Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 08.11.2011, Az.: 1 Ss 183/11

Bestehen einer Protokollierungspflicht hinsichtlich eines Hinweises auf Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunktes i.S.d. § 265 Abs. 1 StPO

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
08.11.2011
Aktenzeichen
1 Ss 183/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 32188
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2011:1108.1SS183.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 17.08.2011 - AZ: 13 Ns 247/11

Redaktioneller Leitsatz

1.

Eine Protokollierungspflicht besteht nur hinsichtlich eines Hinweises auf die Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunktes, aber nicht bei einer Änderung der tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die das Gericht eine Verurteilung stützen will.

2.

Das Gericht darf den Angeklagten auch außerhalb des Anwendungsbereiches von § 265 Abs. 1 StPO nicht darüber im Unklaren lassen, dass es die Verurteilung auf tatsächliche Gesichtspunkte stützen will, die in der zugelassenen Anklage nicht enthalten sind, wie sich aus § 265 Abs. 4 StPO ergibt.

In der Strafsache ... wegen versuchter Nötigung, Verteidiger: Rechtsanwalt Burchardt, Oldenburg, hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg am 8. November 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Suermann, die Richterin am Oberlandesgericht Hilke-Eggerking und den Richter am Oberlandesgericht Leemhuis gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 13. kleinen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 17. August 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückverwiesen, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.

Gründe

1

Das Amtsgericht Brake hatte den Angeklagten am 14. Juni 2011 vom Vorwurf der versuchten Nötigung freigesprochen. Auf die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Oldenburg mit Urteil vom 17. August 2011 den Angeklagten wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 EUR verurteilt.

2

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und beantragt,

das Urteil in vollem Umfang aufzuheben.

3

Die zulässige Revision des Angeklagten hat Erfolg. Sie führt auf eine Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

4

1.

In dem rechtzeitig angefochtenen Strafbefehl des Amtsgerichts Brake vom 18. Februar 2011 wird dem Angeklagten vorgeworfen, Ende März 2010 in Brake eine versuchte Nötigung dadurch begangen zu haben, dass er der Stefanie L. in der Innenstadt von Brake wiederholt mit den Worten, wenn ihr Freund die Anzeige nicht zurückziehen würde, würde er ihn umbringen, gedroht habe. Des weiteren habe er der Zeugin angekündigt, "Wenn Du was Falsches sagst, ficke ich Dich richtig".

5

Das Landgericht hat festgestellt, der Angeklagte sei an einem nicht mehr genau feststellbaren Tag in der zweiten Märzhälfte 2010 in der Innenstadt von Brake auf die Zeuginnen Stefanie und Carolin L. getroffen. Er habe die Stefanie L. auf die seitens ihres Freundes gegen ihn erstattete Strafanzeige angesprochen und ihr erklärt, sie solle dafür sorgen, dass ihr Freund die Anzeige zurücknehme, sonst werde er sie "richtig ficken". Damit habe er der Zeugin, was sie auch so verstanden habe, Prügel angedroht, wenn sie nicht für eine Zurücknahme der Strafanzeige gegen den Angeklagten sorge. (UA S. 4 oben).

6

2.

Das Landgericht hat den Angeklagten somit wegen eines Geschehens verurteilt, das in tatsächlicher Hinsicht von dem in dem Strafbefehl geschilderten Vorwurf abweicht.

7

Hieran war das Landgericht allerdings nicht schon deshalb gehindert, weil es insoweit an einer wirksamen Anklage gefehlt und damit ein Verfahrenshindemis vorgelegen hätte. Denn es handelt sich um dieselbe Tat im Sinne des § 264 StPO.

8

Der Begriff der Tat im verfahrensrechtlichen Sinne umfasst den von der zugelassenen Anklage bzw. dem ihr gleichstehenden Strafbefehl betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Zur Tat als Prozessgegenstand gehört dabei nicht nur der Geschehensablauf, der dem Angeklagten in der Anklage zur Last gelegt worden ist, sondern darüber hinaus dessen gesamtes Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten Vorkommnis nach Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Die Frage der Einheitlichkeit des Vorgangs beurteilt sich dabei auf der Grundlage des Ergebnisses der Hauptverhandlung. Danach kann sich ein Geschehnis, das in der zugelassenen Anklage noch nicht erwähnt war, als Bestandteil der Tat darstellen, über die das Gericht zu urteilen hat. Sind Vorgänge situativ und nach der Motivationslage der Beteiligten - wie hier - derart miteinander verknüpft, dass es der natürlichen Lebensauffassung zuwider liefe, sie isoliert zu beurteilen, dann handelt es sich - auch wenn es sich um materiellrechtlich mehrere (§ 53 StGB) und gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichtete Straftaten handelt, im Sinne des § 264 StPO um eine Tat (vgl. BGH, Urteil v. 20.12.1995, 2 StR 113/95, NStZ 1996, 243).

9

Die - in zulässiger Weise begründete - Revision rügt jedoch zu Recht die Verletzung der aus § 265 Abs. 4 StPO abzuleitenden Verpflichtung zu einem Hinweis auf die Änderung der tatsächlichen Grundlage des Schuldvorwurfs.

10

Allerdings verhilft es der Rüge noch nicht zum Erfolg, dass sich ein entsprechender rechtlicher Hinweis nicht im Protokoll der Hauptverhandlung findet. Denn eine Protokollierungspflicht besteht nur hinsichtlich eines Hinweises auf die Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunktes im Sinne des § 265 Abs. 1 StPO (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 265 Rz. 33), nicht hingegen bei einer Änderung der tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die das Gericht eine Verurteilung stützen will (vgl. BGH, Urteil v.15.11.1978, 2 StR 456/78, BGHSt 28, 196). Da jedenfalls das durch das Landgericht festgestellte Geschehen - anders als möglicherweise der im Strafbefehl beschriebene Sachverhalt, der sich hinsichtlich der Äußerung bezüglich des Freundes eher als Bedrohung, bezüglich der Zeugin Logemann hingegen als strafrechtlich eher irrelevant, weil jedenfalls nicht verwerflich darstellt - den inneren und äußeren Tatbestand der im Strafbefehl vorgeworfenen versuchten Nötigung erfüllt, bedurfte es eines rechtlichen Hinweises nicht.

11

Jedoch darf das Gericht den Angeklagten auch außerhalb des Anwendungsbereiches von § 265 Abs. 1 StPO nicht darüber im Unklaren lassen, dass es die Verurteilung auf tatsächliche Gesichtspunkte stützen will, die in der zugelassenen Anklage nicht enthalten sind, wie sich aus § 265 Abs. 4 StPO ergibt (vgl. vgl. BGH, Urteil v. 15.11.1978, 2 StR 456/78, BGHSt 28, 196; Beschluss v. 02.02.1990, 3 StR 480/89, StV 1990, 249). Dem ist nicht schon dann Genüge getan, wenn der neue tatsächliche Gesichtspunkt etwa von Zeugen im Rahmen ihrer Vernehmung angesprochen worden ist. Vielmehr muss dem Angeklagten deutlich geworden sein, dass das Gericht selbst diesen Gesichtspunkt für seine Entscheidung für bedeutsam hält. Auch ist es unerlässlich, dass der Angeklagte von Gerichtsseite zu diesem neuen tatsächlichen Gesichtspunkt befragt worden ist (BGH, Urteil v. 15.11.1978, 2 StR 456/78, BGHSt 28, 196). Das kann hier nicht festgestellt werden.

12

Da die Bindungswirkung des Protokolls insoweit nicht gilt, ist im Wege des Freibeweises zu klären, ob diesem Erfordernis Genüge getan ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 265 Rz. 23). Vorliegend ist den Urteilsgründen zu entnehmen, dass der Angeklagte sich dahin eingelassen habe, er könne sich an Äußerungen, wie sie ihm im Strafbefehl zur Last gelegt worden seien, nicht erinnern und müsse zumindest deren Wortlaut bestreiten (UA S. 4, 2. Abs.). Angaben darüber, ob und wie sich der Angeklagte gegenüber dem geänderten tatsächlichen Gesichtspunkt verteidigt hat, sind der Darstellung der Einlassung des Angeklagten hingegen nicht zu entnehmen. Bei dieser Sachlage muss der Senat davon ausgehen, dass ein entsprechender Hinweis nicht erteilt worden ist, zumal auch aus den durch den Angeklagten in der Hauptverhandlung gestellten Anträgen eine Kenntnis des Angeklagten von einer beabsichtigten Änderung der tatsächlichen Grundlagen des Schuld Vorwurfs nicht erkennbar ist und das Protokoll keine Erörterung der Sach- und/oder Rechtslage vermerkt.

13

Die Änderung der Tatsachengrundlage der Verurteilung war entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft auch nicht nur unwesentlich. Denn während nach dem im Strafbefehl dem Angeklagten vorgeworfenen Verhalten bei Aufrechterhalten der Anzeige dem Freund der Zeugin Logemann Gewalt angetan werden sollte, hat der Angeklagte nach den Feststellungen des Landgerichts ihr selbst, mithin einem anderen Rechtsgutträger, für diesen Fall Prügel angedroht. Soweit dem Angeklagten im Strafbefehl darüber hinaus auch das Inaussichtstellen von körperlicher Gewalt gegenüber der Zeugin selbst zur Last gelegt wird, bezieht sich dieses auf den Fall einer unrichtigen Aussage durch die Zeugin. Dieses stellt - anders als im Falle einer wie durch das Landgericht festgestellten Äußerung - überhaupt keine Straftat dar, so dass eine Abweichung schon aus diesem Grunde als erheblich anzusehen ist.

14

Ein Beruhen des Urteils auf dem festgestellten Rechtsfehler ist nicht ausgeschlossen. Es unterliegt deshalb der Aufhebung.

15

3.

Da der Angeklagte bereits mit der Rüge der Verletzung von § 265 Abs. 4 StPO durchdringt, kam es auf die weiter erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge nicht mehr an.

16

Gemäß § 354 Abs. 2 StPO war die Sache daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Oldenburg zurückzuverweisen.

Suermann
Hilke-Eggerking
Leemhuis