -). Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin eine unmenschliche Behandlung durch die US- geführte Militärkoalition oder durch die erst im Aufbau befindliche irakische Verwaltung ernsthaft zu befürchten hat.

72

Bei der Klägerin liegen auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vor.

73

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind dieselben wie in dem früheren § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, weshalb auch insoweit auf die hierzu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann. Nach dieser Vorschrift kann von einer Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt des Verfolgers voraus, sondern knüpft allein an eine erhebliche faktische Gefährdung an (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 - NVwZ 1996, 199 [BVerwG 17.10.1995 - 9 C 9/95]; Nds. OVG, Urteil vom 8. September 1998 - 9 L 2142/98 -). Eine solche droht der Klägerin im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

74

Der Klägerin droht nicht auf Grund ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit im Irak landesweit eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen.

75

Bei den Gefahren, die aus den aktuellen Lebensumständen im Irak möglicherweise resultieren, handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die bei Entscheidungen der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt werden. Diese so genannte Sperrwirkung des § 60 a Abs. 1 AufenthG (vgl. zu § 54 AuslG BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995, a.a.O., vom 27. April 1998 - BVerwG 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973 = AuAS 1998, 243, und vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, BVerwGE 108, 77, 80 f.[BVerwG 08.12.1998 - 9 C 4/98] = InfAuslR 1999, 266 [BVerwG 08.12.1998 - BVerwG 9 C 4/98]) lässt eine positive Individualentscheidung außerhalb des § 60 a AufenthG nur zu, wenn diese durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG deshalb geboten ist, weil der Ausländer in seinem Heimatstaat anderenfalls einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998, a.a.O.). Eine solche extreme Gefahrenlage ist selbst bei ungünstiger Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse im Irak nicht anzunehmen.

76

Die innere Sicherheit im Irak ist zwar durch Terroranschläge, Sabotageakte und Banditenüberfälle belastet. Auch die Gewaltkriminalität in den Städten hat zugenommen, weil noch keine effektive Polizeigewalt aufgebaut werden konnte und die Soldaten der internationalen Militärkoalition sich aus Selbstschutzgründen dieser Aufgabe nur zurückhaltend annehmen. Es ist aber andererseits ein landesweiter militärischer und insbesondere organisierter Widerstand gegen die internationale Militärkoalition oder die Übergangsregierung bislang nicht erkennbar. Einzelne Gewalt- und Terroraktionen beschränken sich eher auf bestimmte begrenzte Schwerpunkte, wie etwa in Falludscha, wo Aufständische die Stadt zeitweise unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Gefährdet sind vor allem Polizei- und Sicherheitskräfte.

77

Andererseits gelten Teilregionen im kurdisch bewohnten Norden sowie im mehrheitlich schiitischen Süden als eher befriedet. Unabhängig davon ist allgemein festzustellen, dass die aus Gewaltaktionen der genannten Art entstehenden Gefährdungen gleichsam "blind" jeden treffen können. Eine Situation dieser Art ist gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG nicht schutzbegründend (vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG Nds. OVG, Beschlüsse vom 30. März 2004 - 9 LB 5/03 - und vom 13. August 2004 - 9 LB 9/03 -).

78

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak nicht von einer (extremen) existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden. Immer noch führt das irakische Handelsministerium die Verteilung von Nahrungsmitteln durch. Nach Regierungsaussagen erhalten 60% der Bevölkerung weiterhin Lebensmittelrationen aus einem Programm der Vereinten Nationen (AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Nach Angaben des Welternährungsprogramms vom 28. September 2004 sind 6,5 Mill. Iraker oder 25% der Bevölkerung in sehr starkem Maße von Nahrungsmittellieferungen abhängig. Weitere 3,6 Mill. (14%) befänden sich in einer unsicheren Ernährungssituation, sollte die Lebensmittelverteilung eingestellt werden (AA, wie vor). Auf der internationalen Geberkonferenz in Madrid wurde am 25. Oktober 2003 die Einrichtung der International Reconstruction Fund Facility for Iraq (IRFFI) beschlossen. Sie besteht aus zwei separaten, je von der Weltbank und von den Vereinten Nationen geleiteten Fonds, dem UN-Development Group Trust Fund (UNTF) und dem World Bank Iraq Trust Fund (ITF). Nachdem die Fonds Ende Februar 2004 aufgelegt wurden, sind bisher knapp 1 Milliarde US-Dollar eingezahlt worden. Restmittel aus dem Öl-für-Lebensmittel-Programm und Ölexporterlöse fließen seit 21. November 2003 in den Development Fund for Iraq (DFI), aus dem laufende Staatsausgaben und insbesondere Gehälter finanziert werden (AA, Lagebericht vom 24. November 2005). Zwar bleibt die Versorgungslage der irakischen Bevölkerung trotz dieser internationalen Hilfsgelder infolge der miserablen Sicherheitslage und wiederholter Anschläge auf die Ölinfrastruktur des Landes schlecht (AA, wie vor). Auch hat sich die Stromversorgung nach Besatzung des Landes drastisch verschlechtert. Ursächlich hierfür sind Plünderungen, umfangreiche Sabotageakte sowie die prekäre Sicherheitslage (AA, wie vor). Die Stromversorgung in Bagdad ist auf wenige Stunden täglich beschränkt. Regional hat sich die Stromversorgung indes aufgrund von Sabotageakten an Fernleitungen vom Produktions- zum Verteilungsproblem gewandelt. Während z.B. regelmäßig Stromsperrungen zu verzeichnen sind, wird in Basra mehr Strom produziert als dort benötigt wird (AA, wie vor). Die Versorgung mit Mineralöl bleibt ebenfalls unzureichend. Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen und ist weiterhin kritisch (AA, wie vor). Auch die medizinische Versorgung bleibt angespannt (AA, wie vor). Andererseits hatten der Krieg und die Nachkriegszeit für den vorwiegend von Kurden besiedelten Nordirak insgesamt weniger negative Auswirkungen als für die anderen Landesteile (AA, wie vor).

79

Angesichts dieser - zwar - nach wie vor angespannten, im Wesentlichen aber doch (landesweit) gesicherten Versorgungssituation im Irak ist mit Existenzgefährdungen Einzelner im Rückkehrfalle nicht zu rechnen (Nds. OVG, Beschluss vom 13. August 2004 - 9 LB 9/03 -).

80

Die Klägerin ist einer abschiebungsschutzerheblichen Gefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand ausgesetzt.

81

Wegen ihres Gesundheitszustandes droht der Klägerin keine beachtliche konkrete und individuelle Gefahr für ihre Rechtsgüter. Bei einer etwaigen Gefährdung der Klägerin - und ihres Kindes - im Hinblick auf die angespannte medizinische Versorgung im Irak handelt es sich um eine allgemeine Gefahrenlage. Eine konkrete Gefahr von extremer Schwere ist nicht hinreichend wahrscheinlich. Es ist nicht zu erkennen, dass der Gesundheitszustand der Klägerin - und ihres Kindes - alsbald nach einer - unterstellten - Rückkehr in den Irak als Folge der dortigen angespannten medizinischen Versorgung eine so wesentliche Verschlechterung erfährt, dass Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus verfassungsrechtlichen Gründen in einer den Wortlaut überschreitenden Anwendung der Vorschrift geboten ist. Die medizinische Grundversorgung ist im Irak gewährleistet. Die Iraker können entweder die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens oder Privatkliniken nutzen (UNHCR, Aktualisierte UNHCR-Stellungnahme zur medizinischen Versorgungslage im Irak (Oktober 2005)).

82

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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