Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.09.2000, Az.: L 4 KR 53/99
Kostenerstattung für ein Doppelschalensitzfahrrad für ein familienversichertes behindertes Kind; Selbstbeschaffung eines Hilfsmittels nach Ablehnung der Leistungsgewährung durch die Krankenkasse ; Versorgung mit Hilfsmitteln im Rahmen der Krankenbehandlung; Auslegung des Begriffs der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels im krankenversicherungsrechtlichen Sinne; Umfang der Grundbedürfnisse, die die Ausstattung mit einem Hilfsmittel rechtfertigen; Integration als Grundbedürfnis Behinderter
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 20.09.2000
- Aktenzeichen
- L 4 KR 53/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 15432
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2000:0920.L4KR53.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 15.02.1999 - AZ: S 2 KR 79/98
Rechtsgrundlagen
- § 13 Abs. 3 Alt. 2 SGB V
- § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V
- § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V
Fundstelle
- MedR 2001, 41
Prozessführer
A...,
die Eltern B...,
Prozessgegner
Deutsche Angestellten Krankenkasse, Nagelsweg 27-35, 20097 Hamburg,
Vorliegend wird darum gestritten, ob eine Krankenkasse, nachdem sie die beantragte Leistungsgewährung für die Anschaffung eines Doppelschalensitzfahrrades abgelehnt hat, die Kosten der nun selbstbeschafften Leistung zu erstatten hat.
Da sie die Erbringung dieser Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, ist die Krankenkasse zur Kostenerstattung im Ergebnis verpflichtet, nachdem das Gericht einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem Doppelschalensitzfahrrad bejaht hat.
Nachdem das Gericht das spezielle Fahrrad als Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V eingeordnet hat, beschäftigt es sich im Wesentlichen mit der Erforderlichkeit dieses Hilfsmittels. Insoweit ist ein Hilfsmittel nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist für das Gericht, dass hier ein Grundbedürfnis des schwerbehinderten Kindes erfüllt wird, denn das Doppelschalensitzfahrrad dient der Integration des jetzt zehnjährigen Klägers in den Kreis gleichaltriger Kinder und Jugendlicher, insbesondere seiner zwölf und sechs Jahre alten nicht behinderten Geschwister. Dass die soziale Integration in der jugendlichen Entwicklungsphase ein Grundbedürfnis ist, das die Ausstattung mit einem Hilfsmittel rechtfertigt, hat das BSG bereits entschieden.
Am Ende macht das Gericht darauf aufmerksam, dass es für das Ergebnis unerheblich sei, dass der Kläger auf Grund seines autistischen Syndroms in seiner Wahrnehmungsfähigkeit stark eingeschränkt und überwiegend in sich gekehrt ist. Dazu verweist der Senat auf die einschlägige Rechtssprechung, nach der ein Anspruch auf Vermittlung elementarer normaler Lebensbedürfnisse selbst dann besteht, wenn der Versicherte nicht in der Lage sein sollte, mit der Umwelt zu kommunizieren und äußere Eindrücke wahrzunehmen. Das Recht auf Teilhabe an elementaren menschlichen Lebensbedürfnissen besitzt jeder Mensch Kraft seiner Existenz. Wollte man dem Kläger dieses Recht absprechen, würde man ihn als Objekt behandeln.
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
ohne mündliche Verhandlung am 20. September 2000
durch
die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -,
den Richter Wolff und die Richterin Böhmer-Behr sowie
die ehrenamtlichen Richter Heise und Stiegen
für Recht erkannt:
Tenor:
Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung in Höhe von 6.508,48 DM für ein Doppelschalensitzfahrrad.
Der am 18. September 1990 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert. Er leidet unter einem autistischen Syndrom und habituellem Zehengang mit drohender Achillessehnenverkürzung. Er ist ua sprachbehindert und orientierungslos. Er ist ua mit Beinschienen als Gehhilfe versorgt. Der Kläger hat zwei 1988 und 1994 geborene Brüder.
Am 20. Oktober 1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten ein Doppelschalensitzfahrrad unter Vorlage einer Verordnung des D., Sozialpädiatrisches Zentrum im Kinderkrankenhaus auf der E., vom 06. Oktober 1997 und eines Kostenvoranschlages. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 31. Oktober 1997 ab, da die Versorgung mit dem behindertengerechten Fahrrad nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung falle. Es handele sich bei diesem Artikel um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Hiergegen erhob der Kläger am 17. November 1997 Widerspruch und legte eine Stellungnahme der Ärztin für Kinderheilkunde, F., Sozialpädiatrisches Zentrum Hannover, vom 20. November 1997 vor. Darin heißt es ua, dass das Schalen-Doppelfahrrad abgesehen vom therapeutischen Ansatz die Möglichkeit zur Reintegration, nämlich zur Teilnahme an Aktivitäten der Familie biete.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 1998 zurück. Sie führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass offen bleiben könne, ob es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele. Jedenfalls sei das begehrte Fahrrad nicht zur Krankenbehandlung erforderlich. Fahrradfahren gehöre grundsätzlich nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen, sondern stelle einen Bereich der eigenverantwortlichen privaten Lebensgestaltung dar. Es werde nicht verkannt, dass die Aktivität des Fahrradfahrens positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden und den Bewegungsablauf des Klägers habe. Das Doppelschalensitzfahrrad setze nicht bei der Behinderung selbst an, sondern lediglich bei deren Folgen und Auswirkungen in einem bestimmten Lebensbereich. Das Fahrrad sei auch sicherlich nicht die einzig denkbare Art, dem Kind die Reintegration zu ermöglichen bzw seinen Aktionsradius zu erweitern.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12. März 1998 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Er hat vorgetragen, dass das Doppelschalensitzfahrrad kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sei. Es sei speziell für die Bedürfnisse von Behinderten entwickelt worden und werde von insoweit nicht betroffenen Menschen nicht benutzt. Die besondere Konstruktion ermögliche es auch einem Behinderten, Fahrrad zu fahren. Das Doppelschalensitzfahrrad sei ua erforderlich, der Spitzfussentwicklung entgegenzuwirken. Der Kläger benötige es umfassend zur Integration in den Kreis gleichaltriger Kinder und Jugendlicher, insbesondere seiner nicht behinderten Geschwister. Auf Grund seiner Behinderung könne er nicht oder nur sehr eingeschränkt am üblichen Leben seiner Altersgruppe teilnehmen, wodurch ihm die Isolation drohe. Dies zu verhindern, sei ein elementares Bedürfnis, für das die gesetzliche Krankenversicherung einzustehen habe.
Im Juli 1998 hat der Kläger ein Doppelschalensitzfahrrad mit Zubehör zum Gesamtpreis von 7.208,48 DM erworben.
Das SG Hannover hat mit Urteil vom 15. Februar 1999 den Bescheid der Beklagten vom 31. Oktober 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 1998 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Vater des Klägers 6.508,48 DM auf Grund der Anschaffung eines Schalendoppelfahrrades gemäß Verordnung des D. vom 6. Oktober 1997 zu erstatten. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beklagte die Versorgung des Klägers mit einem Doppel-Schalenfahrrad zu Unrecht abgelehnt habe. Die Voraussetzungen des § 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - V Buch (SGB V) lägen vor. Ein Hilfsmittel sei dann erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Dazu zähle auch ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasse. Das Doppelschalensitzfahrrad sei für die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des Klägers erforderlich. Er verfüge zwar über einen Schienengehapparat, die Beklagte sei damit aber nicht ihrer Verpflichtung zur Versorgung mit Hilfsmitteln zur Befriedigung des Grundbedürfnisses auf Mobilität nachgekommen. Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hänge ua auch vom Lebensalter des Versicherten ab. Kinder bzw Jugendliche hätten in einer konkreten Entwicklungsphase einen verstärkten Bewegungsdrang, der soziale Kontakt mit gesunden bzw nicht behinderten Altersgenossen müsse aufrecht erhalten werden. Der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sei Rechnung zu tragen. Der Kläger sei auf Grund seiner Behinderung außer Stande, ein Dreirad oder ein Tandem allein zu bedienen. Allein das Doppelschalenfahrrad biete die Möglichkeit, ihn neben dem Fahrer zu platzieren und aktiv am Treten teilzunehmen. Damit sei zugleich klargestellt, dass das Fahrrad die Möglichkeit zur Reintregation in die Familie fördere.
Gegen das der Beklagten am 15. März 1999 zugestellte Urteil hat diese am 8. April 1999 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingelegt. Sie hat auf Urteile des Bundessozialgerichts vom 16. April 1998 - Az B 3 KR 9/97 R - und 16. September 1999 - B 3 KR 2/99 R - Bezug genommen und ausgeführt, dass das Doppelschalensitzfahrrad kein geeignetes und erforderliches Hilfsmittel sei. Es sei zweifelhaft, ob es vorwiegend für Kranke und Behinderte gedacht sei. Es sei vielmehr von einem allgemeinen Gebrauchsgegenstand auszugehen. Das Fahrzeug könne in vergleichbarer Ausstattung in Seebädern angemietet werden. Zudem sei es zu wuchtig und könne nicht von einem Kind allein bedient werden. Somit könne es nicht die Funktionen erfüllen, für die ein nicht behinderter Jugendlicher ein Fahrrad benutze. Es sei für die soziale Integration des Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger nicht geeignet und damit nicht erforderlich. Schließlich sei es auch nicht wirtschaftlich, denn der Behinderungsausgleich könne mit einem kostengünstigeren Hilfsmittel, wie einem Faltrollstuhl, erreicht werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 15. Februar 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass das Fahrrad in erheblichem Umfang genutzt werde. Als Hilfspersonen seien die Eltern des Klägers und zwei Geschwister vorhanden. Für ein achtjähriges Kind sei die Integration ein sehr wichtiger Faktor. Durch das Doppelschalensitzfahrrad werde seine Mobilität deutlich gesteigert und die Integration gefördert. Ein Faltrollstuhl sei vollkommen ungeeignet, den Zustand des Klägers zu verbessern.
Vor der Berichterstatterin des Senats hat am 24. Juli 2000 ein Erörterungstermin mit den Beteiligten stattgefunden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift der Sitzung verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte des ersten und zweiten Rechtszuges und den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) entscheiden.
Die gemäß § 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143 ff SGG statthafte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Zutreffend hat das SG entschieden, dass der Bescheid der Beklagten vom 31. Oktober 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 1998 aufzuheben ist und die Beklagte die Kosten für die Anschaffung des Doppelschalensitzfahrrades in Höhe von 6.508,48 DM zu erstatten hat.
Anspruchsgrundlage des Kostenerstattungsbegehrens ist § 13 Abs 3 zweite Alternative SGB V. Danach hat die Krankenkasse dem Versicherten die notwendigen Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, die diesem dadurch entstanden sind, dass die Kasse die Erbringung dieser Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Der Kostenerstattungsanspruch setzt voraus, dass zunächst die Ablehnung der Leistungsgewährung durch die Krankenkasse erfolgt ist und der Versicherte sich das streitbefangene Hilfsmittel erst danach selbst beschafft hat. Denn anderenfalls könnte die in § 13 Abs 3 zweite Alternative SGB V vorausgesetzte notwendige Kausalität zwischen der rechtswidrigen Ablehnungsentscheidung und dem Entstehen von Kosten des Versicherten nicht bestehen. Diesem Erfordernis hat der Kläger Rechnung getragen. Er hat das streitbefangene Hilfsmittel erst nach der Ablehnung der Beklagten mit Bescheid vom 31. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 1998 im Juli 1998 erworben.
Die Beklagte hat die notwendigen Kosten der selbstbeschafften Leistung zu erstatten, denn sie hat die Erbringung dieser Leistung zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit dem Doppelschalensitzfahrrad.
Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V ua die Versorgung mit Hilfsmitteln. Versicherte haben gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gemäß § 12 Abs 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 Satz 2 SGB V).
Diese Voraussetzungen des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V liegen hier vor.
Das Doppelschalensitzfahrrad ist nicht von der Regelung des § 34 Abs 4 SGB Vüber den Ausschluss von Heil- und Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenen therapeutischem Nutzen oder geringem Abgabepreis erfasst.
Bei dem Doppelschalensitzfahrrad handelt es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens iSd § 33 Abs 1 S 1 SGB V. Darunter fallen nur Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5; SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt oder hergestellt worden sind und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden, sind grundsätzlich nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Dies gilt selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet sind (zB Brille, Hörgeräte); denn Bewertungsmaßstab ist insoweit der Gebrauch eines Gerätes durch Menschen, die nicht an der betreffenden Krankheit oder Behinderung leiden. Umgekehrt ist ein Mittel auch trotz geringer Verbreitung in der Bevölkerung und trotz hohen Verkaufspreises als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen, wenn er schon von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke oder Behinderte gedacht ist (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 19).
Ein Doppelschalensitzfahrrad, wie es für den Kläger angeschafft worden ist, wird nicht allgemein im täglichen Leben verwendet und auch nicht üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt (vgl so bereits Urteil des LSG Niedersachsen vom 27. Mai 1998, L 4 KR 46/97, S 9, 10 zum Doppelschalensitzfahrrad). Es ist ua mit 4-Punkt-Gurten, Beingurten und Fußgurten ausgestattet, in denen der orientierungslose Kläger, bei dem die Gefahr besteht, dass er während der Fahrt vom Fahrrad springt oder sich hin und her wirft, festgeschnallt werden kann. Ein derartiges Fahrrad wird ausschließlich von Behinderten verwendet. Es wird üblicherweise nicht von Gesunden im Straßenverkehr benutzt. Das Doppelschalensitzfahrrad kann auf Grund seiner Funktionen für Behinderte nicht gegen ein demselben Zweck dienendes handelsübliches Fahrrad ausgetauscht werden und ist in seiner behindertenbezogenen Ausstattung auch nicht mit den in Seebädern für Vergnügungsfahrten verwendeten Fahrzeugen vergleichbar.
Es ist für den Kläger auch erforderlich im Sinne des § 33 SGB V. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu derartigen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen lebensnotwendigen Grundwissens und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst.
Krankenkassen müssen Hilfsmittel, die dazu dienen, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem oder wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bereich der Freizeitgestaltung zu beseitigen oder zu mildern, nicht zur Verfügung stellen. Insoweit ist der Begriff der Erforderlichkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne enger als im Sinne des § 13 Bundesversorgungsgesetz oder im Sinne des § 40 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 mwN). Nur mittelbar oder nur teilweise die Organfunktionen ersetzende Mittel werden lediglich dann als Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigen oder mildern und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 29; SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Dabei ist auf die Erforderlichkeit des Hilfsmittels im Einzelfall, dh auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27).
Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hängt ua auch vom Lebensalter des Betroffenen ab. Die Vermeidung einer Isolation durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Kommunikation älterer und behinderter Menschen ist ein elementares Bedürfnis, das die Eintrittspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung rechtfertigt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Bei Kindern und Jugendlichen zählt auch die Möglichkeit, spielen bzw allgemein an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil des sozialen Lernprozesses ebenso wie der Schulbesuch zu den Grundbedürfnissen, weil in diesem Lebensabschnitt davon entscheidend abhängt, ob gesellschaftliche Kontakte aufgebaut und aufrecht erhalten werden können. Die Einbeziehung eines behinderten Kindes in den Kreis der laufenden und Fahrrad fahrenden gleichaltrigen Jugendlichen (soziale Integration in der jugendlichen Entwicklungsphase) ist ein Grundbedürfnis, das die Ausstattung mit einem Hilfsmittel rechtfertigt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 3 S 27; BSG, Urteile vom 16. September 1999 - B 3 KR 2/99 und B 3 KR 9/98 R -).
Das Doppelschalensitzfahrrad dient der Integration des jetzt zehnjährigen Klägers in den Kreis gleichaltriger Kinder und Jugendlicher, insbesondere seiner zwölf und sechs Jahre alten nicht behinderten Geschwister. Es geht dem Kläger vorliegend nicht allein um das Zurücklegen längerer Wegstrecken und der Unternehmung von Ausflügen in die Umgebung - vergleichbar einem nicht behinderten Radfahrer -, sondern um die Möglichkeit zur Teilnahme an Aktivitäten mit anderen Kindern, insbesondere innerhalb der Familie. Nach den Auskünften des Vaters des Klägers im Erörterungstermin am 24. Juli 2000 wird das Doppelschalensitzfahrrad regelmäßig benutzt. Die Familie unternimmt auf diese Weise Fahrradtouren mit ihren drei Kindern und dabei auch gelegentlich mit Freunden der Geschwisterkinder. So hat der Vater als Beispiel geschildert, dass der ältere Sohn G. am Ende des Schuljahres eine Schulabschlussradtour mit seiner Schulklasse unternommen hat, an der alle Familienmitglieder und eben auch der Kläger teilgenommen haben. Damit wird durch das Doppelschalensitzfahrrad die soziale Integration des Klägers in die Familie gefördert, er wird in den Kreis etwa gleichaltriger Jugendlicher mit einbezogen und kann an der Lebensgestaltung seiner Geschwister und deren Freunde teilnehmen. Anderenfalls müsste er bei derartigen Unternehmungen der Familie mit einem Elternteil zu Hause bleiben. Das Fahrradfahren beschränkt sich somit nicht auf eine bloße Freizeitbetätigung, sondern gehört zu den Grundbedürfnissen auf soziale Integration.
Dabei ist es unerheblich, dass der Kläger auf Grund seines autistischen Syndroms in seiner Wahrnehmungsfähigkeit stark eingeschränkt und überwiegend in sich gekehrt ist.
Der Senat hat bereits für den Fall einer an einem posttraumatischen apallischen Syndrom Leidenden darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf Vermittlung elementarer normaler Lebensbedürfnisse selbst dann besteht, wenn der Versicherte nicht in der Lage sein sollte, mit der Umwelt zu kommunizieren und äußere Eindrücke wahrzunehmen. Das Recht auf Teilhabe an elementaren menschlichen Lebensbedürfnissen besitzt jeder Mensch Kraft seiner Existenz. Wollte man dem Kläger dieses Recht absprechen, würde man ihn als Objekt behandeln. Dies aber verstieße gegen die in Artikel 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) geschützte Menschenwürde, die jeder unabhängig von seiner Kommunikations- bzw Wahrnehmungsfähigkeit besitzt und die bei der Anwendung sowie Auslegung von Rechtsnormen zu beachten ist (Jarass/Pieroth, GG für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage 1997, Artikel 1 Rdnr 2 ff; LSG Niedersachsen, Urteil vom 12. Oktober 1994 - L 4 Kr 82/94 mwN).
Da es sich um die Erfüllung von Grundbedürfnissen handelt, kommt es hier nicht darauf an, ob das Hilfsmittel unmittelbar am Körper des Behinderten ausgleichend wirkt oder ob der Ausgleich auf andere Weise erzielt wird. Die Hilfsmitteleigenschaft hängt auch nicht davon ab, ob die ausgefallene Funktion - hier: das Gehen und Laufen - als solche ersetzt wird. Es genügt, dass ein Mittel Ersatz- oder Ergänzungsfunktion wahrnimmt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 mwN).
Der Hilfsmitteleigenschaft steht auch nicht entgegen, dass das Doppelschalensitzfahrrad von dem Kläger nur unter Einschaltung Dritter, hier in der Regel seines Vaters oder seines älteren Bruders, benutzt werden kann (vgl BSG, Urteil vom 8. Juni 1994 - 3/1 RK 13/93; LSG Niedersachsen, Urteil vom 27. Mai 1998 - L 4 KR 46/97).
Die Versorgung des Klägers mit dem Fahrrad entspricht auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Ein weniger aufwendiges Hilfsmittel stand unter Beachtung der Behinderung und der Lebenssituation des Klägers nicht zur Verfügung. Ein Handy-Bike oder ein Faltrollstuhl ist für den Kläger bereits deshalb nicht geeignet, weil er orientierungslos ist und ein derartiges Gerät nicht allein steuern oder fahren könnte. Ausweislich der Bescheinigung von Frau F. vom 20. November 1997 kann der Kläger auf Grund seiner Behinderung auch ein Dreirad allein nicht bedienen. Ein Tandem ist ebenfalls nicht geeignet, weil der Kläger auf Grund seiner Behinderung unberechenbar ist und die Gefahr besteht, dass er vom Fahrrad springt oder sich hin und her wirft, wenn niemand direkt neben ihm sitzt, der ihn beeinflussen kann, so dass die nötige Verkehrssicherheit nicht gewährleistet ist.
Die Gebrauchsvorteile sind für den Kläger als nicht unwesentlich einzustufen (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Da der Kläger bereits einen Eigenanteil in Höhe von 700,00 DM abgezogen hat (vgl dazu auch BSG SozR 3-2500 § 33), war die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.