Abschnitt 1 VV-ROG/NROG-ZAV - Zweck, Anlass und Grenzen des Zielabweichungsverfahrens
Bibliographie
- Titel
- Verwaltungsvorschriften zum ROG und zum NROG für die Durchführung von Zielabweichungsverfahren (VV-ROG/NROG-ZAV)
- Amtliche Abkürzung
- VV-ROG/NROG-ZAV
- Normtyp
- Verwaltungsvorschrift
- Normgeber
- Niedersachsen
- Gliederungs-Nr.
- 23100
1.1
Zweck des Zielabweichungsverfahrens
Zielabweichungsverfahren dienen dazu, in besonders gelagerten Einzelfällen zu prüfen, ob ein raumbedeutsames Vorhaben ausnahmsweise von der gemäß § 4 ROG geltenden Beachtung eines Zieles der Raumordnung befreit werden kann. An dem bestehenden raumordnerischen Ziel wird aber generell festgehalten. Ein raumbedeutsames Vorhaben kann sowohl eine raumbedeutsame Planung sein (z. B. eine Bauleitplanung, durch die ein raumbedeutsames Bauvorhaben ermöglicht wird; z. B. ein Regionales Raumordnungsprogramm [RROP], das von einem Ziel des Landes-Raumordnungsprogramms [LROP] abweichen soll), als auch ein raumbedeutsames Bauvorhaben.
1.2
Anlass für Zielabweichungsverfahren und notwendige Prüfungen im Vorfeld
Um festzustellen, ob überhaupt Anlass für ein Zielabweichungsverfahren besteht, ist im Vorfeld Folgendes zu prüfen:
1.2.1
Raumbedeutsamkeit des Vorhabens
Raumbedeutsame Vorhaben bestimmen sich dadurch, dass sie "raumbeanspruchend" oder "raumbeeinflussend" sind (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 6 ROG). Ob ein Vorhaben raumbedeutsam ist, ist anhand der Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalles zu entscheiden. Für nicht raumbedeutsame Vorhaben ist kein Zielabweichungsverfahren nötig.
1.2.2
Bestehen einer Bindung des Vorhabens an Ziele der Raumordnung
Für raumbedeutsame Vorhaben kann ein Anlass für ein Zielabweichungsverfahren nur entstehen, wenn das Vorhaben den Bindungswirkungen nach § 4 ROG unterliegt. Ist dies nicht der Fall, besteht von vornherein keine Zielbeachtungspflicht, sodass es keines separaten Zielabweichungsverfahrens bedarf.
Eine Zielbeachtungspflicht betrifft in erster Linie öffentliche Planungen und Maßnahmen und die Entscheidungen über deren Zulassung.
Für raumbedeutsame Vorhaben von Privatpersonen oder privatwirtschaftlichen Unternehmen haben Ziele der Raumordnung nur in den in § 4 ROG genannten Fällen Bindungswirkungen. Dies ist der Fall bei raumbedeutsamen Vorhaben eines Unternehmens, wenn dieses damit öffentliche Aufgaben wahrnimmt (z. B. Energieversorgung), wenn an dem Unternehmen mehrheitlich öffentliche Stellen beteiligt sind oder die Finanzierung des Vorhabens überwiegend mit öffentlichen Mitteln erfolgt. Auch wenn raumbedeutsame Vorhaben Privater einer Planfeststellungspflicht unterliegen, sind in diesem Verfahren die Ziele der Raumordnung zu beachten. Bei anderen, nicht mit einer Planfeststellung vergleichbaren Zulassungsverfahren besteht für Privatvorhaben eine Bindung an raumordnerische Ziele nur, wenn und soweit das jeweilige Fachrecht dies ausdrücklich regelt (§ 4 Abs. 2 ROG) und das Ziel der Raumordnung zu den Genehmigungsvoraussetzungen zählt. Das ist z. B. der Fall, wenn bauliche Anlagen im Außenbereich realisiert werden sollen, weil § 35 Abs. 3 Sätze 2 und 3 BauGB Regelungen enthält, nach denen auch Ziele der Raumordnung öffentliche Belange sind, die der Zulassung raumbedeutsamer Außenbereichsvorhaben entgegenstehen können. Fehlt eine solche "Raumordnungsklausel" im Fachrecht (z. B. in den §§ 34 oder 30 BauGB), besteht keine Bindungswirkung von Zielen der Raumordnung im Genehmigungsverfahren; ein Zielabweichungsverfahren ist somit weder erforderlich noch zulässig.
Eine Zielbindung besteht ferner dann nicht, wenn in Fällen des § 5 ROG der Bindungswirkung eines Zieles ordnungsgemäß widersprochen wurde oder fachgesetzliche Sonderregelungen dies unter bestimmten Voraussetzungen vorsehen (z. B. § 5 Abs. 2 oder § 18 Abs. 3 b NABEG oder § 43 Abs. 3 EnWG).
1.2.3
Zielqualität der Festlegung, mit der das Vorhaben kollidieren könnte
Ob die raumordnerische Festlegung Zielqualität i. S. des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG entfaltet, ergibt sich aus ihrer Formulierung und der Begründung des Raumordnungsplans (Bestimmtheit, Schlussabgewogenheit). Außerdem sind Ziele der Raumordnung in Raumordnungsplänen besonders gekennzeichnet (textliche Ziele durch Fettdruck, zeichnerische Ziele durch Kennzeichnung als Ziel der Raumordnung in der Legende der Plankarte).
Auf Grundsätze der Raumordnung (einschließlich der Vorbehaltsgebiete), die nach Maßgabe des § 4 ROG einer weniger strikten Bindungswirkung als Ziele unterliegen, sind die Bestimmungen über Zielabweichungsverfahren nicht - auch nicht entsprechend - anwendbar.
1.2.4
Verstoß des Vorhabens gegen ein Ziel der Raumordnung
Ein Zielabweichungsverfahren kommt nur in Betracht, wenn eine raumbedeutsame Planung (z. B. Flächennutzungsplan, Bebauungsplan) oder Maßnahme (z. B. Baugenehmigung für ein konkretes Bauvorhaben im Außenbereich) im konkreten Anwendungsfall tatsächlich gegen die als Ziel der Raumordnung gesicherten Funktionen oder Nutzungen verstoßen würde.
Zu prüfen ist regelmäßig, ob und inwieweit das Ziel zulässige Konkretisierungsspielräume für nachfolgende Planungs- und Zulassungsverfahren und deren zielkonforme Umsetzung belässt. Dies kann beispielsweise bei zeichnerisch festgelegten Zielen aufgrund der kleinen Maßstabsebene der Landesplanung (1 : 500 000) gegeben sein, wenn ein Vorhaben knapp mit einer raumordnerischen Vorranggebietsfestlegung zugunsten einer anderen Nutzung zu kollidieren scheint, auf der nachfolgenden Regionalplanungsebene mit größerem Maßstab aber keine Kollision mehr erkennbar wird. Der erste Anschein eines Verstoßes gegen ein Ziel des LROP wird durch die nachfolgende Konkretisierung ausgeräumt. Entsprechendes kann gelten im Verhältnis der Maßstabsebene der Regionalplanung zur Bauleitplanung.
Ergibt sich im Zuge der maßstabsabhängig genaueren Prüfung im Zulassungsverfahren, dass in bestimmten kleinräumigen, im Maßstab des Raumordnungsprogramms nicht sichtbaren Bereichen innerhalb eines Vorranggebietes die angenommenen Voraussetzungen der vorrangigen Funktion oder Nutzung nicht vorliegen (z. B. dass in einem Vorranggebiet Rohstoffgewinnung auf der von dem Vorhaben beanspruchten Teilfläche der Rohstoff nicht in abbaufähigem Maße, nicht in der für den Abbau erforderlichen Qualität oder gar nicht vorkommt und der Vorhabenträger dies nachweist, etwa durch eine Bestätigung der für die Beurteilung von Rohstoffvorkommen zuständigen Fachbehörde), liegt insoweit kein Zielverstoß vor und ein Zielabweichungsverfahren ist nicht erforderlich.
Beispielsweise in den nachfolgenden Fällen steht eine Vorrangnutzung oder -funktion dem Vorhaben aufgrund dessen konkreter Ausgestaltung nicht entgegen:
Bei einem Windpark in einem Vorranggebiet Freiraumfunktionen, das ausschließlich die Funktionen des Raums als Frischluftschneise oder Kaltluftentstehungsgebiet schützen soll, wäre die klimatische Ausgleichsfunktion in der Regel nicht erheblich beeinträchtigt und eine Windenergienutzung stünde nicht im Konflikt mit dem Vorrangzweck.
Sofern ein flächiges Vorranggebiet Biotopverbund allein auf die Entwicklung von Magerrasen als Teil vernetzter Lebensräume für Schmetterlinge abzielt, wäre damit eine Windenergienutzung vereinbar, soweit durch Maststandorte und Zuwegungen kein erheblicher Eingriff in bestehende Magerrasenstandorte verbunden ist. Dies kann auch bei einem Vorranggebiet Natur und Landschaft mit einem vergleichbaren Schutzzweck möglich sein, solange dies nicht zugleich ausdrücklich auch auf den Schutz des Landschaftsbildes abzielt.
Ein raumbedeutsames Vorhaben verstößt nicht gegen ein Vorranggebiet Torferhaltung, wenn das betroffene Torfvolumen so gering ist, dass die Torfzehrung innerhalb des Gebietes nicht wesentlich beschleunigt und der Zweck der Vorranggebietsfestlegung somit nicht erheblich beeinträchtigt wird.
In solchen Fällen wäre das Vorhaben mit dem gesicherten Vorrang vereinbar und ein Zielabweichungsverfahren gar nicht erforderlich.
Weitere Konstellationen, in denen kein Zielabweichungsverfahren erforderlich ist, können ferner insbesondere bei Vorranggebieten Rohstoffgewinnung eintreten:
Ist in einem Vorranggebiet Rohstoffgewinnung der Rohstoff bereits vollständig ausgebeutet und die raumordnerisch gesicherte Nutzung abgeschlossen, können dort Planungen für andere Folgenutzungen möglich sein, ohne dass noch ein Konflikt mit der Vorrangfestlegung besteht, weil die konkurrierende Nutzung mit der gesicherten Nutzung inhaltlich nicht (mehr) unvereinbar sein kann. Der Nachweis, dass kein Konflikt (mehr) mit der Vorrangfestlegung besteht, ist vom Vorhabenträger zu erbringen.
Durch das Torfabbauverbot nach § 8 Abs. 2 NNatSchG sind in vielen Fällen Vorranggebiete Rohstoffgewinnung - Torf - funktionslos geworden.
Ist im Raumordnungsprogramm eine Ausnahmeregelung i. S. von § 6 Abs. 1 ROG vorgesehen und sind die Voraussetzungen dieser Ausnahme erfüllt, besteht ebenfalls kein Anlass für ein Zielabweichungsverfahren.
Wird das Vorhaben von der Landesplanungsbehörde als zielkonform angesehen, sodass kein Anlass für ein Zielabweichungsverfahren besteht, ist dies dem Vorhabenträger in der Regel formlos mitzuteilen. Zum Sonderfall eines feststellenden Bescheides siehe Nummer 5.
1.2.5
Vermeidbarkeit eines Zielabweichungsverfahrens durch Modifizierung der Planung oder
des Vorhabens
Könnte eine raumbedeutsame Planung bei Beachtung bestimmter Vorkehrungen oder Änderungen mit dem betroffenen Ziel vereinbart werden, soll die zuständige Landesplanungsbehörde möglichst frühzeitig beratend auf die raumordnungskonforme Ausgestaltung hinwirken. Die Modifizierung der Planung kann etwa darin bestehen, sie kleinräumig so zu verschieben, dass die räumliche Berührtheit eines zunächst betroffenen, entgegenstehenden Vorranggebietes entfällt. Gestaltet der Planungsträger die Planung dann zielkonform, ist ein Zielabweichungsverfahren nicht erforderlich.
Bedürfen raumbedeutsame Vorhaben einer Zulassung (z. B. Genehmigung oder Planfeststellung), soll zunächst geprüft werden, ob durch Nebenbestimmungen zur Zulassungsentscheidung i. S. von § 36 VwVfG erreicht werden kann, dass das Vorhaben unter Einhaltung der Ziele der Raumordnung realisiert wird. Ein Zielabweichungsverfahren ist nur erforderlich, wenn eine solche Nebenbestimmung die Auswirkungen des Vorhabens zwar mildern, aber eine Verletzung eines Zieles der Raumordnung nicht ausschließen könnte.
1.3
Grenzen des Zielabweichungsverfahrens (Erforderlichkeit einer Planänderung)
Das Zielabweichungsverfahren ist ein Instrument für besonders gelagerte Einzelfallkonstellationen, die bei der Programmaufstellung nicht erkennbar waren und somit nicht bei der Aufstellung des Zieles berücksichtigt wurden. Es ermöglicht, unbeabsichtigte Planungslücken zu schließen oder unbeabsichtigte Planungskonsequenzen zu korrigieren, ohne dass die mit der Planaufstellung festgelegten Grundzüge der Planung aufgegeben werden. Das Ziel bleibt im Raumordnungsprogramm bestehen, es braucht lediglich in dem konkreten Einzelfall nicht beachtet zu werden.
Das Zielabweichungsverfahren ist weder ein Planungsinstrument noch ein Ersatz hierfür und darf nicht dazu verwendet werden, für wiederkehrende, gleichgelagerte und damit "typische" Fälle Abweichungen zu ermöglichen. Haben sich durch neue Entwicklungen die Rahmenbedingungen einer Raumordnungsplanung grundlegend derart verändert, dass wiederkehrende Fälle zu erwarten sind, ist das Raumordnungsprogramm zu ändern oder neu aufzustellen. Auch in Fällen, in denen erhebliche Umweltauswirkungen zu erwarten sind, ist nur eine Planänderung zulässig (vgl. Nummer 2.2.6).
1.4
Antragserfordernis, Antragsberechtigung (§ 6 Abs. 2 Sätze 2 und 3 ROG), Inhalt und Umfang des Antrags
Hat ein Antrag auf Zielabweichung schon nach überschlägiger Prüfung eindeutig keine Aussicht auf Erfolg, sind die Gründe hierfür dem Antragsteller zunächst formlos mitzuteilen, verbunden mit der Anregung, den Antrag zurückzunehmen. Wird ein Antrag aufrechterhalten, ist das Verfahren durch eine (negative) Entscheidung über den Antrag abzuschließen.
Öffentliche Stellen sind antragsbefugt, wenn sie selbst Träger einer raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme oder Genehmigungsbehörde im Hinblick auf eine Planung oder Maßnahme einer anderen öffentlichen Stelle sind. So besteht insbesondere eine Antragsbefugnis einer Gemeinde, um ihre Bauleitplanung abweichend von Zielen der Raumordnung dahingehend ändern zu dürfen, dass ein raumbedeutsames Projekt planungsrechtlich zulässig wird.
Antragsbefugt sind öffentliche Stellen ferner, wenn sie über die Zulassung eines raumbedeutsamen Vorhabens einer Person des Privatrechts entscheiden und hierbei auch Ziele der Raumordnung zu beachten sind (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ROG, § 4 Abs. 2 ROG).
Private Vorhabenträger sind im Zulassungsverfahren antragsbefugt, wenn ihr Vorhaben einer Planfeststellung bedarf (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ROG) oder wenn bei der Genehmigung ihres Vorhabens auch die Einhaltung von Zielen der Raumordnung als Genehmigungs- oder Zulassungsvoraussetzung vorgeschrieben ist (Raumordnungsklausel, § 4 Abs. 2 ROG). Daher dürfen z. B. private Investorinnen und Investoren, deren Vorhaben im Außenbereich genehmigt werden soll, einen Zielabweichungsantrag stellen, weil § 35 Abs. 3 Sätze 2 und 3 BauGB Regelungen enthält, nach denen auch Ziele der Raumordnung öffentliche Belange sind, die der Zulassung raumbedeutsamer Außenbereichsvorhaben entgegenstehen können. Fehlt eine solche "Raumordnungsklausel" im Fachrecht (z. B. in den §§ 34 oder 30 BauGB), ist mangels einer Bindungswirkung von Zielen der Raumordnung im Genehmigungsverfahren ein Zielabweichungsantrag weder erforderlich noch zulässig.
Private Vorhabenträger sind nicht befugt, einen Zielabweichungsantrag für eine Bauleitplanung zu stellen, die ihr Bauvorhaben ermöglichen soll.
Mehrere Antragsberechtigungen können nebeneinander bestehen (z. B. Zulassungsbehörde und Vorhabenträger).
Andere als die in § 6 Abs. 2 Sätze 2 und 3 ROG genannten Stellen und Personen (z. B. Verbände) sind nicht antragsbefugt. Wird ein solcher Antrag dennoch gestellt, ist er ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig zurückzuweisen.
Der Antrag hat sämtliche für die Beurteilung notwendigen Angaben zu enthalten. Dies umschließt auch eine Darlegung des Antragsstellers, warum aus seiner Sicht die Voraussetzungen einer Zielabweichung erfüllt sind. Fehlen notwendige Angaben, ist der Antrag nicht entscheidungsreif und der Antragsteller ist zur Vervollständigung aufzufordern.
Außer Kraft am 1. Januar 2030 durch Nummer 6 Satz 1 des RdErl. vom 25. Juni 2024 (Nds. MBl. 2024 Nr. 282)