Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 15.04.2016, Az.: 1 Ws 214/16

Befugnis des AG zur Vorlage der Akten nach § 209 Abs. 2 StPO an das LG nach Ablehnung einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.04.2016
Aktenzeichen
1 Ws 214/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 29702
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2016:0415.1WS214.16.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 17.02.2016 - AZ: 40 Qs 16/16

Fundstellen

  • NStZ-RR 2017, 20-21
  • R&P 2016, 277-278

Amtlicher Leitsatz

1. Nach der Ablehnung einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 419 Abs. 2 StPO wegen sachlicher Zuständigkeit des Landgerichts scheidet eine Vorlage der Akten durch das Amtsgericht an das Landgericht gemäß § 209 Abs. 2 StPO aus. Das Amtsgericht hat vielmehr immer dann, wenn es nicht sogleich das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht eröffnen kann, die Akten an die Staatsanwaltschaft zur dortigen eigenverantwortlichen Entscheidung über den weiteren Verfahrensfortgang zurückzureichen.

2. Die realistische Möglichkeit einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vermag Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO zu begründen und einen hierauf gestützten Haftbefehl gegen einen mutmaßlich schuldfähigen Beschuldigten grundsätzlich auch dann zu legitimieren, wenn die Voraussetzungen für eine einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO wegen derzeitigen Fehlens dringender Gründe für die Annahme einer Tatbegehung im Zustand zumindest verminderter Schuldfähigkeit nicht gegeben sind.

Tenor:

Die weitere Beschwerde wird auf Kosten des Angeschuldigten als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hannover erließ gegen den Angeschuldigten am 22. Dezember 2015 gemäß § 112 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StPO einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl (282 Ds 173/15) wegen dringenden Tatverdachts des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen sowie des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Der Beschuldigte befindet sich seither in Untersuchungshaft. Dem Haftbefehl liegt die Annahme dringenden Tatverdachts dahingehend zu Grunde, dass der Angeschuldigte am 21. Dezember 2015 in Hannover im unerlaubten Besitz von 40 Gramm Amphetamin war und dass er, während er von zwei Polizeibeamten an der Straßenbahnhaltestelle "B." in H. durchsucht wurde, sich gegen die Durchsuchung körperlich so heftig zur Wehr setzte, dass die beiden Polizeibeamten verletzt wurden, auf die parallel zur Straßenbahnhaltestelle verlaufende H. Straße gerieten und gegen ein dort fahrendes Kraftfahrzeug stießen.

Wegen dieser Vorwürfe erhob die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage gegen den Angeschuldigten und stellte einen Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach den §§ 417 ff. StPO. In der daraufhin anberaumten Hauptverhandlung am 12. Ja-nuar 2016 lehnte das Amtsgericht gemäß § 419 Abs. 2 StPO eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren ab, weil nach dem Dafürhalten des Amtsgerichts Anhaltspunkte dafür zu Tage getreten waren, dass eine Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB in Betracht kommt. Mit einem in der Hauptverhandlung am 12. Januar 2016 verkündeten Beschluss ordnete das Amtsgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Angeschuldigten an. Mit Verfügung vom 29. Januar 2016 beauftragte das Amtsgericht den Psychiater Dr. v. d. H. mit der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens über den Angeschuldigten zur Frage des Vorliegens der psychiatrischen Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63 und 64 StGB.

Gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Hannover vom 22. Dezember 2015 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses des Amtsgerichts Hannover vom 12. Januar 2016 legte der Angeschuldigte, vertreten durch seine Verteidigerin, am 26. Januar 2016 Beschwerde ein, der das Amtsgericht Hannover mit Entscheidung vom 11. Februar 2016 nicht abhalf.

Die Haftbeschwerde hat die 2. Strafkammer des Landgerichts Hannover mit Beschluss vom 17. Februar 2016 als unbegründet verworfen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeschuldigte mit seiner weiteren Beschwerde vom 11. März 2016. Das Landgericht hat der weiteren Beschwerde mit Entscheidung vom 8. April 2016 nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die weitere Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die weitere Beschwerde ist zulässig. Sie ist nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthaft.

Die weitere Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht Hannover hat die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Hannover vom 22. Dezember 2015 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses des Amtsgerichts Hannover vom 12. Januar 2016 zu Recht verworfen.

Der Angeschuldigte ist der im Haftbefehl bezeichneten Taten namentlich aufgrund der Angaben der geschädigten Polizeibeamten H. und O. sowie der Zeugin K. weiterhin dringend verdächtig.

Es besteht entgegen dem Beschwerdevorbringen des Angeschuldigten auch weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der Angeschuldigte ausweislich eines Vermerks der Polizeibeamtin PK'in R. vom 22.12.2015 - auch seinen eigenen Angaben zufolge - vor seiner Verhaftung in vorliegender Sache keinen festen Wohnsitz hatte. Zudem droht ihm wegen der verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe die Verurteilung zu einer längeren Freiheitsstrafe, die voraussichtlich über die vom Landgericht in seinem Beschluss vom 17. Februar 2016 genannte mehrmonatige Dauer deutlich hinausreichen dürfte und einen signifikanten Fluchtanreiz darstellt. Denn der Angeschuldigte ist vielfach vorbestraft, darunter auch einschlägig. Mit Urteil des Landgerichts Hannover vom 22. November 2007 wurde der Angeschuldigte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er voll verbüßte. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Hannover vom 30. März 2011 wurde der Angeschuldigte wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, die er ebenfalls voll verbüßte. Der Angeschuldigte wurde erst am 19. Juni 2015, also nur sechs Monate vor den hier verfahrensgegenständlichen Taten, aus der Strafhaft entlassen. Hinzu kommt, dass die dem Haftbefehl zu Grunde liegende Tat zum Nachteil der Polizeibeamten H. und O. auch deshalb als schwerwiegend zu qualifizieren ist, weil die Polizeibeamten im Zuge des Gerangels mit dem Angeschuldigten auf die vielbefahrene H. Straße gerieten und damit Gefahr liefen, von einem Kraftfahrzeug angefahren und schwer verletzt oder gar getötet zu werden. Angesichts der Höhe der Straferwartung, des Fehlens eines festen Wohnsitzes des Angeschuldigten sowie des Umstandes, dass besondere fluchthemmende Faktoren nicht ersichtlich sind, lässt auch die von der Verteidigerin des Angeschuldigten wiederholt vorgebrachte Bereitschaft der Mutter des Angeschuldigten, diesen im Falle einer Entlassung aus der Untersuchungshaft in ihre Wohnung aufzunehmen, den Haftgrund der Fluchtgefahr nicht entfallen.

Überdies steht - ohne dass dieser Umstand für den Senat entscheidend für die Feststellung der Fluchtgefahr war - ausweislich einer im Beschwerdeverfahren abgegebenen vorläufigen Stellungnahme des den Angeschuldigten begutachtenden Psychiaters Dr. v. d. H. eine Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB im Raum. Die realistische Möglichkeit einer - grundsätzlich unbefristeten - Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus stellt einen weiteren Fluchtanreiz dar und verstärkt damit die ohnehin gegebene Fluchtgefahr noch. Ohne Bedeutung ist insoweit entgegen dem Beschwerdevorbringen, dass sich der vorläufigen Stellungnahme des Psychiaters Dr. v. d. H. dringende Gründe für die Annahme einer Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus im Sinne des § 126a StPO nicht entnehmen lassen. Denn ein Haftbefehl nach § 112 StPO ist gegen einen mutmaßlich schuldfähigen Beschuldigten auch dann statthaft, wenn (auch) eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB in Betracht kommt (vgl. KK-StPO/Schultheis, 7. Aufl. 2013, § 126a Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 126a Rn. 2). Deshalb kann Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO grundsätzlich auch durch einen aus einer möglichen Unterbringung resultierenden Fluchtanreiz begründet werden, und zwar unter Umständen selbst dann, wenn (noch) keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass eine Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet werden wird.

Die Untersuchungshaft ist bereits angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Taten zum Nachteil der Polizeibeamten H. und O. und der Höhe der zu erwartenden Strafe auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich der Angeschuldigte mittlerweile seit fast vier Monaten in Untersuchungshaft befindet und Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zustand verminderter Schuldfähigkeit handelte, derzeit (noch) nicht unverhältnismäßig. Der Senat kann deshalb offen lassen, inwieweit die bloße Möglichkeit einer Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, die eine einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO nicht legitimieren kann, die Verhältnismäßigkeit von Untersuchungshaft zu stützen vermag.

Eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht festgestellt werden. Das Amtsgericht hat, nachdem sich in der Hauptverhandlung am 12. Januar 2016 die Notwendigkeit der Einholung eines psychiatrischen Gutachtens ergab, dieses alsbald in Auftrag gegeben. Das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft werden allerdings zur Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes darauf hinzuwirken haben, dass das beauftragte psychiatrische Gutachten, um dessen Erstellung innerhalb eines Monats ersucht worden war, nunmehr schnellstmöglich vorgelegt wird.

Auch haben das Amtsgericht und die Staatsanwaltschaft dafür Sorge zu tragen, dass eine gegebenenfalls angezeigte Anklageerhebung vor dem Landgericht wegen der fehlenden Kompetenz des Amtsgerichts zur Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB ohne zeitliche Verzögerung erfolgen kann. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass gemäß § 419 Abs. 3 StPO dann, wenn eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren abgelehnt worden ist und das Amtsgericht nicht sogleich das Hauptverfahren eröffnet, die Akten an die Staatsanwaltschaft zur dortigen eigenverantwortlichen Entscheidung über den weiteren Verfahrensfortgang zurückzureichen sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 419 Rn. 9; BT-Drucks. 12/6853, S. 36). Aus § 419 Abs. 3 StPO folgt, dass nach einem Ablehnungsbeschluss (§ 419 Abs. 2 Satz 1 StPO) das Gericht allein die Befugnis zum Erlass eines Eröffnungsbeschlusses hat, im Übrigen aber ein Zwischenverfahren nicht durchgeführt wird (vgl. LR-StPO/Gössel, Bd. 8, 26. Aufl. 2009, § 419 Rn. 39 f.). Damit scheidet auch eine Vorlage der Akten durch das Amtsgericht an das Landgericht gemäß § 209 Abs. 2 StPO nach Ablehnung einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren - mithin auch hier - von Rechts wegen aus.

Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1 StPO kommt angesichts der Höhe der Straferwartung und des Fehlens gewichtiger fluchthemmender Faktoren nicht in Betracht. Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO könnten der Fluchtgefahr nicht hinreichend entgegenwirken.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 Satz 2 StPO).