Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.04.2017, Az.: 3 A 219/16
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 10.04.2017
- Aktenzeichen
- 3 A 219/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 53865
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 75 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei einer Nichtentscheidung des Bundesamtes über einen Asylantrag ist die Untätigkeitsklage als Bescheidungsklage zulässig und dem Gericht ein "Durchentscheiden" verwehrt.
Tatbestand:
Die Kläger begehren von der Beklagten eine Entscheidung über ihre bislang noch nicht beschiedenen Asylanträge.
Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige und reisten am 10. Mai 2015, zusammen mit dem Ehemann der Klägerin zu 1. und Vater der Kläger zu 2. bis 4., in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Am 21. Mai 2015 wendeten sie sich an die Landesaufnahmebehörde in I., um einen Asylantrag zu stellen. Am 3. Juni 2015 wurden sie der Stadt J. zugewiesen, was dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (im Folgenden: Bundesamt) durch die Landesaufnahmebehörde am 15. Juni 2015 mitgeteilt wurde. Nach einem Vermerk (wohl) des Bundesamtes vom 11. Juni 2015 habe eine Antragstellung in K. durchgeführt werden sollen.
Nachdem ihnen zum Stellen von Asylanträgen keine Gelegenheit gegeben worden war, erhob der Ehemann der Klägerin zu 1. am 26. Oktober 2015 vor dem Verwaltungsgericht L. Klage gegen die Beklagte, mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, über sein Asylverfahren binnen drei Monaten zu entscheiden (Az. 3 A 127/15). Am 14. Dezember 2015 konnten die Kläger und der Ehemann der Klägerin zu 1. dann Asylanträge stellen und am 19. April 2016 erfolgten ihre Anhörungen durch das Bundesamt.
Nachdem über ihre Asylanträge nicht entschieden wurde, haben die Kläger haben am 7. November 2016 (Untätigkeits-)Klage erhoben.
Mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 5. Dezember 2016 hat das Gericht die Beklagte zu einer Entscheidung über den Asylantrag des Ehemanns der Klägerin zu 1. - in dem dortigen Verfahren (Az. 3 A 127/15) - binnen drei Monaten verpflichtet.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten, über das Asylverfahren der Kläger binnen drei Monaten zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
das Verfahren auszusetzen und eine angemessene Frist für die Entscheidung festzusetzen.
Das Bundesamt beabsichtige, die älteren noch anhängigen Verfahren bis Ende des ersten Halbjahres 2017 weiter zu bearbeiten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten (allgemeine Prozesserklärung der Beklagten vom 26.02.2016) gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Die Unterlassung der Entscheidung über das Asylbegehren der Kläger ist rechtswidrig und verletzt sie jeweils in ihrem Recht auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag in angemessener Frist aus Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2013/32 (Asylverfahrensrichtlinie n.F., nachfolgend AVRL n.F.) i.V.m. Art. 16a Abs. 1 GG, § 113 Abs. 5 Satz 1, Satz 2 VwGO.
Maßgeblich ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Sach- und Rechtslage.
Die Klage ist als Bescheidungsklage zulässig, weil dem Gericht bei Fehlen eines zu-reichenden Grundes für die Untätigkeit der Behörde wegen der asylverfahrensrechtlichen Besonderheiten mangels Spruchreife (§ 113 Abs. 5 VwGO) verwehrt ist, in der Sache „durchzuentscheiden“ (VG Düsseldorf, Urt. v. 24.01.2017 - 17 K 7856/15.A -, juris Rn. 39 ff.; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 05.12.2016 - 3 A 127/15 -, juris; VG Düsseldorf, Urt. v. 21.10.2016 - 17 K 3177/15.A -, juris Rn. 44; VG München, Urt. v. 30.11.2016 - M 17 K 16.32034 -, juris Rn. 11; VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 23.09.2016 - A 1 K 2611/16 -, juris Rn. 15; VG Aachen, Urt. v. 13.09.2016 - 4 K 820/16 -, juris Rn. 15: VG Stuttgart, Urt. v. 23.03.2016 - A 12 K 439/16-, juris Rn. 17; VG Hannover, Beschl. v. 11.01.2016 - 7 A 5037 -, Rn. 15 ff.; VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris Rn. 43 ff.; wohl auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30.12.2015 – 5 A 2202/15.A –, juris Rn. 10, 14; a.A. Bay. VGH, Beschl. v. 07.07.2016 - 20 ZB 16.30003 -, juris Rn. 12 ff.). Das Gericht würde anderenfalls eine Verwaltungstätigkeit ersetzen, müsste ggf. eine Anhörung gem. § 25 AsylG selbst durchführen und dem Kläger würde damit letztlich auch das Verwaltungsverfahren genommen (VG Hannover, Beschl. v. 11.01.2016 - 7 A 5037 -, juris Rn. 15), das einem Asylsuchenden, insbesondere nach der Asylverfahrensrichtlinie ((EG) 2005/85 bzw. (EU) 2013/32), gerade besondere Verfahrensrechte einräumt (VG Düsseldorf, Urt. v. 21.10.2016 - 17 K 3177/15.A -, juris Rn. 58 ff.; VG Stuttgart, Urt. v. 23.03.2016 - A 12 K 439/16 -, juris Rn. 17; VG München, Urt. v. 08.02.2016 - M 24 K 15.31419 -, juris Rn. 23; a.A. Bay. VGH, Beschl. v. 07.07.2016 - 20 ZB 16.30003 -, juris Rn. 18). Insoweit der Bayerische Verwaltungsgerichtshof demgegenüber maßgeblich darauf abstellt, dass das asylrechtliche Verfahren keiner der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannten Ausnahmefällen vom Grundsatz der herbeizuführenden Spruchreife zuzuordnen sei (Bay. VGH, Beschl. v. 07.07.2016 - 20 ZB 16.30003 -, juris Rn. 13; zweifelnd wohl Bay. VGH, Beschl. v. 13a ZB 16.30411, juris Rn 3), ist ein weiterer, über die durch den Verwaltungsgerichtshof angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 10, 202 [BVerwG 04.03.1960 - BVerwG I C 43.59]) hinausgehender Ausnahmefall gegeben, bedingt durch die Weiterentwicklung des Asylverfahrensrechts. So hat das Bundesverwaltungsgericht etwa auch seine bisherige Rechtsprechung zur Verpflichtung der Gerichte zum „Durchentscheiden“ bei einem Folgeantrag ausdrücklich aufgegeben und dabei unter anderem auch auf die stärkere Betonung des behördlichen Asylverfahrens sowie der hierfür in der für die EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Verfahrensrichtlinie enthaltenen, speziellen Verfahrensgarantien abgestellt und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als eine mit besonderem Sachverstand ausgestattete Fachbehörde gewertet (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 -, juris Rn. 17 ff.).
Die Zulässigkeit (BVerwG, Urt. v. 23.03.1973 - IV C 2.71 -, juris Rn. 25, 32 f.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.01.2016 – 7 D 11044/15 –, juris Rn. 2; VG Lüneburg, Urt. v. 27.05.2016 - 5 A 214/15 -, n.v.; Urt. v. 16.12.2015 - 6 A 322/15 -, n.v.; VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris Rn. 24; a.A. VG München, Urt. v. 30.11.2016 - M 17 K 16.32034 -, juris Rn. 15; Urt. v. 28.06.2016 - M 17 K 16.31334 -, juris Rn. 18; Urt. v. 08.02.2016 - M 24 K 15.31419 -, juris Rn. 28) einer Untätigkeitsklage setzt - neben dem Ablauf der drei-monatigen Sperrfrist, § 75 Satz 2 VwGO - nach § 75 Satz 1 VwGO voraus, dass über den Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist entschieden wurde. Rechtsfolge der unter Wahrung der Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO erhobenen Untätigkeitsklage ist nämlich mithin nur, dass das Gericht bei Vorliegen eines zureichenden Grundes für die bislang nicht erfolgte Bescheidung, die (noch) unzulässige Klage (a.A. Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Kommentar, 29. EL Oktober 2015, § 75 Rn. 7) nicht sofort wegen Unzulässigkeit abweisen kann, sondern nach § 75 Satz 3 VwGO das Verfahren unter Bestimmung einer angemessen Frist auszusetzen hat (OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.01.2016 - 7 D 11044/15 -, juris Rn. 2).
Bei der Klageerhebung am 26. Oktober 2015 waren bereits mehr als drei Monate seit dem Zeitpunkt vergangen, in dem das Bundesamt von dem Asylgesuch der Kläger vom 21. Mai 2015 Kenntnis erlangt hat, § 75 Satz 2 VwGO. Vorliegend ist - ausnahmsweise - nicht auf den Zeitpunkt der förmlichen Antragstellung am 14. Dezember 2015 abzustellen, sondern auf den Zeitpunkt, in dem das Bundesamt von dem gegenüber der Landesaufnahmeeinrichtung Friedland zum Ausdruck gebrachten Asylbegehren der Kläger Kenntnis erlangt hat (so auch VG Bremen, Urt. v. 12.01.2017 - 5 K 3131/16 -, juris Rn. 8; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 05.12.2016 - 3 A 127/15 -, juris; VG Aachen, Urt. v. 13.09.2016 - 4 K 820/16 -, juris Rn. 19, 28, 35; a.A. VG Stuttgart, Urt. v. 23.03.2016 - A 12 K 439/16 -, juris Rn. 23), mithin spätestens Mitte Juni 2015, weil die späte Antragstellung nicht in den Verantwortungsbereich der Kläger, sondern der Beklagten fällt, was insbesondere auch dadurch deutlich wird, dass bei der Landeaufnahmebehörde eine Außenstelle des Bundesamtes vorhanden ist, bei der der gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 AsylG förmliche Antrag hätte gestellt werden können. Würde in Fällen, in denen das Bundesamt einem Asylsuchenden eine förmliche Antragstellung (zunächst) - wie vorliegend über nahezu sieben Monate - verwehrt, die Frist des § 75 Satz 2 VwGO nicht beginnen, hätte das Bundesamt es in der Hand, eine Entscheidung über den Asylantrag hinauszuzögern (so auch VG Stuttgart, Urt. v. 23.03.2016 - A 12 K 439/16 -, juris Rn. 23), ohne dass der Betroffene den - ab einem gewissen Zeitpunkt - hierfür (eigentlich) über § 75 VwGO vorgesehenen Rechtsschutz in Anspruch nehmen könnte. Dies wäre mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) nicht zu vereinbaren (so auch VG Bremen, Urt. v. 12.01.2017 - 5 K 3131/16 -, juris Rn. 8; VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 05.12.2016 - 3 A 127/15 -, juris; VG Aachen, Urt. v. 13.09.2016 - 4 K 820/16 -, juris Rn. 20, 23).
Auch ein zureichender Grund für die bisherige Nichtentscheidung liegt nicht vor, § 75 Satz 1 VwGO. Soweit die Beklagte in ihrer Klageerwiderung ausführt, dass zunächst ältere noch anhängige Verfahren zu bearbeiten wären und damit wohl eine besondere Belastungssituation geltend machen will, kann dies zwar durchaus unter Umständen einen zureichenden Grund im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO darstellen (vgl. etwa Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Kommentar, 29. EL Oktober 2015, § 75 Rn. 8 m.w.N.), jedoch nicht für eine Nichtentscheidung über einen Zeitraum von nunmehr fast nahezu 22 Monaten. Angesichts des langen Zeitraums ist auch unerheblich, ob insoweit auf die Drei-Monats-Frist des § 75 Abs. 2 VwGO (vgl. VG Bremen, Beschl. v. 12.01.2017 - 5 K 3131/16 -, juris Rn. 10, 14), die Sechs-Monats-Frist des § 24 Abs. 4 AsylG (vgl. hierzu etwa VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris Rn. 30) oder eine 15- monatige Maximalfrist in bestimmten Fällen (vgl. hierzu VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 05.12.2016 - 3 A 127/15 -, juris Rn. 16; VG Düsseldorf, Urt. v. 24.01.2017 - 17 K 7856/15.A -, juris Rn. 31) abzustellen ist. Zudem dürfte es sich bei dem Arbeitsanfall aufgrund der hohen Zahl von Asylverfahren nicht mehr um eine vorübergehende Überlastung bzw. besondere Geschäftsbelastung einer Behörde handeln, die einen zureichenden Grund für eine Nichtbescheidung darstellen kann, sofern dies nicht auf einen strukturell bedingten Personalmangel zurückzuführen ist (VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris Rn. 33; VG Münster, Beschl. v. 21.09.2015 - 9 K 856/15.A -, juris Rn. 6; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Kommentar, EL Oktober 2014, § 161 Rn. 42; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar 20. Auflage 2014, § 75 Rn. 13), sondern um eine permanent erhöhte Belastungssituation (vgl. VG Bremen, Urt. v. 12.01.2017 - 5 K 3131/16 -, juris Rn. 13; VG München, Urt. v. 30.11.2016 - M 17 K 16.32034 -, juris Rn. 21).
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Beklagte mit Schreiben vom 5. Januar 2017 mitgeteilt hat, dass sie eine Prüfung der von den Klägern vorgelegten Ausweisedokumente veranlasst habe. Insoweit hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist es sonst ersichtlich, weshalb dies erfolgt ist und - soweit überhaupt erforderlich -, warum dies nicht schon früher veranlasst worden war.
Die Klage ist nach alledem auch begründet. Die Nichtbescheidung ohne zureichenden Grund ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Satz 2 VwGO. Sie haben einen Anspruch darauf, dass die Beklagte in angemessener Zeit über ihre Asylanträge entscheidet (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 23.03.2016 - A 12 K 439/16 -, juris Rn.16) aus Art. 31 Abs. 2 AVRL n.F. (vgl. VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 05.12.2016 - 3 A 127/15 -, juris; Urt. v. 16.12.2015 - 6 A 322/15 -, n.v.; VG München, Urt. v. 30.11.2016 - M 17 K 16.32034 -, juris Rn. 23; Urt. v. 08.02.2016 - M 24 K 15.31419 -, juris Rn. 33) i.V.m. Art. 16a Abs. 1 GG.
Die im Tenor festgesetzte Frist von (weiteren) drei Monaten ist, insbesondere unter Berücksichtigung der bisher bereits verstrichenen langen Zeitdauer von nahezu 22 Monaten, der bereits durchgeführten Anhörung der Kläger durch das Bundesamt sowie der in § 75 Satz 2 VwGO genannten Zeitspanne, zwar großzügig bemessen, aber noch angemessen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iV.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.