Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.08.2009, Az.: 7 LA 43/08
Heranziehung aller für und gegen die Glaubwürdigkeit eines Asylbegehrenden und dessen Glaubhaftigkeit sprechenden Faktoren für die Gewinnung der gerichtlichen Überzeugungsgewissheit; Bewertung einer in sich nicht stimmigen Aussage eines Asylbewerbers zu seinem Verfolgungsschicksal dennoch als glaubhaft
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 06.08.2009
- Aktenzeichen
- 7 LA 43/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 22804
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2009:0806.7LA43.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 09.01.2008 - AZ: 7 A 2382/05
Rechtsgrundlagen
- § 108 Abs. 1 VwGO
- § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Zur Gewinnung der gerichtlichen Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 VwGO) sind alle Faktoren, die für und gegen die Glaubwürdigkeit des Asylbegehrenden sowie die Glaubhaftigkeit der von ihm geschilderten Geschehnisse sprechen, heranzuziehen.
Das Verwaltungsgericht kann eine in sich nicht stimmige Aussage eines Asylbewerbers zu seinem Verfolgungsschicksal, je nach der Art dieser Angaben, des Ausmaßes ihrer Widersprüchlichkeit sowie ihres Zustandekommens, als dennoch glaubhaft werten. Ebenso wenig ist es dem Verwaltungsgericht jedoch durch Beweisregeln verwehrt, in sich widersprüchliche Angaben eines Asylbewerbers auch bei Berücksichtigung seiner individuellen Fähigkeiten als nicht glaubhaft zu würdigen.
Bildung der gerichtlichen Überzeugungsgewissheit in Asylverfahren
Gründe
Der Antrag des Klägers,
die Berufung gegen das im Tenor genannte Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, mit dem seine auf Asylanerkennung und Feststellung von Abschiebungsverboten gerichtete Klage abgewiesen worden ist,
hat keinen Erfolg.
Der Rechtssache kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nicht zu. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargestellte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist (Nds. OVG, Beschl. v. 22.6.2009 - 7 LA 132/08 -, [...] m.w.N.). Dabei muss die im Zulassungsverfahren aufgeworfene Grundsatzfrage in dem angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (Nds. OVG, aaO, m.w.N.).
Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der vom Kläger als grundsätzlich und klärungsbedürftig bezeichneten Fragen, "... welche Anforderungen an die Genauigkeit eines Vortrages zu legen sind, wenn die Asyl beantragende Person zum Zeitpunkt der Vorkomnisse, die Anlass zur Flucht gaben, selbst minderjährig war" und "... in welchem Maße es sich auf die Glaubwürdigkeit einer Aussage auswirkt, wenn eine asylbeantragende Person zu dem Zeitpunkt der Ereignisse, die dem Asylantrag zugrunde liegen, die persönlichen und intellektuellen Voraussetzungen sowie die politischen Kenntnisse zur angemessenen Einschätzung einer Situation nicht hat oder nicht haben kann," nicht vor.
Die formulierten Grundsatzfragen zielen auf die Bewertung der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit von Schilderungen des Asylbewerbers, hier des im Jahr 1987 geborenen Antragstellers ivorischer Staatsangehörigkeit, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Dezember 2004 zu seinen Asylgründen angehört wurde, durch das Verwaltungsgericht. Die mit der Beurteilung der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit des Vorbringens von Asylbewerbern verbundenen grundsätzlichen Fragen sind in der Rechtsprechung indes seit langem geklärt (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 18.7.2001 - 1 B 118.05 -, [...]; Beschl. v. 3.8.1990 - 9 B 45.90 -, InfAuslR 1990, 344 f.; Beschl. v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349; Urt. v. 23.2.1988 - 9 C 273.86 -, [...]; Urt. v. 11.11.1986 - 9 C 316.85 -, [...]; Urt. v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180; BVerfG, Beschl. v. 2.10.2001 - 2 BvR 690/99 -, [...]; Beschl. v. 22.1.1999 - 2 BvR 86/97 -, InfAuslR 1999, 273 ff.; Beschl. v. 22.7.1996 - 2 BvR 1416/94 -, InfAuslR 1996, 355 ff.; Beschl. v. 12.3.1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, 231 ff.; Beschl. v. 29.1.1991 - 2 BvR 1384/90 -, InfAuslR 1991, 171, 175; Beschl. v. 29.11.1990 2 BvR 1095/90 -, InfAuslR 1991, 94, 96 ff.).
Die Verwaltungsgerichte haben nach dieser Rechtsprechung im Zuge der Würdigung und Abwägung aller Tatsachen auf ihren Aussage- und Beweiswert - selbstverständlich - auch Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand, Herkunft usw. derjenigen Personen zu berücksichtigen, auf deren Angaben und Informationen sie dabei zurückgreifen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.8.1990, aaO mwN). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Schilderungen ist vor dem Hintergrund der Person des Asylbegehrenden, seiner Wahrnehmungs- und Reflektionsfähigkeiten, seiner sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten, der Nähe zu den dargestellten Tatsachen, der psychischen Situation im Erlebniszeitpunkt und in der mündlichen Verhandlung sowie aller weiteren Faktoren, die für die Glaubwürdigkeit des Betreffenden und die Glaubhaftigkeit der von ihm geschilderten Geschehnisse sprechen, vorzunehmen. Dazu gehört - selbstverständlich - auch das Alter des betreffenden Asylantragstellers bei Erleben der geschilderten Situation wie im Zeitpunkt seiner Anhörung durch das Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung. Welches Ergebnis diese gebotene Berücksichtigung aller Umstände für die Würdigung der Glaubhaftigkeit der Angaben zu dem jeweiligen Verfolgungsschicksal hat, lässt sich nicht verallgemeinernd für jedwede Aussage eines jeden Ausländers sagen, sondern hängt von den - ausschließlich vom Verwaltungsgericht zu würdigenden - Verhältnisse des Einzelfalles ab. Das Verwaltungsgericht kann eine in sich nicht stimmige Aussage eines Asylbewerbers zu seinem Verfolgungsschicksal, je nach der Art dieser Angaben, des Ausmaßes ihrer Widersprüchlichkeit sowie der Art ihres Zustandekommens als dennoch glaubhaft werten. Ebenso wenig ist es dem Verwaltungsgericht durch Beweisregeln verwehrt, in sich widersprüchliche Angaben eines Asylbewerbers auch bei Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse als nicht glaubhaft zu würdigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.8.1990, aaO mwN). Darüber hinausgehende, verallgemeinerungsfähige Aussagen lassen sich nicht treffen. Die konkrete Würdigung des Vorbringens des Asylbegehrenden stellt sich vor diesem Hintergrund als Frage des Einzelfalles dar, so dass eine - von der Prozessbevollmächtigten des Klägers erwartete - weitergehende Klärung im Hinblick auf die von ihr formulierten Grundsatzfragen nicht möglich erscheint.