Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 16.10.2002, Az.: 3 B 3364/02

Aufenthaltsgestattung; Duldung: Rücknahme; räumliche Beschränkung; Rückkehrverpflichtung; unmittelbarer Zwang; Verlassenspflicht

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
16.10.2002
Aktenzeichen
3 B 3364/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43694
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Aufgrund unvollständiger Angaben (parallel laufendes Asylverfahren) erlangte Duldungen können sofort vollziehbar gemäß § 48 AsylVfG zurückgenommen werden; Rechtsbehelf ist der Widerspruch.

2. Die Rückkehrverpflichtung (in ein anderes Bundesland) nach § 36 AuslG aufgrund der fortwirkenden Aufenthaltsbeschränkung der Aufenthaltsgestattung auch nach Abschluss des Asylverfahrens kann durch unmittelbaren Zwang vollstreckt werden.

Gründe

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Der sinngemäß gestellte Antrag der Antragsteller,

2

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Juli 2002 hinsichtlich der angedrohten „Abschiebung“ aus Niedersachsen in den Kreis M.—L. (Nordrhein-Westfalen) wiederherzustellen bzw. anzuordnen, hat keinen Erfolg.

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Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VWGO trifft die Kammer aufgrund summarischer Prüfung eine eigene Ermessenentscheidung. Wesentlich für die insofern zu treffende Abwägung zwischen dem privaten Suspensivinteresse der Antragsteller und dem öffentlichen Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin ist die Prüfung, ob sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig erweisen wird.

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Es liegt auf der Hand, dass der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Juli 2002 offensichtlich rechtmäßig ist.

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Die Antragsgegnerin hat die formalen Voraussetzungen gemäß § 80 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO eingehalten. Sie hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung ihrer Entscheidung über die Rücknahme der den Antragstellern letztmalig unter dem 16. Mai 2002 (bis zum 15. November 2002) erteilten Duldungen für die Antragsteller hinreichend ausführlich und individuell auf den Einzelfall bezogen begründet.

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Infolge der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Rücknahme der den Antragstellern erteilten Duldungen hat der Rechtsbehelf der Antragsteller, die von der Antragsgegnerin insoweit darüber belehrt wurden, dass zulässiger Rechtsbehelf der Widerspruch ist, keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Wegen Wegfalls der Grundlage für den Aufenthalt im Bereich der Antragsgegnerin bzw. des Landes Niedersachsen besteht für die Antragsteller die sofort vollziehbare Pflicht zum Verlassen dieses Bereichs nach § 36 AuslG. Die angekündigte Durchsetzung der Verlassenspflicht mit unmittelbarem Zwang (vgl. § 59 AsylVfG) ist gemäß §§ 64, 70 Nds. Gefahrenabwehrgesetz (NGefAG) von Gesetzes wegen sofort vollziehbar. Obwohl gemäß § 71 Abs. 3 AuslG gegen die Versagung einer Duldung kein Widerspruch stattfindet, ist nach Auffassung der Kammer diese Regelung eng auszulegen, so dass für den Fall der Rücknahme einer Duldung gemäß § 48 Verwaltungsverfahrengesetz (VwVfG) das von den Antragstellern eingeleitete Widerspruchsverfahren zwingend ist.

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Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der den Antragstellern erteilten Duldungen durch die Antragsgegnerin gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG liegen vor und sind von der Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid zutreffend dargestellt worden. Insbesondere bestreiten die Antragsteller auch in diesem gerichtlichen Verfahren nicht, dass sie unter Angabe von (wohl) unzutreffenden Identitäten im Oktober 1998 in B. einen Asylantrag gestellt haben und daraufhin dem Landkreis M.-L. zugewiesen worden sind, wo ihnen Aufenthaltsgestattungen erteilt wurden. Gleichwohl haben sich die Antragsteller unter Angabe ihrer (wohl) zutreffenden Personalien bereits im Dezember 1998 noch während des laufenden Asylverfahrens als Flüchtlinge bei der Antragsgegnerin gemeldet und dort (jeweils verlängerte) Duldungen erhalten, ohne gegenüber der Antragsgegnerin darzulegen, dass sie bereits (vorrangige) Aufenthaltstitel in Gestalt der Aufenthaltsgestattungen wegen der laufenden Asylverfahren besaßen. Die erteilten Duldungen waren von Anfang rechtswidrig, denn für die ausländerrechtliche Bearbeitung der Angelegenheiten der Antragsteller, die auch nach rechtskräftigem Abschluss ihrer Asylverfahren weiterhin verpflichtet waren und sind, sich im Landkreis Minden-Lübbecke aufzuhalten, war und ist aufgrund der gemäß § 44 Abs. 6 AuslG fortgeltenden räumlichen Beschränkungen der Aufenthaltsgestattung (vgl. §§ 55, 56 AsylVfG) die dortige Ausländerbehörde zuständig (vgl. § 63 Abs. 1 AuslG). Die Erteilung der Duldungen durch die Antragsgegnerin war mithin rechtswidrig.

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Die Antragsgegnerin verweist aus den eingangs genannten Gründen auch zu Recht darauf, dass wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 VwVfG sich die Antragsteller nicht auf Vertrauensschutz berufen können. Unabhängig davon, ob die Antragsteller gegenüber den Mitarbeitern der Antragsgegnerin die Erteilung der Duldungen durch arglistige Täuschung gemäß § 48 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 VwVfG erwirkt haben, wofür wegen ihres unmittelbar auf die Asylantragstellung folgenden Vorgehens einiges spricht, haben sie jedenfalls die Erteilung der Duldungen durch Angaben erwirkt, die in wesentlicher Beziehung unvollständig waren (§ 48 Abs. 2 S.2 Nr. 2 VwVfG), denn die Antragsteller haben gegenüber den Bediensteten der Antragsgegnerin unvollständige Angaben hinsichtlich ihres ausländerrechtlichen Status gemacht. Es musste ihnen auch klar sein, dass diese Angaben über die ihnen bereits erteilten Aufenthaltsgestattungen von elementarer Bedeutung im Zusammenhang mit der Vorsprache bei der Antragsgegnerin waren. In diesem Zusammenhang gewinnt die Angabe der Antragsteller in ihrer Petition vom 12. Juli 2002 an den Niedersächsischen Landtag wesentliche Bedeutung, der zu Folge sie nämlich aufgrund der katastrophalen Verhältnisse in der Gemeinschaftsunterkunft in E. nach G. gegangen seien. Aufgrund der umfassend im Asylverfahren erteilten Belehrungen musste ihnen von vornherein klar sein, dass sie nicht einfach den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung und die ihnen zugewiesene Unterkunft verlassen durften, um einen Aufenthaltsort ihrer Wahl aufzusuchen. Im Übrigen spricht Überwiegendes dafür, dass sie bewusst und gezielt die entsprechenden Angaben über das bereits laufende (und am 3. Juli 2000 negativ abgeschlossene) Asylverfahren, das sie mit falschen Identitätsangaben betrieben haben, unterlassen haben.

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Hat mithin die Antragsgegnerin die von ihr rechtswidrig erteilten Duldungen wirksam zurückgenommen, so sind die Antragsteller gemäß § 36 AuslG i. V. m. § 44 Abs. 6 AuslG verpflichtet, den Teil des Bundesgebiets (nämlich das Gebiet der Antragsgegnerin bzw. des Landes Niedersachsen, in dem sie sich ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde einer räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten) unverzüglich zu verlassen. Die Rückkehrverpflichtung der Antragsteller ergibt sich aus dem allgemeinen Grundsatz, dass derjenige, der einen rechtswidrigen Zustand geschaffen hat, zu dessen Beseitigung verpflichtet ist vgl. BVerwG, Urt. v. 31.03.1992 – 9 C 155.90 -, NVwZ 1993, 276, 277). Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Antragsgegnerin diese Verlassenspflicht festgestellt und zugleich die Durchsetzung dieser Verlassenspflicht gemäß § 70 Niedersächsisches Verwaltungsvollstreckungsgesetz (NVwVG) i. V. m. §§ 59 Abs. 1 AsylVfG, 64 ff. NGefAG durch unmittelbaren Zwang angedroht und inzwischen vollzogen (vgl. zur Zulässigkeit der Durchsetzung der Verpflichtung zum unverzüglichen Umzug mit Mitteln des Verwaltungszwangs: VG Göttingen, Beschl. v. 29.04.1994 – 3 B 3220/94 -, Nds. Rpfl. 1994, 284, 285; Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 26 AuslG, Rn. 3, § 50 AsylVfG, Rn. 32 m. w. N., § 59 AsylVfG , Rn. 2 ff.). Die Auswahl des Zwangsmittels, dessen Androhung und die Fristsetzung begegnen im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken. Zu Recht weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass die Antragsteller ohnehin zum Verlassen des Bundesgebietes verpflichtet sind und sich nicht auf einen dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet, wo auch immer, einrichten konnten und können. Aus den Verwaltungsvorgängen ist ersichtlich, dass die Antragsgegnerin den Antragstellern bereits unmittelbar nach Kenntnisnahme von der Doppelidentität und entsprechenden Ermittlungen bei der Ausländerbehörde des Kreises M.-L. am 3. Juli 2002 davon Kenntnis gegeben hatte, dass sie sich bis zum 1. August 2002 in den Bereich der Ausländerbehörde des Landkreises M.-L. zu begeben haben. Die gemäß der angefochtenen Verfügung vom 19. Juli 2002 letztlich verbleibende Frist bis zum 31. Juli 2002 ist nur als Bestätigung dieser ersten Fristsetzung zu verstehen. Die Antragsteller konnten sich mithin rechtzeitig darauf einrichten, zur Herstellung rechtmäßiger Zustände ihrer Verlassenpflicht bis zum Ende des Monats Juli 2002 nachkommen zu müssen. Angesichts des Beginns des neuen Schuljahres erscheint es auch angezeigt, den Wohnortwechsel bis zu diesem Zeitpunkt zu veranlassen, um den betroffenen, teilweise schulpflichtigen Antragstellern einen Schulwechsel mitten im Schuljahr zu ersparen. Letztlich bestehen aber auch keine rechtlichen Bedenken gegen die Erwägung der Antragsgegnerin, dass sie durch bisher getätigte Aufwendungen in Höhe von 71.651,02 Euro (zzgl. Krankenhilfe) Sozialhilfeleistungen an die Antragsteller erbracht hat, obwohl diese verpflichtet waren, sich im Kreis M.-L. aufzuhalten, der dann auch für die Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes hätte aufkommen müssen.

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Auch im Übrigen ergibt sich weder aus dem Vorbringen der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren noch im Rahmen der von ihnen eingereichten Petition an den Niedersächsischen Landtag vom 12. Juli 2002 irgendein Gesichtspunkt, der sowohl die Durchsetzung der Verlassenspflicht gemäß § 36 AuslG als auch die erfolgte Fristsetzung als unverhältnismäßig oder unangemessen erscheinen ließe. Auch hinsichtlich des Antragstellers zu 5. ist nicht ersichtlich, dass die im Rahmen des Petitionsvorbringens behauptete Verlobung dazu führen könnte, dass für ihn die Rückkehr in den Kreis M.-L. unzumutbar wäre.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Der Wert des Streitgegenstandes bestimmt sich gemäß § 20 Abs. 3 i. V. m. § 13 Abs. 1 S. 1 VwGO, wobei die Kammer aufgrund des Gesichtspunktes der Vorwegnahme der Hauptsache eine Reduzierung der Streitwerte in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht für angemessen hält. Angesichts des im Wesentlichen gleichen Sachverhalts geht die Kammer analog der Rechtsprechung für die Erteilung von Duldungen davon aus, dass für den Antragsteller zu 1. ein Wert des Streitgegenstandes von 2.000,00 Euro und für jeden weiteren Antragsteller von je 600,00 Euro (3/10 des Ausgangsstreitwerts) anzusetzen ist.