Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 31.01.2023, Az.: 1 B 240/22
auflösende Bedingung; ausländerrechtliche Duldung; Ermessensentscheidung; Keine aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nebenbestimmung in Duldung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 31.01.2023
- Aktenzeichen
- 1 B 240/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 10543
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2023:0131.1B240.22.00
Rechtsgrundlagen
- AufenthG § 60 a
- AufenthG § 61 Abs. 1 f
Amtlicher Leitsatz
Die einer Duldung beigefügte auflösende Bedingung Die Duldung erlischt am Tage der Abschiebung ist selbstständig anfechtbar. Die Anfechtungsklage hat keine aufschiebende Wirkung.
[Gründe]
Der Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung der Klage (1 A 239/22) gegen die Nebenbestimmung "Die Duldung erlischt am Tage der Abschiebung" in der ihm am 13. Oktober 2022 durch den Antragsgegner ausgestellten Duldung anzuordnen,
hat Erfolg.
1.a.
Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist vorliegend ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO statthaft. Die Klage gegen die streitgegenständliche Nebenbestimmung hat keine aufschiebende Wirkung, da es sich bei einer Duldung und einer dazu ergangenen Nebenbestimmung um eine Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung handelt. Der gegen eine Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung gerichteten Klage kommt nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit §§ 3 Abs. 1 Satz 3, 64 Abs. 4 Satz 1 NPOG keine aufschiebende Wirkung zu (so auch Nds. OVG, Beschluss v. 20. April 2022 - 13 PA 105/22 -, n. V.; VG Oldenburg, Beschluss v. 6. Januar 2011 - 11 B 371/10 -, juris Rn. 3; a. A. OVG Bremen, Beschluss v. 29. März 2011 - 1 B 57/11 -, juris).
1.b.
Der Antrag ist auch begründet. Die in materiell-rechtlicher Hinsicht im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO anzustellende Interessenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus. Nach der im vorläufigen Rechtsschutz allein vorzunehmenden summarischen Prüfung ist die isoliert angefochtene Nebenbestimmung in der dem Antragsteller am 13. Oktober 2022 ausgestellten Duldung voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zunächst geht die Kammer davon aus, dass die der Duldung beigefügte Nebenbestimmung isoliert anfechtbar ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, sind gegen belastende Nebenbestimmungen eines begünstigenden Verwaltungsakts grundsätzlich die Rechtsmittel des Widerspruchs und der Anfechtungsklage gegeben. Ob diese Rechtsmittel zur Aufhebung der Nebenbestimmung führen, hängt davon ab, ob der begünstigende Verwaltungsakt ohne die Nebenbestimmung sinnvoller- und rechtmäßigerweise bestehen bleiben kann. Das ist, sofern nicht eine isolierte Aufhebbarkeit von vornherein ausscheidet, eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit des Rechtsmittels (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2000 - 11 C 2.00 -, juris Rn. 25).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes kann die dem Antragsteller ausgestellte Duldung auch ohne die streitgegenständliche Nebenbestimmung "Die Duldung erlischt mit dem Tage der Abschiebung" - bei der es sich um eine auflösende Bedingung handelt - sinnvoll und rechtmäßig bestehen bleiben. Dafür spricht schon die Systematik des Gesetzes. Denn die Aufnahme einer Bedingung entspricht nicht dem gesetzlichen Regelfall aus § 60a AufenthG, sondern stellt vielmehr nach § 61 Abs. 1 f AufenthG eine Ausnahme dar, die im Ermessen der zuständigen Behörde steht. Gründe dafür, dass die dem Antragsteller ausgestellte Duldung zwingend nur mit der angegriffenen Nebenbestimmung bestehen bleiben kann und eine isolierte Aufhebbarkeit von vornherein ausnahmsweise ausscheidet, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Antragsgegner dem vorübergehenden Charakter der Duldung schon durch die Befristung bis zum 12. April 2023 Rechnung getragen, die neben der ausgesprochenen streitgegenständlichen Bedingung steht. Darüber hinaus hat die hier angegriffene auflösende Bedingung im Prinzip die Funktion einer Vorwegnahme des in § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG vorgesehenen Widerrufs der Duldung für den Fall des Wegfalls der der Abschiebung entgegenstehenden Gründe. Ein solcher Widerruf ist insgesamt selbstständig anfechtbar. Gründe dafür, dass für die Vorwegnahme des Widerrufs durch eine auflösende Bedingung etwas anderes gelten sollte, sind nicht ersichtlich. (vgl. OVG B-Stadt, Beschluss v. 29. März 2011, a. a. O., juris Rn. 8).
Die angefochtene Nebenbestimmung ist aller Voraussicht nach rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die Aufnahme der den Antragsteller belastenden Nebenbestimmung ist § 61 Abs. 1 f AufenthG. Danach können in einer Duldung weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden.
Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Duldung mit einer auflösenden Bedingung verknüpft werden kann. Dies darf jedoch nicht automatisch in jedem Fall geschehen, sondern steht nach § 61 Abs. 1 f AufenthG im pflichtgemäßen Ermessen der für die Duldung zuständigen Behörde. Die Verknüpfung einer Duldung mit einer auflösenden Bedingung entspricht nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie geeignet und erforderlich ist, den mit ihr verfolgten Zweck zu fördern, den Ausländer schon vor Ablauf der regulären Dauer der Duldung abschieben zu können, wenn die Abschiebungshindernisse weggefallen sind. Diese Voraussetzungen bedürfen - insbesondere im Hinblick auf die Widerrufsregelung in § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG - einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Die auflösende Bedingung ist beispielsweise nicht erforderlich, wenn eine Abschiebung vor Ablauf der Geltungsdauer der Duldung überhaupt nicht beabsichtigt ist (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 29. März 2011, a. a. O., juris Rn. 10, VG Stuttgart, Urteil vom 09. Februar 2012 - 11 K 2593/11 -, juris Rn. 17).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes erweist sich die angegriffene Nebenbestimmung nach summarischer Prüfung voraussichtlich als ermessensfehlerhaft. Vorliegend ist schon nicht erkennbar, dass der Antragsgegner sein pflichtgemäßes Ermessen überhaupt ausgeübt hat. Denn weder der Duldung selbst noch dem Verwaltungsvorgang sind Ermessenserwägungen seitens des Antragsgegners zu entnehmen. Dies verwundert umso mehr, da die Duldung von dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom 10. Oktober 2022 unter Hinweis darauf, dass der Antragsteller kürzlich einen Herzinfarkt erlitten habe und die Reisefähigkeit überprüft werden müsse, beantragt worden ist. Dieser Hinweis hätte den Antragsgegner veranlassen müssen, eine mögliche Reiseunfähigkeit des Antragstellers bei seinen Ermessenserwägungen hinsichtlich der Nebenbestimmung zu berücksichtigen. Insbesondere hätte geprüft werden müssen, ob überhaupt ein Abschiebungshindernis vorliegt und bejahendenfalls, ob dieses in dem Geltungszeitraum der Duldung entfallen könnte. Da keinerlei Anhaltspunkte für eine Ermessensbetätigung seitens des Antragsgegners ersichtlich sind, geht die Kammer vorliegend von einem Ermessensausfall aus, der nicht nach § 114 Abs. 2 VwGO geheilt werden kann, da das Ermessen vorliegend auch nicht auf Null reduziert war (Riese in: Schoch/Schneider, 43. EL August 2022, VwGO, § 114 Rn. 60, 61).
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, da der Antragsgegner in dem Verfahren vollständig unterlegen ist.
3.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 GKG. Die Kammer geht von der Empfehlung in Ziff. 8.3. des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus, nach der für die Duldung ein Streitwert von 2.500 Euro anzusetzen ist. Ist Streitgegenstand eine Nebenbestimmung zu einer Duldung, kann kein höherer Streitwert gelten. Der Betrag von 2.500 Euro wird im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Eilverfahrens halbiert (Ziffer 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 [abrufbar unter www.bverwg.de]).
4.
Da der Antragsteller vollständig obsiegt, hat er Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Eine kostenmäßige Beschränkung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO erfolgt vorliegend nicht, obwohl der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nicht im Gerichtsbezirk des entscheidenden Gerichts niedergelassen ist. In einem solchen Fall ist zwar regelmäßig eine kostenmäßige Beschränkung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO gerechtfertigt. Ausnahmsweise kann jedoch von einer solchen abgesehen werden, wenn das Verfahren eine besonders qualifizierte rechtliche Beratung erfordert, die nur ein in diesem Sinne auswärtiger Rechtsanwalt gewährleisten kann, oder wenn zu einem solchen auswärtigen Rechtsanwalt ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht (vgl. Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 141 m.w.N.). So liegt der Fall hier. Denn zwischen dem Antragsteller und seinem Prozessbevollmächtigten besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis, da der Antragsteller von seinem Prozessbevollmächtigten bereits in seinem Strafvollstreckungsverfahren betreut wird.