Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 23.09.2015, Az.: 5 A 42/15

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
23.09.2015
Aktenzeichen
5 A 42/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 32350
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2015:0923.5A42.15.0A

Fundstelle

  • NdsVBl 2016, 7

In der Verwaltungsrechtssache
XXX
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg, - C. -
Beklagte,
Streitgegenstand: Asyl, § 60 AufenthG, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 5. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 23. September 2015 durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Schlingmann-Wendenburg, die Richterin Hoke, den Richter am Verwaltungsgericht Brölsch sowie die ehrenamtlichen Richterinnen D. und E. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes vom 26.02.2014 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 1/3 die Beklagte zu 2/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Asylberechtigung an- bzw. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Kläger ist nach eigenen Angaben in der somalischen Stadt F. am G. geboren und aufgewachsen. Im April 2013 habe er nach seinen Angaben F. in Richtung Äthiopien verlassen. Nach einem 6 bis 7 monatigen Aufenthalt in Äthiopien sei der Kläger per Flugzeug in die Türkei, Istanbul eingereist. Von dort sei der Kläger per Flugzeug nach Kopenhagen und - nach 2 Tagen - per Zug weiter nach Deutschland, Hamburg gereist. Die Einreise sei nach eigenen Angaben am 03.12.2013 in die Bundesrepublik Deutschland erfolgt. Am 09.12.2013 stellte der Kläger einen Asylantrag. Die persönliche Anhörung beim Bundesamt erfolgte am 22.01.2014.

Darin gab der Kläger an, dass es mit der Familie seiner Frau Probleme gegeben habe. Er sei Mitglied eines Minderheitenclans, der H.. Er sei in F. aufgewachsen und habe dort 4 Jahre eine Privatschule besucht. Er habe keinen Beruf gelernt, sondern habe vielmehr als Friseur gearbeitet, zuletzt in seinem eigenen Laden in F..

Seine Frau gehöre einem sehr großen Clan in Somalia an, der I.. Sie seien in demselben Stadtteil in F. aufgewachsen.

Seine Frau und er hätten sich 2012 näher kennengelernt und seien eine Beziehung eingegangen. Dies sei aus Liebe geschehen. Man habe sich in unregelmäßigen Abständen in seinem Friseurladen getroffen, der nach Feierabend wie seine Wohnung gewesen sei. Am 05.02.2013 hätten sie geheiratet. Sie seien zu einem religiösen älteren Mann gegangen. Nur ein Freund des Klägers und eine Freundin der Frau seien dabei gewesen. Sie seien die Risiken und Gefahren im Zusammenhang mit einer Entdeckung bewusst eingegangen, da sie sich geliebt hätten. Die Frau sei im Februar 2013 von ihm schwanger geworden, was die Familie der Frau - als sie es herausfanden - sehr wütend gemacht habe. Auf näheres Befragen gab der Kläger an, dass die Familie nachgeforscht habe, zu welchem Clan er gehöre, um herauszufinden, mit wem seine Frau eine Beziehung unterhalte. Im April 2013 sei es zu einer Frühgeburt gekommen, bei der das Kind gestorben sei.

Einige Mitglieder der Familie seiner Frau (ca. 3) seien eines Tages in seinem Friseurladen gewesen, um ihn anzugreifen. Er habe kurz vorher durch das Fenster fliehen können. Die Angreifer hätten Kalaschnikows dabei gehabt. Schüsse seien nicht gefallen, da er von ihnen auf seiner Flucht nicht entdeckt worden sei. Die Angreifer hätten jedoch Gegenstände in seinem Laden zerstört, hauptsächlich die Spiegel. Er habe sich daraufhin zwei Wochen in der Wohnung seines Onkels versteckt und von seiner Mutter erfahren, dass man ihn - auch bei seiner Familie - suche und erschießen wolle, sobald er gefunden werde. Auch seine beiden in Amerika lebenden Onkel hätten davon gewusst. Man habe dann als Familie entschieden, dass er Somalia verlassen solle. Daher hätten auch seine beiden Onkel aus den USA, die von dem Vorfall im Friseurladen Kenntnis hatten - insgesamt 16.000,- $ für die Reisekosten gezahlt. Seine Frau habe er über seiner Ausreise erst informiert, als er bereits in Äthiopien angekommen sei. Für eine Ausreise auch seiner Ehefrau habe er zum damaligen Zeitpunkt keinen dringenden Anlass gesehen, da sie nicht so akut gefährdet gewesen sei wie der Kläger. Auch hätte das Geld dann wahrscheinlich nicht gereicht.

Bei einer Rückkehr in sein Heimatland befürchte er, dass die Familie seiner Frau ihn umbringen werde. Seine Frau habe ihm telefonisch mitgeteilt, dass auch sie sich mittlerweile vor ihrer eigenen Familie versteckt halten müsse und nur durch die Unterstützung eines Bekannten ihren Lebensunterhalt überhaupt absichern könne. Die Familie der Ehefrau mache sehr großen Druck wegen der Eheschließung.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 26.02.2014, dem Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde am 03.03.2014 zugegangen, lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab und drohte die Abschiebung nach Somalia an.

Als Begründung gab sie im Wesentlichen an, dass der Kläger zum einen keine Verfolgung im Sinne des § 3 AsylVfG geltend gemacht habe. Aufgrund der strengeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter sei somit nach Ablehnung des Flüchtlingsschutzes auch keine Anerkennung als Asylberechtigter anzunehmen.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Er habe eine begründete Furcht vor einer Verfolgung und einem ernsthaften Schaden nicht glaubhaft gemacht. Die vorgetragenen Szenarien seien lediglich allgemein geschildert worden. Zum Ablauf der angeblich fluchtauslösenden Ereignisse habe der Kläger nur sehr oberflächliche Angaben machen können. Den genauen Ablauf des Angriffs auf seinen Friseurladen und die anschließende Flucht habe der Kläger nicht detailliert schildern können. Die Angaben über den Angriff auf den Friseurladen wirkten realitätsfremd. Es sei nicht plausibel, warum er die Angreifer bereits habe sehen können und auch deren Bewaffnung bemerkt habe, die Angreifer ihn jedoch nicht bemerkt haben sollten und er unbemerkt habe fliehen können. Es sei weiterhin nicht nachvollziehbar, warum die Angreifer - bei einem entsprechenden Tötungswillen - den Kläger nicht weiter gesucht hätten, nachdem sie ihn im Laden nicht angetroffen hätten.

Der Sachvortrag des Klägers sei in weiteren Punkten widersprüchlich. Zum einen habe der Kläger zunächst angegeben, dass er in seinem Laden gearbeitet und gleichzeitig auch gewohnt habe, im Verlaufe der weiteren Anhörung jedoch angegeben, dass die Angreifer nach dem Friseurladen später auch noch einmal in seiner Wohnung gewesen seien. Weiterhin habe der Kläger im Rahmen der Beantwortung des Fragenkatalogs keine Angehörigen im Ausland benannt, obwohl er in der Anhörung angab, die Reisekosten von seinen in den USA lebenden Onkel gezahlt bekommen zu haben. Das in der Erstbefragung angegebene Datum des Hochzeitstages variiere gegenüber dem in der Anhörung genannten Tag. Angesichts der strukturlosen, detailarmen und widersprüchlichen Aussagen und der emotionslosen Darstellung könne die durch den Kläger geltend gemachte Bedrohung nicht glaubhaft dargestellt werden.

Auch drohten dem Kläger bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland keine Gefahren nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Er habe keine stichhaltigen Ausführungen gemacht, die zu der Schlussfolgerung führen könnten, er sei - anders als dies die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Herkunftsland erwarten ließen - dort nach seiner Rückkehr mittellos und völlig auf sich allein gestellt. Der Kläger habe nach eigenen Angaben noch zwei Schwestern, die Mutter und noch weitere Verwandte im Heimatland. Somit sei die Unterstützung durch die Familie bei einer Rückkehr nach Somalia grundsätzlich gewährleistet.

Mit Schriftsatz vom 05.03.2014, bei Gericht am 06.03.2014 per Fax eingegangen, hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt.

Zur Begründung führt er aus, seine Ehefrau und er hätten keinen Schutz in dem Mehrheitsclan der Ehefrau finden können. Somalia sei geprägt davon, dass die Führung durch starke Clans übernommen werde. Kleinere Clans könnten sich insbesondere gegenüber Übergriffen der J. nicht zur Wehr setzen. J. stelle die politisch dominierende Kraft dar und jeder, der sich außerhalb dieser Organisation - ohne unter dem Schutzschild eines Clans zu stehen - befinde, sei dem permanenten Risiko ausgesetzt, willkürlich zum Ziel der Islamisten zu werden. Er habe Somalia aufgrund bereits erlittener Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylVfG verlassen, sodass zu seinen Gunsten Beweiserleichterungen eingriffen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsse. Jedenfalls wäre subsidiärer Schutz zu gewähren, da in Somalia ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt bestehe, der in ganz Somalia dazu führe, dass ein derart hoher Gefahrengrad bestehe, dass jede dort anwesende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung in diesem Sinne ausgesetzt sei.

Weiterhin sei er auch aufgrund gefahrerhöhender Umstände in seiner Person einer individuellen Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ausgesetzt. Zwar habe es in jüngerer Zeit Rückkehrer nach Mogadischu gegeben, nachdem die radikalislamistische Opposition vertrieben worden sei. Die Mehrzahl dieser Rückkehrer dürfte jedoch vermögend sein und für sich die Möglichkeit für Geschäfte, politischen Einfluss sowie Posten sehen.

Er beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.02.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Somalia festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Verhandlungsniederschrift vom 23.09.2015 verwiesen.

Mit Beschluss vom 05.08.2015 hat die Kammer dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden, weil sie mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist in dem im Tenor genannten Umfang begründet.

Die Frage, ob im Hinblick auf den Reiseweg des Klägers über Dänemark nach den Vorgaben der VO (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin-II-Verordnung) ein anderer Mitgliedsstaat für die Bearbeitung des Asylbegehrens des Klägers vorrangig zuständig gewesen ist, kann die Kammer offen lassen. Denn indem die Beklagte nach einer Abfrage in der Datenbank für Fingerabdrücke (AFIS) mit negativem Ergebnis den Asylantrag des Klägers inhaltlich bearbeitet und sachlich beschieden hat, ohne ihre vermeintliche Unzuständigkeit zu thematisieren, hat sie jedenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung ausgeübt und ist so zum für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat geworden.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, da er über einen sicheren Drittstaat, hier Dänemark, in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 GG).

Der Kläger hat aber einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen.

Die erkennende Kammer glaubt dem Kläger auf der Grundlage seiner persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung sein asylrelevantes Kernvorbringen, wonach Familienangehörige seiner Ehefrau ihn in Somalia suchen und töten möchten, weil die Ehe zwischen ihm als Angehörigen des Minderheitenclans der H. und seiner Ehefrau, einer Angehörigen des Mehrheitsclans der I., nicht standesgerecht sei. Seine diesbezüglichen Angaben in der mündlichen Verhandlung sind glaubhaft und nachvollziehbar.

Der Vortrag des Klägers, der das Schicksal wie viele Asylbewerber nicht durch andere Beweismittel nachweisen konnte, ist gemäß dem Gebot der freien richterlichen Beweiswürdigung zu würdigen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es muss dabei von dem behaupteten individuellen Schicksal und der vom Asylsuchenden dargelegten Verfolgung überzeugt sein. Grundsätzlich müssen die die Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden, wobei für den Nachweis derjenigen Fluchtgründe, die ihren Ursprung im Heimatland des Asylbewerbers haben, in der Regel die Glaubhaftmachung genügt. Die freie richterliche Beweiswürdigung bindet das Gericht nicht an starre Regeln, sondern ermöglicht ihm, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Das Gericht darf hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, U.v. 16.04.1985 - 9 C 109/84 - BVerwGE 71, 180 ff.).

Zweifel an der vom Kläger angegebenen Herkunft aus F., Somalia bestehen nicht. Insbesondere konnte er in der mündlichen Verhandlung das Umfeld und Erlebnisse aus seiner Kindheit in F. detailreich schildern.

Vorliegend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, eine Frau eines Mehrheitsclans geheiratet zu haben, obwohl der Kläger selbst Mitglied eines Minderheitenclans ist.

Für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben spricht, dass er seine Situation bei seiner Anhörung durch die Beklagte als auch in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer im Wesentlichen gleichbleibend dargelegt hat. Er hat in der mündlichen Verhandlung ausführlich, detailliert und zum Teil auch unaufgefordert Erlebnisse aus F. sowie seiner Kindheit dort geschildert. Auch die Liebesbeziehung und Heirat mit seiner Frau sowie die zeitlichen Abfolgen konnte der Kläger glaubhaft schildern und Widersprüche ausräumen.

Die Verfolgung eines Mitgliedes eines Minderheitenclans durch Mitglieder eines Mehrheitsclans infolge einer Heirat mit einer Frau dieses Mehrheitsclans ist in Somalia weit verbreitet. Denn eine solche Heirat zwischen einem Mann eines Minderheitenclans und einer Frau eines Mehrheitsclans wird als sozial inakzeptabel angesehen (EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia - Country overview (Stand: August 2014), Seite 110).

Eine solche Verfolgung hat der Kläger durch die Übergriffe auf seinen Friseurladen bereits erfahren, welche er dem Gericht glaubhaft machen konnte.

Die von der Beklagten in ihrem Bescheid aufgezeigten Unklarheiten hat der Kläger bei seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt. Insbesondere ist es ihm gelungen, den Geschehensablauf verständlich zu schildern und dabei auch darzulegen, wie genau sich der Überfall auf den Friseurladen ereignet hat und wie ihm selbst die Flucht gelingen konnte. Dies tat er nicht, wie von der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid angegeben, emotionslos. Vielmehr war eine persönliche Betroffenheit des Klägers bei seinen Darstellungen wahrnehmbar.

Seine Angaben waren dabei sachlich und ohne erkennbare Tendenz, bestimmte Sachverhalte auszuschmücken oder in den Vordergrund zu rücken. Er hat auf zahlreiche und teilweise mehrfache Nachfragen des Gerichts ruhig und besonnen aber stets umfangreich und aufklärend geantwortet. Hierbei ist sein Vortrag - auch bei Nachfragen zum Randgeschehen - nicht inhaltlich dünner geworden.

Der Kläger konnte widerspruchsfrei angeben, dass Familienmitglieder seiner Frau mit Maschinenpistolen bewaffnet seinen Friseurladen gestürmt haben, um ihn umzubringen. Auch konnte der Kläger die von der Beklagten aufgezeigten Zweifel ausräumen, es sei unplausibel, warum er die Angreifer bereits habe sehen und auch bemerken könne, ohne von ihnen entdeckt zu werden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, von einem Freund vor dem unmittelbar bevorstehenden Angriff gewarnt worden zu sein und er so den Angreifern vor deren Eintreffen entkommen konnte. Dies steht auch nicht im Widerspruch mit den Angaben des Klägers im Anhörungsprotokoll. Vielmehr hat der Kläger bereits bei seiner Anhörung angegeben, dass "eine Person, die noch mit dabei war, gesagt hat, dass das Angehörige der Familie meiner Frau seien. Ich bin dann sofort geflohen." Dies zeigt, dass der Kläger bereits in seiner Anhörung angedeutet hat, seine Angreifer nicht unmittelbar wahrgenommen zu haben. Auch hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht, dass er aus dem Fenster seines Friseurladens gesprungen ist. Der Kläger hat dabei erläutert, dass sein Laden eher einer Blechhütte gleicht als einem Ladenlokal nach hiesigen Vorstellungen. Auch die Zweifel der Beklagten hinsichtlich der Wohnverhältnisse des Klägers konnte dieser in der mündlichen Verhandlung ausräumen. Er hat glaubhaft angegeben, dass der Laden für ihn überwiegend seine Unterkunft gewesen ist. In einem anderen Stadtteil von F. lebte jedoch seine restliche Familie, also seine Mutter und die Kinder seiner Schwestern, in einer festen Wohnung. Dort sei er aber nur gelegentlich gewesen.

Vor diesem Hintergrund ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG zuzuerkennen.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG ist ein Ausländer ein Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559, 560, Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a).

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegt, sind die §§ 3a ff. AsylVfG maßgebend, die die Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL) umsetzen.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind erfüllt. Insbesondere knüpft die vom Kläger geltend gemachte Verfolgung durch Familienmitglieder seiner Frau an ein Verfolgungsmerkmal im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG an. Denn die behauptete Verfolgungsfurcht beruht auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG, hier der Clanzugehörigkeit.

Die Zugehörigkeit zu einem Mehrheits- oder Minderheitenclan in Somalia stellt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG dar. Denn diese Zugehörigkeit hat regional einen besonders hohen Stellenwert und ist identifikationsstiftend (vgl. auch Hamb. OVG, B. v. 05.12.2008 - 5 Bf 45/07 -, Rn.28 mwN).

Eine Gruppe gilt nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG insbesondere dann als eine "bestimmte soziale Gruppe", wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem muss diese Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Dies ist hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan in Somalia der Fall. In Somalia beherrschen die Mehrheitsclans das gesellschaftliche Leben. Aufgrund des Bürgerkrieges besteht in Somalia kein funktionierendes Polizei- oder Justizsystem (Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Somalia vom 02.02.2015, S. 7). Schutz bieten lediglich die einflussreichen Clans. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor innerhalb der somalischen Nation. Das Clan-System ist für alle gesellschaftlichen Funktionen von Bedeutung, sogar für die Struktur der Regierung. Somalier kennen in der Regel genau ihre Stellung innerhalb des Clan-Systems, selbst im städtischen Umfeld von Mogadischu (vgl. EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia - Country overview (Stand: August 2014), Seite 45).

Die Zugehörigkeit zu einem Mehrheitsclan wird durch die familiäre Abstammung bestimmt, sodass ein Aufstieg von einem Minderheiten- in einen Mehrheitsclan nicht möglich ist. Die Mitglieder der Minderheitenclans weisen daher angeborene Merkmale auf, die nicht verändert werden können (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylVfG). Aufgrund der Bedeutsamkeit der Clanzugehörigkeit haben die Clans eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen werden (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylVfG; vgl. auch VG Regensburg, U. v. 22.06.2015 - RO 7 K 14.30492 -, abrufbar unter www.asyl.net, S. 3; a.A. VG Lüneburg, Urteil vom 16.07.2015 - 6 A 200/14 - n.v., m.w.N).

Die Verfolgungshandlung knüpft vorliegend auch an das asylerhebliche Merkmal der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG an. Denn der Kläger wird gerade als Angehöriger des Minderheitenclans aufgrund seiner nicht standesgemäßen Heirat mit einer Frau des Mehrheitsclans verfolgt. Bei einer Zugehörigkeit des Klägers zum Mehrheitsclan seiner Frau wäre er einer solchen Verfolgung nicht ausgesetzt gewesen. Insofern knüpft die Verfolgung nicht an die Heirat an sich und damit an ein nicht asylrelevantes Merkmal an, sondern an die Zugehörigkeit des Klägers zu einem Clan als sozialer Gruppe, also ein asylerhebliches Merkmal an.

Aufgrund der bereits erlittenen Vorverfolgung ist auch eine begründete Furcht des Klägers vor weiterer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG anzunehmen. Denn gem. Art. 4 Abs. 4 der QRL stellt die eigene Vorverfolgung ein wichtiges Indiz dafür dar, dass die Furcht vor der Verfolgung begründet ist.

Diese Verfolgungshandlung ging von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylVfG aus. In Somalia beherrschen - wie bereits ausgeführt - die Mehrheitsclans das gesellschaftliche Leben. Aufgrund des Bürgerkrieges besteht in Somalia kein funktionierendes Polizei- oder Justizsystem (Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Somalia vom 02.02.2015, S. 7). Schutz bieten lediglich die einflussreichen Clans (EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia - Country overview (Stand: August 2014), Seite 45). Die meisten Konflikte und Straftaten werden mithilfe des xeer geahndet, dem clangestützten Gewohnheitsrecht, in dem die Zahlung einer Entschädigung (diya oder mag) eine zentrale Rolle spielt (EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia - Country overview (Stand: August 2014), Seite 29). Akteure, die nach § 3d AsylVfG Schutz bieten könnten, sind - insbesondere für Mitglieder von Minderheitenclans, wie den Kläger - nicht vorhanden.

Aufgrund der noch anhaltenden Suche der Familienmitglieder seiner Frau droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr auch eine konkrete Lebensgefahr, da die Mitglieder des Clans seiner Ehefrau ihn weiterhin töten wollen. Der Kläger konnte dies durch die glaubhafte Angabe untermauern, dass sich mittlerweile auch seine Frau vor ihrer eigenen Familie versteckt halte.

Schließlich ist dem Kläger ein Ausweichen innerhalb Somalias nicht zumutbar (§ 3e AsylVfG, Art. 8 Abs. 1 QRL).

Ein Ausweichen innerhalb der Herkunftsregion ist unabhängig von der aktuellen Bewertung der dortigen Situation nicht möglich, da solche Gebiete ohne existenzielle Gefahren nicht zu erreichen sind. Wer durch Somalia reist, überquert häufig Frontlinien. Wer in Gebiete der J. ein- oder ausreist bzw. aus westlichen Ländern zurückkehrt, riskiert, als Spion verdächtigt zu werden, dem eine Enthauptung oder Hinrichtung droht (vgl. EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia S. 106, 113).

Einer Entscheidung über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bedarf es bei einer Flüchtlingsanerkennung nicht mehr. Die Abschiebungsandrohung ist aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Schlingmann-Wendenburg
Hoke
Brölsch