Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.01.2017, Az.: 2 W 1/17

Erstattungsfähigkeit der Kosten des Berufungsbeklagten für die Einreichung einer Berufungserwiderung nach Rechsmittelrücknahme

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.01.2017
Aktenzeichen
2 W 1/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 10173
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2017:0111.2W1.17.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BGH - 07.02.2018 - AZ: XII ZB 112/17

Fundstellen

  • AGS 2017, 99-101
  • BRAK-Mitt 2017, 116-117
  • ErbR 2017, 478
  • FMP 2017, 111
  • JurBüro 2017, 151-152
  • MDR 2017, 300-301
  • MDR 2017, 381
  • NJW-Spezial 2017, 123
  • RVGreport 2017, 109-110

Amtlicher Leitsatz

Reicht der Berufungsbeklagte in unverschuldeter Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Rechtsmittelrücknahme eine Berufungserwiderung ein, steht ihm gegen den Berufungsführer ein Anspruch auf Erstattung der vollen Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV RVG zu (im Anschluss an OLG München AGS 2016, 547 [OLG München 30.08.2016 - 11 WF 733/16] und BAG AGS 2013, 99 [BAG 18.04.2012 - 3 AZB 22/11]; gegen BGH AGS 2016, 252 [BGH 25.02.2016 - III ZB 66/15]) zu.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten vom 15. Dezember 2016 wird der ihr am 14. Dezember 2016 zugestellte Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 3. November 2016 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die aufgrund des rechtskräftigen Beschlusses des Oberlandesgericht in Celle vom 16. August 2016 (Geschäftsnummer 12 U 6/16)

von dem Kläger

an die Rechtsanwältin K. P. als Prozessbevollmächtigte

der Beklagten

zu erstattenden Kosten der II. Instanz werden auf 1.524,15 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB seit dem 4. Oktober 2016 festgesetzt.

Der Kläger hat die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 486,86 € festgesetzt.

Gründe

I.

Gegen das am 18. April 2016 verkündete Urteil des Landgerichts legte der Kläger am 24. Mai 2016 Berufung ein. Er begründete seine Berufung mit am 21. Juli 2016 bei dem Oberlandesgericht Celle eingegangenem Schriftsatz. Durch Beschluss vom 2. August 2016 wies der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle darauf hin, dass er beabsichtige, die Berufung des Klägers durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen. Dieser Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit der Berufungsbegründung am 9. August 2016 mit einer Erwiderungsfrist von einem Monat zugestellt.

Mit vorab per Telefax bei dem Oberlandesgericht Celle am 16. August 2016 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage erklärte der Kläger die Rücknahme der Berufung. Mit Beschluss vom 16. August 2016 hat der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle dem Kläger die Kosten des Rechtsmittels auferlegt. Dieser Beschluss wurde der Bevollmächtigten der Beklagten mit dem Schriftsatz des Klägers vom 16. August 2016 am 22. August 2016 zugestellt.

Mit bei dem Oberlandesgericht Celle am 22. August 2016 eingegangenem Schriftsatz der Beklagten vom 19. August 2016 beantragte die am 21. Juni 2016 von der Beklagten beauftragte Prozessbevollmächtigte der Beklagten, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragte die Festsetzung der ihr im Berufungsverfahren entstandenen Kosten gegen den Kläger. Sie macht eine Verfahrensgebühr von 1,6 für die Tätigkeit ihrer Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.260,80 € sowie die Pauschale für Entgelte für Post und Telekommunikationsleistungen in Höhe von 20,00 € zuzüglich Umsatzsteuer, also insgesamt 1.524,15 €, geltend.

Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 3. November 2016 hat die Rechtspflegerin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg die von dem Kläger an die Beklagte zu erstattenden Kosten auf 1.055,29 € festgesetzt. Das Landgericht hat die Entscheidung damit begründet, dass die Beklagte lediglich Erstattung einer 1,1 Verfahrensgebühr nach Nummer 3201 VV RVG verlangen könne. Eine 1,6 Verfahrensgebühr nach Nummer 3200 VV RVG sei nicht erstattungsfähig, weil die Stellung eines Sachantrages auf Zurückweisung der Berufung in Anbetracht der bereits erfolgten Berufungsrücknahme zur Rechtsverteidigung objektiv nicht erforderlich gewesen sei.

Dagegen wendet sich die Beklagte mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass es für die Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltskosten darauf ankomme, wann der beauftragte Rechtsanwalt von der Berufungsrücknahme Kenntnis erhalten habe und deshalb seine weitere Tätigkeit auf diesen Umstand hätte einstellen können.

Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde der Beklagten durch Beschluss vom 22. Dezember 2016 nicht abgeholfen und die Akten dem Oberlandesgericht Celle zur Entscheidung vorgelegt.

Der Einzelrichter hat durch Beschluss vom 6. Januar 2017 das Verfahren dem Senat zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung übertragen.

II.

Die gemäß § 11 Abs. 1 RPflG in Verbindung mit §§ 104 Abs. 3 Satz 1, 567 Abs. 1 Nummer 1, 569 ZPO statthafte, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde der Beklagten ist zulässig.

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat der Beklagten für das Berufungsverfahren gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO in Verbindung mit Nummer 3200 VV RVG eine 1,6 Verfahrensgebühr sowie die Pauschale für Post und Telekommunikationsleistungen nebst Umsatzsteuer zu erstatten, so dass die Beklagte von dem Kläger Erstattung eines weiteren Betrages in Höhe 486,86 €, also eines Betrages in Höhe von insgesamt 1524,15 € verlangen kann. Mit Rücksicht auf die mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2016 vorgelegte Abtretungserklärung war auszusprechen, dass der Betrag nicht an die Beklagte, sondern an deren Prozessbevollmächtigte zu erstatten ist.

Nach der gemäß Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 16. August 2016 (12 U 6/16) getroffenen Kostengrundentscheidung hat der Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu tragen; festzusetzen sind die im Sinne von § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO "notwendigen" Aufwendungen. Bei den der Beklagten durch Stellung eines Sachantrages auf Zurückweisung der Berufung entstandenen Rechtsanwaltskosten handelt es sich um notwendige Aufwendungen im Sinne von § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann im vorliegenden Fall die Notwendigkeit der Stellung eines Sachantrages auf Zurückweisung der Berufung und die damit verbundene Entstehung einer 1,6 Verfahrensgebühr gemäß Nummer 3200 VV RVG nicht mit dem Argument verneint werden, dass die Handlung in Anbetracht der bereits erfolgten Berufungsrücknahme nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich gewesen sei. Zwar kann sich das Landgericht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stützen, wonach nur solche Maßnahmen im Sinne des § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO notwendig seien, die im Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv erforderlich und geeignet zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung erscheinen (Beschluss vom 25. Februar 2016 - III ZB 66/15- juris). Nach dieser Rechtsprechung komme es auf eine - verschuldete oder unverschuldete - Kenntnis des Rechtsmittelbeklagten von der Berufungsrücknahme nicht an, die Notwendigkeit der Maßnahme sei vielmehr rein objektiv vom Standpunkt einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen Partei aus zu beurteilen, wobei grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Vornahme der kostenverursachenden Handlung abzustellen sei.

Der Senat teilt indes die von dem Oberlandesgericht München (AGS 2016, 547 [OLG München 30.08.2016 - 11 WF 733/16]) erhobenen Bedenken gegen die vorbezeichnete Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

Nach § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO sind die Gebühren des Rechtsanwalts der obliegenden Partei grundsätzlich zu erstatten, so dass diese Kosten einer Überprüfung auf Notwendigkeit entzogen sind und unabhängig von den konkreten Umständen stets als zweckentsprechend verursacht gelten (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2014 - VI ZB 9/13 -; OLG München, AGS 2016, 547 (548) [OLG München 30.08.2016 - 11 WF 733/16]; Musielak-Flockenhaus, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 91 Rn. 11 ff.). Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit der geltend gemachten Kosten allein die objektive Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen Partei maßgeblich ist, die das Gebot sparsamer Prozessführung im Blick hat, ist es damit nicht zu vereinbaren, dass es auf die (verschuldete oder unverschuldete) Unkenntnis des Rechtsmittelbeklagten von der Berufungsrücknahme nicht ankommen soll. Tatsächlich ist für die Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen, das Gebot der Kostenschonung beachtenden Partei die Kenntnis von dem Fortbestehen des Rechtsmittels dafür entscheidend, welche Maßnahmen die Partei für sachdienlich zu halten hat. Kennt die Partei die Rücknahme des Rechtsmittels, ist - sogar für eine nur bedingt wirtschaftlich denkende Partei - die Beauftragung eines Anwaltes ebenso wenig notwendig wie für einen Anwalt die kostenerhöhende Stellung eines Zurückverweisungsantrags (OLG München, a. a. O.). Demnach sind die Aufwendungen für einen in derartigen Fällen zur Rechtsverteidigung eingeschalteten Anwalt erstattungsfähig, wenn - wie auch im vorliegenden Fall - bei dessen Tätigkeit weder die Beklagte noch der Anwalt von einer zwischenzeitlich erfolgten Rücknahme der Klage oder des Rechtsmittels Kenntnis hatte (vgl. OLG Celle AGS 2010, 362 [OLG Celle 02.03.2010 - 2 W 69/10]; OLG Saarbrücken, AGS 2015, 98 [OLG Saarbrücken 16.10.2014 - 9 W 18/14]; OLG Hamm, AGS 2013, 150; Zöller-Herget, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 91 Rn. 13 Stichwort "Klagerücknahme") Es erscheint auch in der Sache nicht gerechtfertigt, entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der mit einer Klage oder einem Rechtsmittel überzogenen Partei das volle Kostenrisiko für den Fall aufzuerlegen, dass diese Prozesshandlungen - zu einem von ihr nicht beeinflussbaren Zeitpunkt - zurückgenommen werden. Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Wertung entspricht gerade nicht der vom Gesetzgeber in § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO vorgenommenen Regelung, wonach die Gebühren eines Rechtsanwalts der obliegenden Partei grundsätzlich zu erstatten sind. Zu Recht weist das Oberlandesgericht München (vgl. OLG München, a. a. O.) darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die mit einem Rechtsmittel überzogenen Partei einen Rechtsanwalt beauftragen und die entstandenen Kosten im Falle ihres Obsiegens vom Gegner erstattet verlangen kann, so dass dessen Kosten im Grundsatz auch erstattungsfähig sein müssen. Soweit der Bundesgerichtshof die Ansicht vertritt, dass eine bestehende Ungewissheit, ob ein Rechtsmittel eventuell bereits zurückgenommen sei, durch eine (telefonische) Nachfrage bei Gericht rasch und problemlos geklärt werden könne, teilt der Senat die vom Oberlandesgericht München hiergegen erhobenen Bedenken. Tatsächlich kann die Geschäftsstelle aus den Akten keine zuverlässige Auskunft über das Vorliegen eines Rücknahmeschriftsatzes treffen, weil sich niemals ausschließen lässt, dass sich ein entsprechender Schriftsatz noch im Geschäftsgang befindet, gerade erst eingeht oder in Kürze eingehen wird. Es erscheint auch nicht zumutbar, der mit einem Rechtsmittel überzogenen Partei bzw. deren Bevollmächtigten es aufzuerlegen, sich jeweils vor Beauftragung eines Rechtsanwaltes bzw. vor Fertigung eines Erwiderungsschriftsatzes sich bei dem Rechtsmittelführer bzw. dessen Bevollmächtigten zu erkundigen, ob das Rechtsmittel nicht zurückgenommen worden sei. Dies gilt umso mehr, als es der Rechtsmittelführer selbst in der Hand hat, dem Gegner oder dessen Anwalt frühzeitig die Rücknahme der Berufung mitzuteilen. Insbesondere ist dem Rechtsmittelführer zuzumuten, entweder den Gegner über die beabsichtigte Rücknahme des Rechtsmittels vorab zu informieren oder ihm gleichzeitig mit der Einreichung des Rücknahmeschriftsatzes per Telefax eine Abschrift zu übermitteln.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lässt sich auch nicht mit den Besonderheiten des Kostenfestsetzungsverfahrens rechtfertigen (so aber BGH, NJW-RR 2007, 1575 [BGH 23.11.2006 - I ZB 39/06]; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 25. August 2009 - 6 W 70/08 -, juris). Zwar ist richtig, dass das Kostenfestsetzungsverfahren auf eine formale Prüfung der Kostentatbestände und auf die Klärung einfacher Rechtsfragen des Kostenrechts zugeschnitten ist. Bei der Feststellung, wann der Rechtsmittelgegner bzw. dessen Bevollmächtigter Kenntnis von einer Rücknahme des Rechtsmittels erlangt haben, handelt es sich indessen um keine schwierige Rechtsfrage, da sich die Kenntnis regelmäßig aus dem in der Akte befindlichen Zustellungsnachweis ergeben wird.

Nach alledem durfte die Beklagte die Stellung des Antrages auf Zurückweisung der Berufung nach dem Maßstab einer verständig und kostenbewusst handelnden Partei als zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung sachdienlich ansehen, so dass die Kosten im Sinne des § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO als notwendig anzusehen sind.

III.

Mit Beschluss vom 6. Januar 2017 ist die Sache gemäß § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG dem Senat zur Entscheidung übertragen worden. Der Senat hat die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 574 Abs. 2, 3 ZPO zugelassen. Zum einen stellt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG, Beschluss vom 18. April 2012 - 3 AZB 22/11 - juris) ausdrücklich auf eine Kenntnis des Rechtsmittelgegners ab, zum anderen weicht der vorliegende Beschluss von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016 ab.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Absatz 1 ZPO. Gerichtskosten fallen wegen des Erfolgs der sofortigen Beschwerde nicht an, Nr. 1812 KV Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG.

Die Wertfestsetzung entspricht der Differenz zwischen der von dem Landgericht festgesetzten 1,1 Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV RVG nebst Telekommunikationspauschale und der festzusetzenden 1,6 Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV RVG nebst Telekommunikationspauschale.