Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 19.06.2014, Az.: 1 A 1646/12

Voraussetzungen für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
19.06.2014
Aktenzeichen
1 A 1646/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 20694
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2014:0619.1A1646.12.0A

[Tatbestand]

Der Kläger wendet sich dagegen, dass die Beklagte seine Flüchtlingsanerkennung widerrufen hat und Abschiebungsverbote nicht festgestellt.

Der Kläger wurde am A. 1974 in D. im Iran geboren. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter (geboren im Jahr 2000) und eines Sohnes (geboren im Jahr 2003). In seiner Heimat hat er den Beruf des Bäckers ausgeübt. In Deutschland war er in verschiedenen Funktionen, etwas als Koch und als Werftarbeiter, tätig. Im Jahr 2007 hat der Kläger Privatinsolvenz beantragt. Derzeit betreibt er zusammen mit seiner Ehefrau einen Imbiss.

Am 20. Juni 2001 beantragte er zusammen mit seiner Ehefrau und seiner Tochter in der Bundesrepublik Deutschland Asyl. Mit Bescheid vom 21. November 2001 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf die Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes hinsichtlich Iran vorliegen. Zur Begründung führte die Beklagte an, dass der Kläger zwar nicht habe nachweisen können, über den Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein. Allerdings sei er als Unterstützer der DPKI (Demokratische Partei Kurdistans/Iran) anzusehen und werde von den iranischen Sicherheitsbehörden gesucht. Die Beklagte bezog sich auf die glaubhafte Schilderung des Verfolgungsschicksals durch den Kläger in seiner Anhörung am 25. Juni 2001.

Während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland hat der Kläger mehrere Straftaten begangen. Am 29. Juni 2006 (Rechtskraft: 18. Juli 2006) wurde er mit einem Strafbefehl durch das Amtsgericht E. wegen Betrugs zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je acht EURO verurteilt. Mit Urteil vom 15. Oktober 2007 (Rechtskraft: 23. Oktober 2007) verhängte das Landgericht F. eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gegen den Kläger. Am 27. Februar 2009 wurde der Kläger vorzeitig aus der Strafhaft entlassen.

Wegen der Verurteilung vom 15. Oktober 2007 wies der zuständige Landkreis G. den Kläger mit Bescheid vom 14. Februar 2008 auf unbefristete Zeit aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Rechtsmittel des Klägers gegen die Ausweisungsverfügung blieben erfolglos (Urteil des erkennenden Verwaltungsgerichts vom 19. November 2008 - H. - und Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. Januar 2009 - I.

Die Beklagte leitete ein Widerrufsverfahren hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung des Klägers ein, stellte dieses Verfahren allerdings mit Verfügung vom 4. August 2010 wieder ein.

Am 2. November 2009 erging ein Haftbefehl gegen den Kläger. Dieser wurde am 3. November 2009 in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil vom 21. Dezember 2010 (Rechtskraft: 19. August 2011) verurteilte das Landgericht J. den Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: In den frühen Morgenstunden des 24. Oktobers 2009 geriet der Kläger in eine Schlägerei mit mehreren Beteiligten vor einer Diskothek, in deren Verlauf er selbst, u.a. im Gesicht, verletzt wurde. Der Kläger war dabei alkoholisiert, sein Blutalkoholgehalt betrug maximal 0,9 Promille. Im weiteren Verlauf führte der Kläger gegen einen der Kontrahenten, einen ehemaligen Arbeitskollegen, einen Stich mit einem Klappmesser in dessen Oberkörper. Ein weiterer Stich gelang ihm nicht, obwohl er dies versuchte. Der Kläger versuchte dann, eine weitere an der Schlägerei beteiligte Person in den Hals zu stechen. Dies konnte ein anderer Teilnehmer an der Schlägerei vereiteln. Die Kontrahenten des Klägers flohen sodann vor ihm und weiteren Verfolgern in eine nahe gelegene Spielothek. Im Verlauf der Flucht gelang es dem Kläger, einer weiteren Person einen Messerstich oberhalb des Beckenkamms beizubringen. Danach stieß er lautstark Todesdrohungen gegen seine Kontrahenten aus, die sich mittlerweile in das Kassenhäuschen der Spielothek hatten flüchten können.

Nach Anhörung widerrief die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 12. März 2012 den Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ebenfalls nicht vorliegen. Die Beklagte stützte ihren Widerruf nicht auf den Wegfall der politischen Verfolgung des Klägers, sondern allein auf einen Versagungsgrund nach § 60 Abs. 8 AufenthG. Die Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe liege vor. Eine günstige Prognose könne dem Kläger zudem nicht gestellt werden; es sei zu befürchten, dass er rückfällig werde. Daher könne ihm auch die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote beständen nicht.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 29. März 2012 Klage erhoben. Er begründet seine Klage damit, dass er als ehemaliger kurdischer Peshmerga, der gegen das iranische Regime gekämpft habe, bei einer Rückkehr in den Iran noch immer von Verfolgung bedroht sei. Er sei auch exilpolitisch aktiv. Außerdem müsse ihm eine günstige Sozialprognose erstellt werden; eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer Straftaten liege in seinem Fall nicht vor. So sei er vorzeitig aus der Haft entlassen worden und betreibe nunmehr als Selbständiger einen Kiosk in seinem Wohnort. Seine Familie gelte als gut integriert. Seine Taten seien als einmalig im jeweiligen Deliktsfeld zu bewerten. Er habe klare Konsequenzen gezogen und arbeite seine Probleme therapeutisch auf. Insbesondere nehme er keinen Alkohol mehr zu sich. Der Kläger verweist auf die Gründe des Beschlusses des Landgerichts J. vom 6. November 2012 (K. und L.), durch den der Rest seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, sowie die Stellungnahme des behandelnden Psychotherapeuten M. vom 12. Mai 2014.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 12. März 2012 aufzuheben;

hilfsweise

den Bescheid der Beklagten vom 12. März 2012 aufzuheben, soweit er entgegensteht, und die Beklagte zu verpflichten, bei dem Kläger den Status eines subsidiär Schutzberechtigten gem. § 4 AsylVfG und ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG festzustellen,

hilfsweise,

den Bescheid der Beklagten vom 12. März 2012 aufzuheben, soweit er entgegensteht, und die Beklagte zu verpflichten, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG in Bezug auf den Iran festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt auf ihren Bescheid Bezug.

Am 19. Juni 2014 hat die mündliche Verhandlung stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift verwiesen.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er ist deshalb aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Beklagte ist - nach Maßgabe der nach § 77 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) zu beachtenden Sach- und Rechtslage der letzten mündlichen Verhandlung - nicht berechtigt, das mit Bescheid vom 21. November 2001 festgestellte Abschiebungshindernis gemäß § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (a.F.) zu widerrufen. Es bleibt bei der mit Bescheid vom 21. November 2001 festgestellten Sach- und Rechtslage. Der Kläger ist weiterhin anerkannter Flüchtling gemäß § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Hierbei handelt es sich um die Nachfolgenorm des am 31. Dezember 2004 außer Kraft getretenen § 51 Abs. 1 AuslG.

Gegenstand des Verfahrens ist der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 12. März 2012. Auf die Anfechtungsklage des Klägers ist die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids uneingeschränkt zu überprüfen. Dabei hat das erkennende Gericht insbesondere die Rechtmäßigkeit eines nicht im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsakts auch unter Gesichtspunkten zu prüfen, die von der Behörde im Bescheid oder im Gerichtsverfahren nicht angeführt worden sind. Die vorliegende Klage ist also nicht schon dann begründet, wenn der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund des § 60 Abs. 8 AufenthG nicht vorliegt, sondern nur dann, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Kläger in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden (BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 17/12 -, juris m.w.N.).

Hier liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung des Klägers insgesamt nicht vor.

Als Rechtsgrundlage für den Widerruf einer Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (a.F.) vorliegen, ist zunächst § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu prüfen. Soweit diese Vorschrift den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorsieht, gilt dies entsprechend für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (a.F), da diese Vorschrift durch den am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen § 60 Abs. 1 AufenthG ersetzt wurde. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylVfG steht einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch entgegen - und hat somit einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zur Folge -, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Danach findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Die nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erforderliche rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren kann grundsätzlich unabhängig davon vorliegen, ob die verhängte Freiheitsstrafe auf tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangene und gleichzeitig abgeurteilte Delikte (§ 52 oder §§ 53 bis 55 StGB) zurückgeht. Bei der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe ist jedoch erforderlich, dass zumindest eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe gemäß §§ 54 oder 55 StGB gebildet wird, eine wenigstens dreijährige Freiheitsstrafe ist (BVerwG, Urteil vom 31.1.2013 - 10 C 17/12 -, juris).

Zusätzlich zur Verurteilung im oben genannten Sinne muss, damit ein Widerruf auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG gestützt werden kann, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall eine konkrete Wiederholungs- oder Rückfallgefahr festgestellt werden. Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss; die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind (grundlegend zur Neufassung des § 60 Abs. 8 AufenthGBVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - BVerwG 9 C 6.00 -, juris; fortgesetzt von BVerwG, Beschluss vom 12.10.2009 - 10 B 17/09 -, juris). Die asyl- und ausländerrechtliche Beurteilung durch das Verwaltungsgericht erfordert dabei eine längerfristige, eigenständige Gefahrenprognose. Die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB stellt zwar ein wesentliches Indiz bei der anzustellenden Prognose dar, begründet aber für sich genommen eine Vermutung gegen eine Wiederholungsgefahr noch nicht (BVerwG, Urteil vom 16.11.2000 - BVerwG 9 C 6.00 -, juris).

Nach diesem Maßstab scheidet ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG aus.

Allerdings ist die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren im soeben dargestellten Sinne gegeben. Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts J. vom 21. Dezember 2010 ist der Kläger wegen seiner Tat vom 24. Oktober 2009 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen verurteilt worden, wobei die Einzelstrafe für jede der beiden Taten jeweils eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten war.

Anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls konnte die Einzelrichterin hier jedoch nicht feststellen, dass in Zukunft die erneute Begehung einer vergleichbaren Straftat durch den Kläger ernsthaft droht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der typischen Wiederholungsgefahr, von der nach der Wertung des Gesetzgebers bei Freiheitsstrafen über drei Jahren auszugehen ist. Die Prognose des Gerichts stützt sich auf folgende Erwägungen:

Erstens ist zu würdigen, dass es sich bei der dem Urteil des Landgerichts J. vom 21. Dezember 2010 um die erste Verurteilung des Klägers wegen eines Gewaltverbrechens handelt. Davor ist der Kläger zwar bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten, allerdings mit einem Vermögensdelikt (Betrug) und mit einem Drogendelikt (Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge). An diese Delikte kann ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG nicht anknüpfen, weil eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren nicht verhängt worden ist. Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr spielen sie allerdings dann eine Rolle, wenn zwischen ihnen und der "Anknüpfungstat" für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ein Zusammenhang dergestalt besteht, dass die "Anknüpfungstat" gleichsam als Fortsetzung und Steigerung der zuvor bereits gezeigten kriminellen Energie anzusehen ist. Dies ist hier indes nicht der Fall.

Zunächst stammt die "Anknüpfungstat" aus einem anderen Deliktsfeld als die vorangegangenen Taten. Der Kläger hat diese Delikte zudem in einer Lebensphase begangen, die von besonderen finanziellen Belastungen geprägt war. Denn er musste einen Kredit von ca. 15.000,- € zurückzahlen, den er aufgenommen hatte, u.a. um Familienbesuche seiner Frau im Iran zu finanzieren und deren Familie zu unterstützen. Dies hat er in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert. Daher sind die Vortaten des Klägers, durch die er in erster Linie einen persönlichen wirtschaftlichen Vorteil anstrebte, auch im Lichte seiner damaligen finanziellen Situation zu sehen. Die am 24. Oktober 2009 begangene versuchte Tötung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, auf welche die Beklagte ihren Widerruf stützt, unterscheidet sich hingegen in ihrer Art und ihrer Zielsetzung von den vorangegangenen Delikten deutlich. Die letzte Tat setzt daher die zuvor gezeigte kriminelle Betätigung des Klägers nicht fort, sondern ist als isolierter Exzess zu sehen. Der Kläger ist weder bis zu der Tat, an die der Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung angeknüpft hat, noch danach durch die Anwendung von Gewalt aufgefallen.

Diese Bewertung steht im Einklang mit den Tatumständen, wie sie das Landgericht J. in seinem Urteil vom 21. Dezember 2010 festgestellt hat. Insbesondere ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Kläger zum Tatzeitpunkt in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war, und hat daher einen Fall der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 Strafgesetzbuch (StGB) angenommen. Hierbei ist es dem Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. gefolgt, der beim Kläger eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie unmittelbar vor der Tat spezifische seelische Belastungen diagnostiziert hat. Hieraus hat das Landgericht auf eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung zum Zeitpunkt der Tatbegehung geschlossen und die Strafe entsprechend gemildert. Auch hier wird deutlich, dass die Tat vom 24. Oktober 2009 - anders als die Vortaten - nicht auf eine persönliche Bereicherungsabsicht des Klägers zurückging.

Für die Bewertung der Tat vom 24. Oktober 2009 als isolierter Einzeltat sprechen auch das Gutachten des Dr. N. anlässlich der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung vom 25. September 2012 sowie die Stellungnahme des behandelnden Psychologen M.. Im erstgenannten Gutachten wird überzeugend herausgearbeitet, dass der Kläger seine Tat in einer Situation der monatelang vorangegangenen psychischen Destabilisierung begangen hat, obwohl er eigentlich ein "eher nachgiebiger, wenig expansiver, sich im Zweifelsfall aggressionsgehemmt zeigender Mann" ohne "Dominanzstreben" ist. Aus der Stellungnahme seines behandelnden Psychologen geht hervor, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Tatbegehung durch ein "großes inneres Aggressionspotential, was er in den letzten Jahren mit verzweifelten Kompensationsbemühungen versucht hatte, in den Griff zu bekommen", gekennzeichnet war. Dieses wird nunmehr therapeutisch in einem "konstruktiven Veränderungsprozess" erfolgreich bearbeitet.

Daher sprechen die Gesamtumstände der konkreten Tatbegehung trotz ihrer Schwere, die in der erheblichen Verletzung und Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter zweier Menschen sowie im Strafmaß zum Ausdruck kommt, ausnahmsweise dagegen, dass sich die typische Wiederholungsgefahr für die Begehung gleichartiger Delikte ernsthaft verwirklichen wird.

Zweitens spricht auch das Verhalten des Klägers während seiner Haft, wie es in der Stellungnahme des Vollzugsabteilungsleiters zur Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB vom 6. Juni 2012 geschildert wird, nicht dafür, dass erneute Gewalttaten vom Kläger zu erwarten sind. Hervorgehoben werden dort seine Kontakte zu Ehefrau und Kindern, bei denen er die Haftlockerungen verbracht hat, sowie seine kontinuierliche Mitarbeit am Vollzugsziel. Zu Alkohol- oder Drogenauffälligkeiten ist es bei ihm ausdrücklich nicht gekommen. Diese Einschätzung hat sich das Landgericht J. in seinem Aussetzungsbeschluss vom 6. November 2012 (O. - u.a.) zu eigen gemacht. In diesem Beschluss folgt das Landgericht B. auch der oben beschriebenen gutachterlichen Einschätzung des Dr. N. vom 25. September 2012.

Drittens sind die gegenwärtigen Lebensumstände, wie sie sich seit der Haftentlassung des Klägers entwickelt haben, für die Sozialprognose maßgeblich positiv zu würdigen. Dieser Aspekt ist insbesondere für die langfristig angelegte, eigenständige asyl- und ausländerrechtliche Würdigung durch das Verwaltungsgericht von entscheidender Bedeutung. Hervorzuheben ist die Beziehung des Klägers zu seiner Ehefrau. Ein wichtiger Faktor, der zur Begehung der Gewalttat führte, war eine nach der ersten Haftentlassung schwelende Ehekrise zwischen ihm und seiner Frau, bei der auch eine Fehlgeburt eine Rolle spielte. Dies geht aus dem Gutachten des Dr. N. und auch aus den Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung hervor. Diese Ehekrise führte dazu, dass der Kläger sich dem günstigen Einfluss seiner Ehefrau entzog, um stattdessen mehr Zeit mit seinen Kollegen außerhalb der häuslichen Sphäre zu verbringen. Dabei hat der Kläger regelmäßig harten Alkohol konsumiert. Dass die Alkoholisierung des Klägers bei der Tatbegehung eine Rolle gespielt hat, geht aus den Feststellungen des Urteils des Landgerichts J. vom 21. Dezember 2010 hervor. Mittlerweile hat sich das Verhältnis zur Ehefrau deutlich verbessert, so dass sie ihren günstigen Einfluss auf den Lebenswandel des Klägers wieder ausüben kann. Zudem sind dem Kläger seine Familie und seine Ehe erklärtermaßen sehr wichtig, so dass er auch aus eigenem Antrieb - wie er es nennt - "nicht mehr rausgeht" und Situationen vermeidet, in denen er wieder Alkohol zu sich nehmen würde. Die Einzelrichterin ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger alles daran setzt, eine Lebensführung zu erreichen, die ihn selbst, seine Ehe und seine Familie schützt. Die enge Beziehung zwischen den Eheleuten ist zudem während der Anhörung des Klägers im Gerichtssaal sichtbar gewesen, während der die Ehefrau zugegen war.

Dieses innere Bestreben des Klägers, eine bessere Lebensführung zu erreichen, wird durch zwei äußere Umstände unterstützt, die sich seit der Haftentlassung entwickelt haben. Zum ersten betreibt der Kläger gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Imbiss, welcher der Familie nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, an deren Wahrheit die Einzelrichterin nicht zweifelt, wirtschaftlich ein gutes Auskommen sichert. Für die Sozialprognose besonders positiv ist dabei, dass der Kläger und seine Frau nun unmittelbar gemeinsam für das Familieneinkommen sorgen und dass der Kläger im familiären Umfeld tätig ist. Dies tut dem Kläger offenbar gut. Das war etwa daran zu erkennen, dass er liebevoll davon erzählte, wie sein Sohn ihn nachmittags im Imbiss aufsucht, um Zeit mit ihm zu verbringen. Zum zweiten besucht der Kläger seit seiner Haftentlassung regelmäßig einen Psychotherapeuten und beabsichtigt eine Fortsetzung dieser Therapie. Die Einzelrichterin hält die Absichtsbekundung des Klägers für glaubwürdig. In dieser Therapie werden schwerpunktmäßig die Kindheitstraumata des Klägers bearbeitet, die eine entscheidende Rolle bei der Begehung seiner Gewalttat gespielt haben. Das Gericht verweist auf die eingehende und überzeugende Schilderung des Therapieverlaufs, die der behandelnde Psychologe vorgelegt hat. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger auch selbst zum Ausdruck gebracht, dass es in seiner Therapie immer wieder um seine Kindheit gehe, obwohl er dieses Thema nicht für erfreulich halte und lieber über die Zukunft sprechen würde. Dass er trotz dieses - aus seiner Sicht unangenehmen - Beharrens seines Psychologen auf der Kindheit die Therapie fortsetzt, spricht für das ernsthafte Bestreben des Klägers, sein Leben zukünftig besser zu führen. Die positive Orientierung des Klägers kommt auch darin zum Ausdruck, dass er in der mündlichen Verhandlung Zukunftspläne für eine Verbesserung der Lebensumstände seiner Familie geschildert hat. So ist der Erwerb eines Eigenheimes beabsichtigt. Dieser Plan erscheint deshalb nicht völlig unrealistisch, weil der Kläger - auf Bestreben seiner in finanziellen Dingen offenbar vernünftig handelnden Ehefrau - seine Überschuldung durch eine Privatinsolvenz bewältigen konnte. Mittlerweile ist Restschuldbefreiung mit Beschluss des Amtsgerichts E. vom 2. Juni 2014 eingetreten. Weiterhin ist deutlich geworden, dass der Kläger seine Ehefrau derzeit in Lebensbereichen unterstützt, die ihre Selbständigkeit stärken. So hat er mit sichtbarem Stolz davon erzählt, dass seine Ehefrau kürzlich ihren Führerschein gemacht hat und nunmehr auch über einen eigenen Gebrauchtwagen verfügt.

Insgesamt spricht die derzeitige Lebensführung des Klägers nicht dafür, dass vergleichbare Straftaten wie die am 24. Oktober 2009 begangene von ihm ernsthaft drohen. Nach Einschätzung der Einzelrichterin ist auch deswegen die erforderliche konkrete Wiederholungs- und Rückfallgefahr nicht gegeben. Diese Einschätzung wird im Gutachten des Dr. N. vom 25. September 2012 bestätigt. Hier wird nachvollziehbar dargelegt, dass im Fall des Klägers - u.a. aufgrund seiner grundsätzlich "kriminalprotektiven Persönlichkeit" und weil keine Gewalthandlungen aus seiner Vorgeschichte bekannt sind - ein individuelles Rückfallrisiko sehr gering ist. Die Stellungnahme seines behandelnden Psychologen unterstützt diesen Befund. Dieser sieht nur dann "in Zukunft deutliche Schwierigkeiten", wenn der Kläger wieder im größeren Maße Alkohol konsumieren würde.

Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass solche ungünstigen Einflüsse im Leben des Klägers in absehbarer Zukunft wieder Überhand nehmen werden, liegen nicht vor. Es spielt keine entscheidende Rolle, dass der Kläger in seinem Imbiss selbst Alkohol (Bier) ausschenkt. Die Einzelrichterin hält es im Fall des Klägers für unproblematisch, dass er beruflich mit Alkohol zu tun hat. Eine Begünstigung des privaten Konsums von Alkohol aus diesem Grund ist nicht zu erwarten. Der Kläger ist nicht von einer medizinischen Alkoholproblematik (Alkoholsucht) betroffen. Sein bisheriges berufliches Engagement zeugt von gewissenhafter Aufgabenerfüllung und einem beachtlichen Fleiß. Es ist daher mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger gerade in seiner Rolle als Imbissbetreiber nicht an einem geselligen Alkoholkonsum teilnehmen wird. Dass der Kläger teilweise noch Kontakte mit einem ehemaligen Mithäftling unterhält, hält die Einzelrichterin nicht für problematisch. Denn der Kläger hat seine Gewalttat nicht aus einem bestimmten kriminellen Milieu heraus begangen; der Mithäftling war nicht an der Tat des Klägers vom 24. Oktober 2009 beteiligt.

Andere Gründe für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegt kein Fall des § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG vor, wonach die Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen ist, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die Widerrufsvoraussetzungen dieser Norm sind unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie, ABl L 337 vom 20.12.2011, S. 9) auszulegen. Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505 [EuGH 02.03.2010 - Rs. C-175/08; C-176/08; C-178/08; C-179/08], [EuGH 02.03.2010 - Rs. C-175/08; C-176/08; C-178/08; C-179/08] noch zur vorangegangenen Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden. Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (BVerwG, Urteil vom 1.3.2012 - 10 C 7/11 -, juris m.w.N.).

Diese Widerrufsvoraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger ist als ehemaliger Widerstandskämpfer für die DKPI bzw. die KDPI von Verfolgung bedroht gewesen. Dies hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 21. November 2001 festgestellt. Diesen Feststellungen schließt sich das Gericht angesichts der im Wesentlichen widerspruchsfreien Schilderung seines Verfolgungsschicksals in der mündlichen Verhandlung an. Aufgrund der aktuellen Erkenntnislage ist nach wie vor davon auszugehen, dass Mitglieder und Sympathisanten der DKPI im Iran staatlich verfolgt werden und Repressalien bis hin zu Folter und Todesstrafe zu erwarten haben (Bericht des Danish Refugee Council/ Danish Immigration Service zum Thema "Iranian Kurds" vom 30.5.-9.6.2013, S. 17 ff.; ACCORD, Antwort auf Anfrage vom 23.5.2007 zur "Gefährdung von Kurden - insbesondere ehemaligen Aktivisten der Demokratischen Partei Kurdistan/Iran - bei Abschiebung in den Iran, ACC-IRN-5452; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.6.2013 - 22 K 2471/11.A -, juris m.w.N.). Es besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran als ehemals aktiver Peshmerga und weiterhin aktiver und registrierter Sympathisant der DKPI erneut mit Verfolgung zu rechnen hätte. Allein die Tatsache, dass seit seiner Flucht über ein Jahrzehnt vergangen ist, genügt nicht, um davon ausgehen zu können, dass der Kläger als eine der DKPI nahe stehende Person für den iranischen Geheimdienst oder die iranischen Sicherheitskräfte nicht mehr von Interesse ist.

Für andere Widerrufsgründe bestehen keine Anhaltspunkte.

Weil die Klage im Hauptantrag vollumfänglich erfolgreich ist, brauchen die Hilfsanträge nicht mehr geprüft zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.