Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 21.11.2014, Az.: 1 B 1965/14

Nichtvorliegen systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren bei der Abschiebung eines Asylbewerbers mit seinen Kindern

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
21.11.2014
Aktenzeichen
1 B 1965/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 31443
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2014:1121.1B1965.14.0A

Amtlicher Leitsatz

Erfolgloser Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO gegen die Anordnung der Abschiebung einer Familie mit Kindern nach Italien im Dublin Verfahren

Tenor:

Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage im Hauptsachverfahren 1 A 1310/14 gegen Ziffer 2 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 10. Juli 2014.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg i. S. der §§ 166 VwGO, 114 ZPO hat. Zur näheren Begründung wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 166 VwGO, 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Gründe

Der nach § 80 Abs. 7 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthafte Antrag hat keinen Erfolg.

Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache jederzeit, d.h. ohne Bindung an Fristen, von Amts wegen oder - wie hier - gem. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf Antrag eines Beteiligten einen Beschluss über die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ändern oder aufheben. Das Verfahren trägt dem Umstand Rechnung, dass Veränderungen während des Hauptsacheverfahrens eintreten, auf die trotz Rechtskraft des Beschlusses zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes reagiert werden muss. Es dient nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung formell und materiell richtig ist. Maßgeblich ist somit eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung ist allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist. Soweit ein Beteiligter den Antrag stellt, kann der Antrag nur damit begründet werden, dass sich entscheidungserhebliche Umstände, auf denen die ursprüngliche Entscheidung beruhte, geändert haben oder im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemacht werden konnten (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO). Prozessrechtliche Voraussetzung für die Ausübung der dem Gericht der Hauptsache eröffneten Abänderungsbefugnis ist somit eine Änderung der maßgeblichen Umstände, auf die die frühere Entscheidung gestützt war. Liegt eine solche Änderung nicht vor, ist dem Gericht eine Entscheidung in der Sache verwehrt, weil sie auf eine unzulässige Rechtsmittelentscheidung hinausliefe (BVerwG, Beschluss vom 25. August 2008 - 2 VR 1.08 - ).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind vorliegend keine Veränderungen der für die Entscheidung maßgebenden Sach- oder Rechtslage ersichtlich, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden. Es steht immer noch fest, dass die Abschiebung der Antragsteller i.S. des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durchgeführt werden kann. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses bestehen nicht. Die gilt auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014 (Nr. 29217/12 - Tarakhel v. Schweiz), die nach dem ursprünglichen Gerichtsbeschluss vom 1. Oktober 2014 (1 B 1311/14) und der Entscheidung über den ersten Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 VwGO vom 22. Oktober (1 B 1676/14) ergangen ist. In dieser Entscheidung stellt der EGMR zunächst heraus, dass systemische Mängel im italienischen Asyl- und Aufnahmesystem nicht bestehen. Problematisch sind nach Auffassung des EGMR allerdings Kapazitätsengpässe, denen bei Kindern besonders Rechnung zu tragen ist. Der EGMR zieht daraus ausdrücklich nicht den Schluss, dass Familien mit Kindern wegen anderenfalls drohender Verstöße gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr nach Italien abgeschoben werden dürfen. Er fordert vielmehr, dass bei einer Abschiebung durch Einholung von individuellen Garantien ("individual guarantees", Rn. 122), die detailliert und zuverlässig Auskunft über die konkrete Aufnahmeeinrichtung, die tatsächlichen Aufnahmebedingungen und die Aufrechterhaltung des Familienverbundes geben ("detailed and reliable information concerning the specific facility, the physical reception conditions and the preservation of the family unit", Rn. 121), sichergestellt sein muss, dass die Betroffenen in einer Art und Weise behandelt werden, die dem Alter der Kinder entspricht ("the applicants would be taken charge of in a manner adapted to the age of the children", Rn. 121). Diese Voraussetzungen betreffen ersichtlich die konkrete Durchführung einer Überstellung. Dies geht aus der Forderung des EGMR nach detaillierten Auskünften über die konkrete Aufnahmeeinrichtung hervor. Denn diese muss erst benannt werden, wenn die Modalitäten der Abschiebung geklärt sind und ein Termin für die Ankunft der Betroffenen feststeht. Italien ist auch nach der Rechtsprechung des EGMR nicht gehalten, unbegrenzte und altersgerechte Aufnahmekapazitäten für Familien mit Kindern aller Altersgruppen vorzuhalten. Sichergestellt werden muss nach der Rechtsprechung des EGMR lediglich, dass bei Ankunft in Italien eine den Maßstäben des Art. 3 EMRK, wie der EGMR sie in seiner Entscheidung Tarakhel für Familien mit Kindern präzisiert hat, entsprechende Unterbringung tatsächlich gewährleistet ist. Das Gericht hat aufgrund der Auskunft der Antragsgegnerin vom 19. November 2014 keine Zweifel daran, dass die vom EGMR geforderten Standards bei einer Abschiebung der Antragsteller berücksichtigt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83 b AsylVfG.