Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 08.10.2015, Az.: 6 B 540/15

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
08.10.2015
Aktenzeichen
6 B 540/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 32343
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2015:1008.6B540.15.0A

In der Verwaltungsrechtssache
XXX
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg, - C. -
Antragsgegnerin,
Streitgegenstand: Abschiebungsanordnung
- hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO -
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 6. Kammer - am 8. Oktober 2015 durch den Einzelrichter Beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.09.2015 (6 A 539/15) ist nach § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zulässig, aber unbegründet.

Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gemäß § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sind Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen.

Der Antrag ist nach der Zustellung der Bescheides gem. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG binnen einer Woche gestellt worden.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die mit dem angegriffenen Bescheid verfügte Anordnung der Abschiebung nach Schweden ist nicht anzuordnen.

Das Gericht darf bei seiner Entscheidung nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides anordnen, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gem. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vorgesehen ist (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 03.06.2014 - 6 B 165/14 -; VG Göttingen, Beschl. v. 08.05.2014 - 2 B 145/43 -, Rn. 14). Eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis sieht die Regelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut nach nicht vor. Die einschränkende Regelung in § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gilt nach ihrer systematischen Stellung nicht für Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen des Bundesamtes. Diese Auslegung wird auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt, aus denen sich ergibt, dass eine Initiative zu einer entsprechenden Ergänzung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG im Bundesrat keine Mehrheit gefunden hat. Dementsprechend hat das Gericht eine reine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers vorzunehmen. Diese Abwägung orientiert sich in der Regel an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Ist bei summarischer Prüfung der Sachlage offen, wie das Hauptsacheverfahren ausgehen wird, sind die wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung der Folgen, die die unterschiedlichen Entscheidungsalternativen haben, gegeneinander abzuwägen, um zu ermitteln, wessen Interesse für die Dauer des Hauptsacheverfahrens der Vorrang gebührt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl., Rn. 961 ff., 983 ff.).

Die Interessenabwägung fällt hier zugunsten der Antragsgegnerin aus. Nach summarischer Prüfung begegnet die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 15.09.2015 keinen rechtlichen Bedenken, weshalb die Klage im Hauptsacheverfahren voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird.

Denn der Asylantrag ist gem. § 27 a AsylVfG unzulässig. Ein Asylantrag ist danach unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier der Fall. Im vorliegenden Verfahren ist Schweden nach § 27 a AsylVfG i. V. m. Art. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (ABl. L 180 S. 31 - Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens bzw. des Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95/EU (Art. 2 h) zuständig. Der Antragsteller hat in Schweden einen Asylantrag gestellt, der offenbar schon abgelehnt worden ist (s. die Angabe des Antragstellers in der Anhörung vor dem Bundesamt, Bl. 102 BA A sowie den Bezug des schwedischen Migrationsverket (Swedish Migration Agency - Dublin Unit) auf Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO in der Antwort vom 15.09.2015 auf das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin. Nach Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO ist der für das Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zuständige Mitgliedsstaat verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedsstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.

Die Frist von sechs Monaten zur Übernahme des Antragstellers aus Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen.

Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben ohne Rückkehr in sein Heimatland Kosovo von Schweden nach Deutschland gereist, weshalb die Verpflichtung aus Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO nicht nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO erloschen ist.

Ein Zuständigkeitswechsel zur Antragsgegnerin ist nicht aufgrund von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO eingetreten. Nach dieser Bestimmung wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 EUGrdRCh mit sich bringen. Systemische Schwachstellen bzw. systemische Mängel können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EUGrdRCH bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus der Sicht des überstellenden Staates nicht unbekannt sein können, d. h. offensichtlich sein (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 et al. -, Rn. 94). Darauf, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war, kommt es im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin-III-VO nicht an. Individuelle Erfahrungen einer gegen Art. 4 EUGrdRCh verstoßenden Behandlung sind vielmehr in die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind, ob systemische Mängel im Zielland der Abschiebung des Antragstellers vorliegen. Nur in diesem begrenzten Umfang sind entsprechende Erfahrungen des Betroffenen zu berücksichtigen. Zu einer Beweislastumkehr für die Frage des Vorliegens systemischer Mängel führen sie hingegen nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B 35/14 -, Rn. 6).

Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das schwedische Asylsystem in diesem Sinn systemische Schwachstellen bzw. systemische Mängel aufweist (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 21.02.2014 - 7 B 26/14 -, v. 20.02.2014 - 8 B 40/14 - u. v. 10.02.2015 - 6 B 44/15; VG Magdeburg, Beschl. v. 10.03.2015 - 6a K 3465/14.A - Rn. 25 - 27; VG Stade, Beschl. v. 20.10.2014 - 3 B 1632/14 -; VG Lüneburg, Beschl. v. 20.10.2014 - 2 B 74/14 -; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 15.08.2014, - 6a L 1165/14.A -, ; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 30.07.2015 - 6a L 1582/15.A -, mit weiteren Nachweisen in Rn. 12). Im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Antragstellers hat die Antragsgegnerin in dem angefochtenen Bescheid zutreffend auf den mit Deutschland vergleichbaren medizinischen Standard in Schweden hingewiesen (S. 4 des Bescheides). Die unaufschiebbare medizinische Versorgung wird gewährt. Von dem den Asylbewerbern gewährten Taschengeld kann der Antragsteller die Kosten für das Medikament Pipamperon (ein Neuroleptika, s. den vorläufigen Entlassungsbrief des AWO Psychiatriezentrums D. vom 07.09.2015), die von dem Facharzt E., F., verordneten Medikamente oder eine vergleichbares Medikation decken.

Deshalb folgt ein Zuständigkeitswechsel auch nicht gem. Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 Dublin III-VO aus einer Verpflichtung zu einem Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Das danach bestehende Recht auf einen Selbsteintritt müsste zu einer Selbsteintrittspflicht verdichtet sein. Außergewöhnliche humanitäre (auch familiäre oder krankheitsbedingte) Gründe, die ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null zugunsten eines Selbsteintritts bewirken könnten, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Ein subjektives Recht auf einen Selbsteintritt nach dieser Vorschrift kommt - wenn überhaupt, was hier offen bleiben kann - auch nur in außergewöhnlichen Fällen, etwa bei einer Verletzung der EMRK bzw. im grundrechtlich geschützten Bereich (z. B. bzgl. Art. 4 EUGrdRCH) in Betracht (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Art. 17 Anm. K2 bis K3).

Da Schweden Asylbewerbern den erforderlichen medizinischen Mindeststandard bereitstellt, auch soweit besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen wie psychisch Kranker betroffen sind, und damit Art. 19 Abs. 2, 21, 22 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung) gerecht wird, kann der Antragsteller daraus im Hinblick auf Art. 17 Dublin III-VO keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland herleiten (die Richtlinie 2003/9/EG ist zum 19.07.2013 durch die o. g. Richtlinie ersetzt worden).

Der Antragsteller hat auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Schwedens glaubhaft gemacht. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Auch insofern ist auf das leistungsfähige Gesundheitssystem in Schweden zu verweisen, zu dem der Antragsteller Zugang haben wird.

Eine fehlende Reisefähigkeit ist derzeit nicht erkennbar und müsste im Falle der Abschiebung gegenüber der Ausländerbehörde geltend gemacht werden (s. § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Dazu gehört eine Suizidgefahr, welche in dem vorläufigen AWO-Entlassungsbericht vom 07.09.2015 ausdrücklich verneint wird (Entlassung in "stabilisiertem Zustand ohne Hinweise auf eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung"), nach dem Eindruck des Prozessbevollmächtigten aber besteht.

Das Grundrecht des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit verlangt, dass eine Abschiebung nur unter Wahrung seiner gesundheitlichen Belange erfolgt. Deshalb geht das Gericht davon aus, dass die Antragsgegnerin von sich aus veranlasst, dass vor Durchführung einer Überstellung nicht nur mögliche Vollstreckungshindernisse (wie die schon erwähnte Reisefähigkeit) überprüft und eventuell erforderliche Vorkehrungen getroffen werden, sondern dass auch alle relevanten Informationen - gegebenenfalls auch über besondere Bedürfnisse (einschließlich einer eventuell notwendigen medizinischen Versorgung) - an den Aufnahmestaat übermittelt werden, wie dies in Art. 31 und 32 der Dublin III-Verordnung ausdrücklich vorgesehen ist. Ohnehin ist es Sache der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Behörden, eventuellen Gesundheitsgefahren bei der Abschiebung angemessen zu begegnen, etwa durch die entsprechende Gestaltung der Abschiebung und Information des aufnehmenden Staates (vgl. VG Würzburg, Beschl. v. 06.07.2015 - W 6 S 15.50224 -, Rn. 24 m. w. N.).

Wenn auch nicht ausdrücklich gerügt, stellt das Gericht fest, dass die Entscheidung der Antragsgegnerin, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 12 Monate ab dem Tag der Ausreise zu befristen, rechtmäßig ist und folglich auch insofern nicht die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylVfG.

Dr. Struß