Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 11.10.2001, Az.: 7 A 2969/01
einmalige Leistung; Fahrrad; Fahrradhelm; Fahrradkinderhelm; Fahrradkindersitz; Fahrradsitz; Helm; Hilfe zum Lebensunterhalt; Kind; Kleinkind; notwendiger Lebensunterhalt; Sitz; Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 11.10.2001
- Aktenzeichen
- 7 A 2969/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 40310
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs 2 BSHG
- § 11 BSHG
- § 12 BSHG
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Bewilligung einer einmaligen Leistung zur Anschaffung eines Kinderfahrradsitzes und eines Kinderfahrradhelms.
Der im Februar 2000 geborene Kläger lebt zusammen mit seiner ihn alleinerziehenden Mutter. Er und seine Mutter erhalten von der Beklagten ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt.
Die Mutter des Klägers ist im Besitz eines Fahrrades.
Anfang April 2000 beantragte die Mutter für den Kläger die Bewilligung einer einmaligen Leistung zur Anschaffung eines Kinderfahrradsitzes und eines Kinderfahrradhelms.
Mit Bescheid vom 20.04.2001 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab.
Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde u.a. damit begründet, Mutter und Kläger wollten mit dem Fahrrad gemeinsam zu den Großeltern fahren; außerdem wolle man damit nach Höver zum Baby-Schwimmen fahren. Weiterhin litten soziale Kontakte, wenn die Mutter an Radtouren von Bekannten nicht teilnehmen könne.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2001, zugestellt am 03.07.2001, wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Der Kläger hat am 26.07.2001 Klage erhoben.
Er trägt vor, die begehrten Gegenstände gehörten zum notwendigen Lebensunterhalt. Familiengerecht sei es notwendig, dass Mutter und Kind gemeinsame Fahrten ausführen könnten. Die Benutzung des Nahverkehrs mit einem kleinen Kind sei für seine Mutter zudem nicht immer einfach und zumutbar, zumal, wenn bereits ein eigenes Fahrrad vorhanden sei.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20.04.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.08.2001 zu verpflichten, ihm eine einmalige Beihilfe zur Beschaffung eines Fahrradkindersitzes und eines Fahrradkinderhelms zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, ein Fahrrad für Erwachsene gehöre nicht zum notwendigen Lebensunterhalt, deshalb könne auch Zubehör nicht dazu zählen. Die Mobilität des Klägers und seiner Mutter sei nicht gefährdet. Seine Mutter habe den sog. "Hannover-Pass" erhalten, damit könne ein verbilligter Tarif genutzt werden.
Alle Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer einverstanden erklärt.
Alle Beteiligten haben sich außerdem mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung gemäß § 87 a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter.
Weiterhin ergeht im Einverständnis der Beteiligten die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist begründet.
Zwar ist das Gericht mit dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg (Urt. v. 25.09.1991 - 4 L 29/90 -, FEVS 42, 227) und dem Hamburgischen Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 08.10.1990 - Bs IV 350/90 -, FEVS 41, 284) der Ansicht, dass der Besitz eines Fahrrades für Erwachsene regelmäßig nicht zum notwendigen Lebensunterhalt gehört (a. A.
3. Kammer des VG Hannover, Urt. v. 19.12.1991 - 3 A 928/91 -). Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein Sozialhilfeempfänger nicht auf die Benutzung eines Fahrrades angewiesen ist. Es liegen indes keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mutter des Klägers auf die Benutzung eines Fahrrades angewiesen ist. Sie wohnt im Bereich der Landeshauptstadt Hannover, die über ein relativ dichtes Netz öffentlicher Verkehrsmittel verfügt. Alle erforderlichen Einkäufe, Arztbesuche und sonstige notwendigen Wege können deshalb zumutbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Da die Mutter des Klägers über den Hannover-Pass verfügt, hat sie auch die Möglichkeit, einen verbilligten Tarif im Nahverkehr zu nutzen. Der Kläger selbst braucht überhaupt für die Benutzung des Nahverkehrs nichts zu zahlen. Die übrige Begründung des Klagebegehrens zielt auf die Nutzung des Fahrrades zur Freizeitgestaltung ab. Mit dem OVG Lüneburg umfasst dieser Bereich aber gerade nicht den notwendigen Lebensunterhalt, weil es nicht notwendig ist, unbedingt ein Fahrrad zu haben, um seine Freizeit gestalten zu können.
Gleichwohl besteht aber im vorliegenden Fall ein Anspruch auf eine einmalige Leistung zur Anschaffung von Zubehör durch den Kläger für das an sich nicht notwendige Fahrrad seiner Mutter. Denn es geht nicht mehr um die Anschaffung eines Fahrrades für die Mutter - dieses ist bereits vorhanden -, sondern nur noch um die Möglichkeit, dass dieses gemeinsam von Mutter und Kind, also dem Kläger, genutzt wird.
Nach der ständigen Rechtssprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts orientiert sich der Begriff des notwendigen Lebensunterhalts an dem in § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG festgelegten Grundsatz, dass dem Hilfeempfänger die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll. Dies ist nicht schon dann gewährleistet, wenn das physiologisch Notwendige vorhanden ist, es ist vielmehr zugleich auf die jeweiligen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, insbesondere der Bürger mit niedrigem Einkommen abzustellen (OVG Lüneburg, Urt. v. 31.01.1990 "
4 A 128/88 -, FEVS 41, 185, 186, m.w.N.). Gerade aber alleinerziehende Personen mit niedrigen Einkommen würden sich nach Überzeugung der Kammer - wenn denn schon ein Fahrrad vorhanden ist -, bei einem Kleinkind auch einen Kindersitz leisten. Dafür spricht, dass mit einem Fahrradkindersitz eben nicht nur allein mehr gemeinsame Freizeitaktivitäten entfaltet werden können, sondern die Mitnahme eines Kleinkindes auf dem Fahrrad auch die Erledigung der Alltagsgeschäfte erheblich erleichtert. Kann das Kind auf dem Fahrrad mitgenommen werden, so können durch die Nutzung des Fahrrades die Kosten für den öffentlichen Personennahverkehr eingespart werden, ohne dass gleichzeitig eine anderweitige Betreuung des Kindes sichergestellt werden müsste. Auch Wege, für die sich zwar im Hinblick auf die Kosten die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel noch nicht rechnen würde, die aber dennoch schon einen längeren Fußweg erfordern, könnten mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, ohne das Kind zurückzulassen zu müssen.
Ist aber die Mitnahme eines Kindes auf dem Fahrrad in einem Kinderfahrradsitz (eine andere Sitzmöglichkeit käme allein aus Sicherheitsgründen schon nicht in Betracht) in Kreisen mit niedrigen Einkommen durchaus üblich und normal, so zählt auch für einen Hilfeempfänger ein Kinderfahrradsitz zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des BSHG.
Gestützt wird dieses Ergebnis durch den Umstand, dass im Warenkorb, der der Bemessung der Regelsätze zu Grunde liegt, sogar Kosten für die Reparatur eines Fahrrades eingestellt sind. Dies belegt zwar nicht, dass der Bedarf an einem Fahrrad selbst dadurch anerkannt wurde, zeigt aber, dass, wenn denn schon ein Fahrrad vorhanden ist, der Verordnungsgeber davon ausgeht, dass ein Hilfeempfänger dieses dann auch benutzen können muss und er ihm nicht zumutet, es ungenutzt stehen zu lassen. Bei dieser gegebenen normativen Wertung kann es weder der Mutter des Klägers noch ihm selbst angesonnen werden, auf das Fahrrad zu verzichten und auf andere Verkehrsmittel umzusteigen, nur weil keine ordnungsgemäße und sichere Beförderung des Klägers mangels eines Kindersitzes möglich ist.
Das hier gefundene Ergebnis steht im Einklang sowohl mit der bisherigen Rechtsprechung der Sozialhilfekammern dieses Gerichts als auch dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg. Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts hat in ihrem Urteil vom 05.03.1985 "
3 VG A 344/83 - entschieden, dass, wenn eine alleinerziehende Mutter ein Fahrrad besitzt und sie dieses regelmäßig nutzt, es ihr (d.h., der Mutter) nicht zuzumuten sei, auf das Fahrrad als Verkehrsmittel zu verzichten und deshalb ihrem Kind einen Anspruch auf einen Kinderfahrradsitz zugesprochen (Bl. 13 des Entscheidungsabdrucks). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt, wobei es allerdings nur darauf abgestellt hat, dass die Mutter ihr Kind mitnehmen muss, wenn sie das Fahrrad benutzt und daraus die Notwendigkeit eines Kindersitzes gefolgert (Urteil vom 15.01.1992 - 4 OVG A 62/85 -, Bl. 5 des Entscheidungsabdrucks). In einer späteren Entscheidung hat die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts erneut einen Fahrradkindersitz zugesprochen, wobei die Kammer hier davon ausgegangen ist, dass die ebenfalls alleinerziehende Mutter, weil sie am Stadtrand wohnte, auf die Nutzung eines Fahrrades angewiesen war (Urteil vom 22.12.1987 - 3 VG A 114/87 -, Bl. 5 des Entscheidungsabdrucks).
Weiterhin zählt der begehrte Fahrradkinderhelm ebenfalls zum notwendigen Lebensunterhalt des Klägers. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 11.10.2000 - 4 L 1963/00 - (NdsVBl. 2001, 73, 74) in einem vergleichbaren Fall ausgeführt:
"Es liegt auf der Hand, dass insbesondere für Kleinkinder, die auf Kindersitzen mitgenommen werden, Fahrradhelme notwendig sind, um der auch hier stets akuten Gefahr schwerer Kopfverletzungen bei einem Sturz entgegenzuwirken."
Dieser Auffassung folgt auch das Gericht.
Soweit es um den Kinderfahrradsitz geht, reicht nach Ansicht der Kammer eine einmalige Leistung aus, die die Anschaffung eines gebrauchten Sitzes ermöglicht. Hinsichtlich des Fahrradhelms kann der Kläger allerdings nicht auf einen Gebrauchthelm verwiesen werden. Vom Kauf gebrauchter Kinderfahrradhelme wird generell abgeraten, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass derartige Helme kleinere, kaum sichtbare Beschädigungen (z.B. Haarrisse) aufweisen, die dazu führen, dass der notwendige Schutz nicht mehr gewährleistet ist (so auch OVG Lüneburg, Urt. v. 11.10.2000, a.a.O.).