Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 16.11.2022, Az.: 3 A 11/20

Asylantragstellung; FLN; Ruanda

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
16.11.2022
Aktenzeichen
3 A 11/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59310
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Die am XX.XX.XXXX geborene Klägerin ist ruandische Staatsangehörige, vom Volk der Tutsi. Vor ihrer Ausreise lebte sie zwei Monate in Kigali, davor in Gihundwe. Am 07. Juni 2019 reiste sie mit einem Schengenvisum aus ihrer Heimat aus und am 09. Juni 2019, über die Niederlande kommend, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte sie am 14. Juni 2019 einen Asylantrag, zu dessen Gründen sie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 12. August 2019 angehört worden ist.

Zur Begründung ihres Antrags gab die Klägerin im Wesentlichen an, ihre Eltern zuletzt am 09. April 2019 gesehen zu haben. Diese seien jetzt in Kenia, wann sie dort angekommen seien, wisse sie nicht. Am 09. April 2019 sei sie mit einer Hausangestellten und ihrer jüngeren Schwester allein zu Hause gewesen. Es seien fünf Männer in das Haus gekommen und hätten sie befragt. Wenn sie keine Antworten gehabt habe, sei sie geschlagen worden. Sie sei dann entführt worden. Diese Männer seien in Zivil gewesen und aufgrund ihrer Fragen habe sie gedacht, dass sie von einer Sicherheitsagentur seien. Im April 2019 habe es Unruhen in der Nähe ihres Wohnorts in einem Wald namens Nyungwe gegeben. Die Oppositionellen hätten gesagt, sie hätten Unterstützer in der Nähe, u. a. ihre Eltern. Es hätten bei ihren Eltern auch Besprechungen stattgefunden. Sie sei gefragt worden, wie sie bei alldem beteiligt sei. Es habe aber weder eine Beteiligung ihrer Eltern noch ihrer selbst gegeben. Sie sei während ihrer Haft weiter befragt und misshandelt worden. Ihre Eltern seien nie politisch aktiv gewesen. Ihr Vater habe das Wasserunternehmen in Z. geleitet. Am 12. April sei sie in einem nahegelegenen Wald freigelassen worden. Sie sei dann zu ihren Nachbarn gegangen und die hätten gesagt, sie müsse jetzt gehen, die Polizei sei da gewesen. Sie sei dann zu einem Freund der Familie nach Kigali gegangen. In Kigali habe sie das Haus so gut wie nicht verlassen und sei von dort ausgereist.

Mit Bescheid vom 27.01.2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Asylanerkennung ab und lehnte es ebenfalls ab, ihr die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 Aufenthaltsgesetzes –AufenthG- nicht vorliegen. Sie forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss ihres Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Ruanda androhte. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen an, der Vortrag der Klägerin sei unglaubhaft. Es werde der konkrete Grund für ihre Verfolgung nicht sichtbar. Die Klägerin könne nicht angeben, wer der Verfolgungsakteur gewesen sei. Es werde auch nicht klar, ob die Verfolgung wegen einer Oppositionstätigkeit ihrer Eltern oder ihrer Mitwirkung in einer Organisation der Verfolgten des Völkermordes erfolgt sei. Es sei auch unklar, wie aus dieser Tätigkeit der Vorwurf erwachsen könne, Jugendliche aufzustacheln. Schließlich ein Indiz für die fehlende Verfolgung der längere Aufenthalt der Klägerin in Kigali vor ihrer Ausreise und der Erhalt eines Visums. Allein die Asylantragstellung in Deutschland sei nicht verfolgungsrelevant.

Hiergegen hat die Klägerin am 27. Januar 2020 Klage erhoben.

Zur Begründung dieser Klage tritt sie der Annahme, ihr Vorbringen sei unglaubhaft ohne Angabe von Einzelheiten entgegen. Sie wiederholt im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Anhörungsverfahren.

Sie befürchtet darüber hinaus, deshalb verfolgt zu werden, weil die bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge tätige Dolmetscherin eine Nähe zur ruandischen Regierung gezeigt habe. Sie sei auf einer regierungsnahen Veranstaltung, dem Ruanda Day am 05. Oktober 2019 auf dem Podium aufgetreten. Die Dolmetscherin heiße G. H. und sei Y. der ruandischen Gemeinschaft in Deutschland. Zusammenfassend habe sie bei einer gedachten Rückkehr Angst aufgrund ihrer Vorverfolgung, weiterhin im Fokus der Regierung zu stehen, weil ihr und ihren Eltern eine Nähe zur FLN vorgeworfen worden sei.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Januar 2020 zu verpflichten,

der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

weiter hilfsweise

festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG bezogen auf den Herkunftsstaat vorliegen.

Die Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Insbesondere trägt sie vor, es bestehe kein Anlass für die Annahme, die Dolmetscherin, bei der es sich um Frau H. gehandelt habe, habe tatsächlich Informationen hinsichtlich der Fluchtgeschichte der Klägerin an das Regime in Ruanda weitergegeben. Allein der Vorwurf, die Dolmetscherin habe der Regierung angeblich nahegestanden, reiche hierfür nicht aus.

Die Klägerin ist in mündlicher Verhandlung zu ihren Asylgründen informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Stadt C-Stadt Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch darauf, dass diese ihr die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie – (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 – 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet dabei die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Lässt der Kläger es an der Schilderung eines zusammenhängenden und in sich stimmigen, im wesentlichen widerspruchsfreien Sachverhalts mit Angabe genauer Einzelheiten aus seinem persönlichen Lebensbereich fehlen, so bietet das Klagevorbringen seinem tatsächlichen Inhalt nach keinen Anlass, einer daraus hergeleiteten Verfolgungsgefahr näher nachzugehen (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 – 9 B 405/89, juris Rn. 8). Es ist auch von Verfassungs wegen unbedenklich, wenn ein in wesentlichen Punkten unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen ohne weitere Nachfragen des Gerichts unbeachtet bleibt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, juris Rn. 14 ff.). Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 – 9 C 109.84, zitiert nach juris).

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Gemessen an diesen Vorgaben, steht der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zur Seite.

Anders als die Beklagte, ist das Gericht nach Anhörung der Klägerin in mündlicher Verhandlung davon überzeugt, dass ihr Vortrag glaubhaft ist und sie politisch verfolgt aus Ruanda ausgereist ist.

Sie hat inhaltlich konsistent und widerspruchsfrei, dabei sichtlich emotional betroffen, ohne dabei jedoch im Eigeninteresse zu übertreiben, geschildert, wie sie am 09. April 2019 zuhause überfallen und dann verschleppt worden ist. Sie konnte dem Gericht nachvollziehbar erklären, weshalb sie sich so genau an das genannte Datum erinnern konnte. Denn die nachfolgenden Erlebnisse prägen die Klägerin nach ihren Worten, aber auch nach ihrem gesamten Gestus bis heute. Sie ist dabei geblieben von fünf Männern in Zivil verschleppt und misshandelt worden zu sein. Es kann ihr dabei nicht entgegengehalten werden, es werde nicht deutlich, wer die Verfolgungsakteure gewesen seien und was der Verfolgungsgrund gewesen sei. Die Klägerin hat überzeugend dargelegt, dass sie mehr als die Zivilkleidung und die Zahl der Männer keine Angaben machen konnte, weil sich die Personen nicht ausgewiesen hätten. Es überzeugt jedoch, wenn die Klägerin aus den ihr gestellten Fragen den – naheliegenden – Schluss gezogen hat, dass es sich um Männer vom Geheimdienst gehandelt hat. Dass sie in der Anhörung den Begriff „Sicherheitsagentur“ gebraucht haben soll – was die Klägerin in Abrede nimmt – steht dem nicht entgegen. Ob der Begriff „Sicherheitsagentur“ oder, wie in der mündlichen Verhandlung, „Leute von den Sicherheitsbehörden“ benutzt wird, trägt für die Verfolgung und den Wahrheitsgehalt der klägerischen Aussage nichts aus. Die Klägerin ist nach ihrem sehr lebensnahen und emotionalen Vortrag während ihrer Haft von diesen Männern immer wieder nach dem Verbleib ihrer Eltern und ihrer eigenen Einbindung in die Geschehnisse gefragt worden; sie ist körperlich und seelisch während der Haft misshandelt worden, wenn und soweit sie Fragen nicht beantworten konnte. Besonders deutlich und lebensnah hat sie in der mündlichen Verhandlung ihr Gefühl geschildert, ihre Entführer hätten jederzeit ihr Leben in ihrer Hand. Das Gericht ist nach den überzeugenden Schilderungen der Klägerin davon überzeugt, dass es sich bei den Entführern der Klägerin und ihren Peinigern um Angehörige der staatlichen ruandischen Sicherheitsbehörden handelte.

Diese Verfolgung ist eine politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Gemäß § 3 b Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist unter politischer Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3 c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken und Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.

Gemessen daran handelt es sich um eine politische Verfolgung.

In der mündlichen Verhandlung ist, anders als noch bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, auch deutlich das politische Motiv für diese Verfolgung zu Tage getreten. Die Klägerin hat zunächst, wie auch bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt, darauf abgestellt, dass in der Nähe ihres Wohnortes due oppositionelle Guerillaorganisation FLN aktiv gewesen sei. Sie konnte nennenswerte Einzelheiten zu dieser Organisation schildern, was sie auf Nachfrage damit begründete, viel über diese Gruppe von ihren Eltern und von Freunden gehört zu haben. Sie berichtete nachvollziehbar, dass einige ihrer Freunde auch Kontakt zu dieser Guerilla gehabt hätten. Die Verfolgung stand damit zur Überzeugung des Gerichts nicht im Zusammenhang mit der ehrenamtlichen Tätigkeit der Klägerin und ihrer Eltern für die Überlebenden des Genozids, sondern im Zusammenhang mit dieser Oppositionsgruppe. Die Verfolger haben der Klägerin zugeschrieben, zu dieser Gruppe zu gehören, jedenfalls aber Informationen über sie zu haben. Dieser Verdacht liegt insofern nahe als die Klägerin von Freunden berichtete, die einen solchen Kontakt hatten. Auch der Umstand, dass im Haus der Klägerin bei ihren Eltern zahlreiche Menschen ein- und ausgegangen sind, lässt die Familie für Sicherheitsbehörden verdächtig erscheinen. Es sprich schließlich für den Wahrheitsgehalt des klägerischen Vortrags, dass sie – konsistent im ganzen Verfahren – weder ihre noch die Rolle ihrer Eltern in diesem Oppositionsgeschehen übertrieben dargestellt hat, um in einem für ihr Klagebegehren günstigeren Licht dazustehen. Letztlich konnte man der Klägerin in der mündlichen Verhandlung immer noch ihre Überraschung und ihr Unverständnis darüber ansehen, dass sie als Unbeteiligte in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten ist und ihr eine oppositionelle Betätigung unterstellt und zugeschrieben worden ist. Schließlich spricht auch die Ausreise mit einem Schengenvisum nicht gegen den Wahrheitsgehalt der klägerischen Aussagen. Die Kläger hat nachvollziehbar begründen können, wie sie in den Besitz eines solchen Visums gelangt ist.

Da die Klägerin vorverfolgt ausgereist ist, spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht wird. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Da die Vermutung nicht zu widerlegen ist, bzw. von der Beklagten nicht widerlegt worden ist (vgl. zu dieser Beweislastumkehr, Marx, Handbuch zur Qualifkationsrichtlinie, § 26 Rn. 82), ist davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion erneut verfolgt würde.

Die Klägerin muss zudem auch wegen der Stellung eines Asylantrags in Deutschland mit politischer Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr nach Ruanda rechnen. Zwar reicht die bloße Stellung eines solchen Antrags nicht aus für die Annahme, ein ruandischer Staatsangehöriger werde bei Rückkehr verfolgt. Im Fall der Klägerin treten jedoch die o.a. „qualitativen Umstände“ einer ihr zugeschriebenen oppositionellen Betätigung hinzu. Insoweit hat Nds. Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 14.03.2022 -4 LB 20/19-, juris Rn. 55 ff. überzeugend ausgeführt:

„Die beachtliche Wahrscheinlichkeit bzw. tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Verfolgung bei einer Rückkehr kann allerdings dann bestehen, wenn im Zusammenhang mit dem Asylgesuch weitere Umstände vorliegen, die den ruandischen Behörden zur Kenntnis gelangen und Anknüpfungspunkt für die Unterstellung einer regimekritischen Haltung durch staatliche Stellen Ruandas sein können. Derartige Anhaltspunkte können in einer exilpolitischen Tätigkeit des Asylbewerbers, in der Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei oder in regimekritischen Äußerungen sowohl im öffentlichen oder privaten Umfeld liegen. Dies schließt der Senat aus Folgendem:

Die Menschenrechtslage in Ruanda hat sich in den letzten Jahren mit der Konsolidierung der inneren Sicherheit zwar grundsätzlich verbessert, sie bleibt jedoch problematisch. Es gibt zahlreiche Fälle von Amts- und Machtmissbrauch, Einschränkungen der Meinungs-, Versammlungs-, Medien- und Vereinigungsfreiheit sowie der politischen Beeinflussung der Justiz (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ruanda, Stand: 26.6.2018, S. 11). Es kommt zu Verletzungen der Menschenrechte durch die Verhaftung und Misshandlung von politischen Gegnern, von Menschenrechtsaktivisten und von Einzelpersonen, welche nach Auffassung ruandischer Stellen eine Bedrohung für die staatliche Kontrolle und soziale Ordnung darstellen (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ruanda, Stand: 26.6.2018, S. 11). Nach dem Human Rights Report 2020 sind in Ruanda gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen in Form von rechtswidrigen oder willkürlichen Tötungen durch die Regierung; von willkürlichen Inhaftierungen; von politisch motivierten Repressalien gegen Personen, die sich außerhalb des Landes aufhalten; von willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in die Privatsphäre; von schwerwiegenden Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit, einschließlich von Gewaltandrohungen gegen Journalisten, Zensur und Sperrung von Websites sowie von erheblichen Eingriffen in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, p. 3).

Personen, deren Ansichten von den ruandischen Behörden als Kritik an der Regierungspartei, der Regierung oder ihrer Politik eingestuft werden, müssen mit Schikanen, Einschüchterung, strafrechtlicher Verfolgung und langen Gefängnisstrafen rechnen (Dr. Bognitz, Gutachten „Politische und staatliche Verfolgung rwandischer Dissidenten, Oppositioneller und Regierungskritiker im In- und Ausland als Ursache von Flucht und Migration seit 2010“, im Folgenden: Gutachten vom 9.2.2022, S. 6; Amnesty International, Ruanda 2019, Report vom 16.4.2020, S. 4; Dr. Hankel, Stellungahme an das VG Oldenburg vom 10.8.2013, S. 3 und an das VG Hannover vom 23.7.2018). Strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen werden unter anderem durch das gesetzliche Verbot von Hassreden und das Gesetz zur Ahndung der Leugnung des Genozids legitimiert, wobei sich nahezu jeglicher regierungskritische Widerstand als Verharmlosung des Genozids auslegen lässt (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 3 und S. 9). In der jüngeren Vergangenheit wurden vornehmlich Social Media Beiträge von jungen Aktivistinnen und Aktivisten wie Yvonne Idamange und Aimable Karasira unter Bezugnahme auf das Gesetz zur Ahndung der Leugnung des Genozids geahndet (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 8). Am 11. November 2021 wurde der bekannte Youtuber Dieudonné Niyonsenga unter dem Vorwurf von Fälschung, Identitätsdiebstahl und weiteren Straftaten zu sieben Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Seine Videos sind bekannt für die Anprangerung begangener Menschenrechtsverletzungen. So veröffentlichte Niyonsenga im April 2020 mehrere Videos, in denen er ruandischen Soldaten vorwarf, Menschen, die in Elendsvierteln lebten, im Zuge der Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie misshandelt zu haben (Bundesamt für Migration und Fremdenwesen, Briefing Notes vom 15.11.2021, S. 14). Am 30. September 2021 wurde die Youtuberin Yvonne Idamange zu 15 Jahren Haft und zu einer Geldstrafe von 2.000 USD verurteilt. Das Gericht befand sie in sechs Anklagepunkten für schuldig, darunter Anstiftung zu Gewalt und öffentlichen Aufständen, Verunglimpfung von Völkermordmahnmalen sowie Verbreitung von Gerüchten. Idamange warf auf ihrem Youtube-Kanal dem Präsidenten vor, eine Diktatur errichtet zu haben, den Völkermord von 1994 zu instrumentalisieren und den Opfern nicht ausreichend zu helfen sowie die entsprechenden Gedenkstätten zu Touristenattraktionen umzuformen (Bundesamt für Migration und Fremdenwesen, Briefing Notes vom 4.10.2021, S. 11). Laut Human Rights Watch haben die ruandischen Behörden im Jahr 2020 mindestens acht Personen bedroht, verhaftet oder strafrechtlich verfolgt, die auf YouTube über aktuelle Themen berichteten oder diese kommentierten (HRW, Rwanda: Arrests, Prosecutions over YouTube Posts, 30.3.2021). Anhand der dokumentierten Fälle der Verfolgung bzw. Verurteilung von Oppositionellen und Regierungskritikern zeigt sich, dass bereits niedrigschwellige Kritik oder das bloße Aufzeigen von Problemstellungen und Herausforderungen innerhalb des Landes durch ein unverhältnismäßig hohes Strafmaß geahndet werden (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 14).

Politisch motivierte Repressalien und Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Stellen Ruandas erfolgen auch gegen ruandische Staatsbürger, die sich außerhalb des Landes aufhalten (USDOS, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, p. 13). 2019 erließ die südafrikanische Regierung Haftbefehle gegen zwei Ruander, die des Mordes beschuldigt werden, weil sie 2014 den ruandischen Dissidenten Patrick Karegeya in einem Hotel in Johannesburg ermordet hatten. Medienberichten zufolge erklärte die südafrikanische Sonderermittlungseinheit in einer schriftlichen Stellungnahme, dass sowohl die Ermordung von Karegeya als auch der Mordversuch an dem ehemaligen Generalstabschef der Armee des Landes General Kayumba Nyamwasa in Südafrika, „direkt mit der Beteiligung der ruandischen Regierung in Verbindung stehen" (US-DOS, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, p. 13). Der Rwanda National Congress (RNC) – nach eigenen Angaben mit fünf Millionen Anhängern die mitgliederstärkste politische Oppositionspartei Rwandas, die sich aufgrund der nationalen Verfolgung politischer Oppositioneller in einer Reihe von Exilstaaten, vorranging Südafrika, aber auch im südlichen Afrika, den USA und in Ländern der EU verortet und von dort aus weltweit organisiert ist – sieht den sicheren Aufenthalt von Menschen ruandischer Herkunft im südlichen Afrika, vor allem Malawi, Mosambik, Südafrika und Botsuana, welche der oppositionellen Bewegung nahestehen, sich mit dieser identifizieren oder aktiv und öffentlich Oppositionsarbeit und -aktivismus ausüben, durch den Militäreinsatz der Rwanda Patriotic Front seit 2021 in Cabo Delgado, Mosambik als gefährdet an (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 6 f.).

Auch in Europa unterliegt die ruandische Diaspora einer staatlichen Kontrolle und Überwachung. Die Diaspora in Europa kann nach unterschiedlichen Migrationsgründen unterteilt werden: Ein Teil der Mitglieder der Diaspora in Europa hat Ruanda freiwillig, z.B. aus sozioökonomischen Gründen oder zu Ausbildungs- und Studienzwecken verlassen, andere Mitglieder mussten ihre Heimat unfreiwillig verlassen aufgrund der ethnischen und politischen Gewalt vor und nach dem Genozid 1994 und der (aktuellen) politischen Situation in Ruanda (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 5). Teile der Diaspora in Europa werden von der ruandischen Regierung anerkannt und in die anhaltende Friedenssicherung, Wahrheitsfindung und Versöhnung einbezogen und sind für die Entwicklung des Landes, z.B. durch Geldüberweisungen, Investitionen und Geschäftsbeziehungen oder Firmengründungen, von großer Bedeutung (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 5). Die regierungsnahen Angehörigen der Diaspora werden durch die ruandischen Botschaften und nationalen Diasporaverbände organisiert, mobilisiert und kontrolliert. Zu diesem Zweck erstellen und aktualisieren die Botschaften Datenbanken, welche detaillierte Informationen zu Aufenthaltsort, Adress-, Email- und Telefondaten beinhalten. Diese Listen sind zweckmäßig für die Mobilisierung der ruandischen Diaspora, aber auch um Informationen über etwaige politische Aktivitäten innerhalb der ruandischen Diaspora zu generieren und an die ruandischen Sicherheitsbehörden weiterzuleiten (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 5). Über Netzwerke der ruandischen Regierung werden auch die Teile der ruandischen Diaspora, die nicht der ruandischen Regierung nahestehen und den ruandischen Konsens teilen, sondern sich oppositionell organisieren, überwacht bzw. kontrolliert (vgl. die Niederschrift über die öffentliche Sitzung des 4. Senates vom 14. März 2022, Anlage „Anhörung der Sachverständigen Dr. Bognitz zu dem Gutachten „Politische und staatliche Verfolgung rwandischer Dissidenten, Oppositioneller und Regierungskritiker im In- und Ausland als Ursache von Flucht und Migration seit 2010“ vom 9. Februar 2022, im Folgenden Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, Seite 13 f.). Die Überwachung ruandischer Staatsangehöriger innerhalb der EU zeigt sich exemplarisch an den Fällen des Journalisten Jeam Bosco Gasasiram, einem ehemaligen Herausgeber der durch die ruandische Regierung geschlossenen Zeitung Umuvugizi, des Autoren und Menschenrechtsaktivisten René Mugenzi, des ehemaligen Leibwächters von Paul Kagame Noble Marara, der ein Buch über ihn veröffentlicht hat, sowie des Politikers Jonathan Musonera, einem Gründungsmitglied des RNC (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 11 f.).

Angehörige der ruandischen Diaspora geraten bei einer Rückkehr nach Ruanda in den besonderen Fokus der ruandischen Behörden und werden nach den Gründen ihres Auslandsaufenthalts befragt. Für ruandische Behörden ist es grundsätzlich von Interesse, was ein ruandischer Staatsbürger im Exil gemacht hat (Dr. Bognitz, Sachverständigen-anhörung vom 14.3.2022, S. 20). Ruandische Behörden und Sicherheitskräfte legen daher ein besonderes Augenmerk auf aus dem Exil zurückkehrende, vor allem politisch aktive ruandische Staatsangehörige (Amnesty International, Auskunft vom 29.1.2014 an das VG Hannover, S. 1). Bei der Einreise in das Land erfolgen Kontrollen durch die Grenzbehörden (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 20; Com-missariat Général aux Réfugiés et aux Apatrides (CGRA), COI Focus: RWANDA, Le traitement réservé par les autorités nationales à leurs ressortissants de retour dans le pays, 26 mars 2021, im Folgenden: CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 11). Ruander werden bei einer Rückkehr regelmäßig Befragungen über ihre Fluchtgründe unterzogen und es können Festnahmen und Inhaftierungen nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Braunschweig vom 23.8.2012, S. 2). Zum Teil werden aus den Angaben, die die Asylbewerber gemacht haben, Anschuldigen bis hin zu Anklagen konstruiert (Amnesty International, Auskunft an das VG Hannover vom 29.1.2014, S.2). Selbst wenn eine Befragung nicht am Flughafen in Kigali oder an anderen Grenzübertritten stattfindet, werden in der Regel entsprechende Nachforschungen bei einer Ansiedlung des Rückkehrers an einem bestimmten Ort erfolgen, da sich jede Person an den Orten, an denen sie sich länger aufhält, bei der dezentralisierten lokalen Verwaltungseinheit melden muss (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 21).

Aus der Überwachung und Kontrolle der Angehörigen der ruandischen Diaspora im Aus-land und bei einer Rückkehr nach Ruanda kann indes nicht geschlossen werden, dass einem Staatsbürger Ruandas, der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, bei einer Rückkehr nach Ruanda mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen, wenn allein der Umstand der Asylantragstellung im Ausland ruandischen Behörden durch Befragungen bekannt wird bzw. aufgrund der im Ausland erfolgten Überwachung der ruandischen Diaspora bereits bekannt ist. Die Flucht aus Ruanda stellt aus Sicht der Regierung zwar einen Ausdruck der Feindschaft gegenüber Ruandas Politik und Regierungsführung dar (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 4) und das Stellen eines Asylantrags wird als immanente Kritik an der Politik und/oder den Organen Ruandas verstanden (Dr. Hankel, Stellungnahme vom 10.8.2013, S. 3). Es lässt sich anhand der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel jedoch nicht feststellen, dass allein der „formale“ Aspekt der Beantragung von Asyl im Ausland und die aus Sicht ruandischer Stellen damit verbundene Kritik derart schwer wiegt, dass einem ruandischen Asylbewerber bei einer Rückkehr bereits deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a AsylG drohen.

Auch wenn die ruandische Regierung daran interessiert ist, innerhalb der internationalen Gemeinschaft ein positives Bild des „neuen Ruanda“, also des nach 1994 von der Ruandischen Patriotischen Front regierten Ruandas, aufrechtzuerhalten und kritische Stimmen - auch vereinzelte Stimmen - zu unterbinden (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 13), und vor diesem Hintergrund es nicht ausgeschlossen ist, dass ruandische Behörden im Einzelfall das Stellen eines Asylantrags im Ausland zum Anlass nehmen können, dies zu sanktionieren, besteht die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit bzw. tatsächliche Gefahr („real risk“) einer im Sinne des § 3a AsylG gravierenden Verfolgung nach Auswertung der zu Ruanda vorliegenden Erkenntnismittel nach Überzeugung des Senats jedoch erst dann, wenn zu dem „formalen“ Aspekt einer Asylantragstellung weitere „qualitative“ Umstände hinzutreten. Entscheidend sind daher – wie die Sachverständige Dr. Bognitz in der mündlichen Anhörung am 14. März 2022 nachvollziehbar ausgeführt hat – die inhaltliche Ebene und der Hintergrund des Asylgesuchs (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 12 ff.). Kritik an dem ruandischen Staat und den dortigen politischen Verhältnissen, die öffentlichkeitswirksam geworden ist, kann daher im Zusammenhang mit einem Asylgesuch zu einer relevanten Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr aus dem Exil führen. Dies belegen die in dem Gutachten von Frau Dr. Bognitz vom 9. Februar 2022 aufgezeigten Fälle der Überwachung und Bedrohung von ruandischen Staatsangehörigen in England und in Schweden, in denen sich der Betroffene - über eine Asylantragstellung hinausgehend - exilpolitisch engagiert bzw. sich öffentlichkeitswirksam kritisch gegenüber dem ruandischen Regime geäußert hat (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 11 f.). Darüber hinaus führt „sichtbare“ oppositionelle Tätigkeiten des Asylbewerbers zu einer signifikanten Erhöhung der Verfolgungsgefahr. Politisch motivierten Repressionen durch ruandische staatliche Stellen sind insbesondere ruandische Staatsbürger ausgesetzt, die einer oppositionellen Vereinigung wie dem RNC angehören oder nahestehen, sich mit dieser identifizieren oder aktiv und öffentlich Oppositionsarbeit betreiben, sich journalistisch betätigen und öffentlich Kritik an der Regierung oder den Verhältnissen in Ruanda üben (vgl. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 8 ff.). Bereits die Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei wie dem RNC ist insoweit „als Form der Sichtbarkeit politischer Opposition“ zu bewerten (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 17). Ruandische Staatsangehörige, die Ruanda ohne Vorverfolgung legal verlassen haben, die nach einem mehrjährigen Aufenthalt im westlichen Ausland mit dortiger Asylantragstellung nach Ruanda zurückkehren und die im Ausland einer oppositionellen Partei oder Vereinigung wie dem RNC beigetreten sind, haben daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung zu rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Senat vom 23. April 2020, S. 2). Insbesondere wenn eine Nähe zur gewaltbereiten Exil-Opposition seitens ruandischer Behörden unterstellt wird, kann dies zu einer noch höheren Verfolgungsgefahr durch die Stigmatisierung des Betroffenen als Sympathisant von Genozid-Verbrechern führen (GIGA Institut, Stellungnahme vom 30.7.2012, S. 4). Allerdings ist bei der Gefahrenprognose für einen rückkehrenden ruandischen Staatsangehörigen, der Ruanda ohne Vorverfolgung legal verlassen hat und im Ausland einer oppositionellen Partei oder Vereinigung beigetreten ist, auch zu berücksichtigen, ob im Einzelfall besondere Gründe dafür vorliegen, dass der Asylbewerber trotz seiner Mitgliedschaft in einer Partei oder Vereinigung bei einer Rückkehr aufgrund seiner politischen Biografie für die ruandischen Behörden nicht von Interesse sein wird bzw. ihm eine regimekritische Haltung seitens der ruandischen Behörden nicht unterstellt werden wird, weil diese für ruandische Behörden ersichtlich nicht Ausdruck einer regimekritischen Haltung und von diesen auch nicht beachtlich wahrscheinlich „als Form der Sichtbarkeit politischer Opposition“ bewertet werden wird.

Dass über den „formalen“ Aspekt einer Asylantragstellung hinaus weitere „qualitative“ Umstände wie die vorgenannten für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit hinzutreten müssen, schließt der Senat insbesondere daraus, dass Verfolgungsmaßnahmen, die sich ausschließlich vor dem Hintergrund der Migration, Flucht oder des Asylgesuchs im Ausland von ruandischen Rückkehrern abbilden lassen würden, nicht bekannt sind (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 11 und Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 12 ff.; ferner Auskunft des Auswärtigen Amts an den Senat vom 23. April 2020, S. 2). So berichtet das European Asylum Support Office (EASO) - nunmehr European Union Agency for Asylum (EUAA) - für den Zeitraum 2016 bis 2018, dass unter allen konsultierten Quellen und innerhalb des für die Beantwortung der Anfrage vorgesehenen Zeitrahmens keine Fälle verzeichnet werden konnten, in denen Personen, die zuvor von der Polizei gemeldet wurden, nach ihrer Rückkehr nach Ruanda unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren, nachdem sie nach Ruanda zurückgekehrt waren (EASO, COI Query Rwanda, Inhuman or degrading treatment against returnees, 10.12.2018, p. 3). Allerdings führt EASO in der Anfragebeantwortung diverse dokumentierte Fälle von gesetzeswidriger Haft, Folter und Tötungen in der Zeit von 2016 bis 2018 auf, von denen verdächtigte „Kleinkriminelle“, politische Oppositionelle und Journalisten betroffen gewesen sind (EASO, COI Query Rwanda, Inhuman or degrading treatment against returnees, 10.12.2018, p. 4-6).

Laut dem Commissariat Général aux Refugiés et aux Apatrides (CGRA) erwähnt kein konsultierter internationaler Bericht über die Menschenrechtslage in Ruanda seit 2018 mögliche Probleme bei der Rückkehr durch ruandische Staatsangehörige nach einer erfolgten illegalen Ausreise oder einem Antrag auf internationalen Schutz (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 12). Was die Rückkehr nach Ruanda nach einer illegalen Ausreise betrifft, weisen die von CGRA kontaktierten Quellen eher darauf hin, dass die Haltung der ruandischen Behörden vom Grund der Ausreise oder dem spezifischen Profil abhängen wird (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 12). Allerdings sind alle von Cedoca (Centre de documentation et de recherches du CGRA) kontaktierten Quellen und die belgische Botschaft der Ansicht, dass die Beantragung internationalen Schutzes im Ausland nach der Rückkehr nach Ruanda zu Problemen mit den Behörden führen könnte, sofern diese von dem Antrag auf internationalen Schutz wissen (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 12). Der belgischen Botschaft sind aber auch insoweit keine konkreten Fälle bekannt, in denen die Rückkehr nach Beantragung internationalen Schutzes zu Problemen geführt hat (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 12). Ein hierzu befragtes Mitglied der ruandischen Zivilgesellschaft erklärte, dass ein Rückkehrer tatsächlich Probleme hätte, wenn der Inhalt seiner Akte den ruandischen Behörden bekannt werden würde und wenn – wie oftmals in solchen Akten – die Situation in Ruanda eher negativ beschrieben würde (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 12). Ein im Exil lebender ruandischer Journalist vermutet, dass – wenn die ruandischen Behörden von einem Antrag auf internationalen Schutz Kenntnis haben – ein solcher Antrag zu Problemen führen könnte, da jede Person, die Ruanda mit der Begründung verlässt, sie sei verfolgt worden, eine Schande für die ruandische Regierung sei und die Behörden selbst auf kleinste Vorfälle empfindlich reagierten, dies allerdings vom individuellen Profil des Betroffenen abhänge (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 13). Ein in Ruanda lebender und dort arbeitender Journalist gab an, dass auch ihm keine konkreten Fälle von Ruandern bekannt seien, die bei ihrer Rückkehr aufgrund ihrer illegalen Ausreise oder eines Antrags auf internationalen Schutz im Ausland Probleme mit den ruandischen Behörden hatten, er jedoch der Ansicht sei, „dass diejenigen, die es gewagt haben, Aussagen zu machen, die die Machthaber oder die Regierungspartei beschuldigen, verfolgt werden könnten, wenn sie es wagen, zurückzukehren (CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 13).

Der Senat ist unter Auswertung der vorstehenden Erkenntnismittel daher nicht davon überzeugt, dass allein die illegale Ausreise aus Ruanda und/oder das Stellen eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung wegen einer (unterstellten) politischen Überzeugung führen wird. So-weit in der Stellungnahme von Dr. Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung vom 10. August 2013 – insoweit auch in Übereinstimmung mit der Stellungnahme von Frau Dr. Bognitz vom 9. Februar 2022 – ausgeführt wird, dass der ruandische Staat von allen Ruanderinnen und Ruandern erwarte, dass sie stolz auf ihr Land seien, jeder, der sich diesem Staats- und Gemeinschaftsverständnis entziehe oder zu entziehen scheine, mit Sanktionen zu rechnen habe und Kritik an Ruanda von der ruandischen Regierung und ihr nahe stehenden Personen und Institutionen energisch zurückgewiesen werde (Dr. Hankel, Stellungnahme vom 10. August 2013, S. 2 f.), lässt sich daraus nach Auffassung des Senats aber nicht schlussfolgern, dass – wie Herr Dr. Hankel weiterhin ausführt – bereits die Stellung eines Asylantrags unter Ausnutzung eines Schengen-Visums wegen der einem Asylantrag immanenten Kritik an der Politik und/oder an Organen des Herkunftslands zu den Verhaltensweisen gehöre, die mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ einer fühlbaren Sanktion, d.h. mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden (Dr. Hankel, Stellungnahme vom 10. August 2013, S. 3). Fälle, in denen allein das Stellen eines Asylantrags zu entsprechenden Maßnahmen geführt haben sind - wie ausgeführt - nicht bekannt. Auch in der Stellungnahme vom 10. August 2013 sowie in der ergänzenden Stellungnahme von Dr. Hankel an das VG Hannover vom 23. Juli 2018 werden entsprechende Referenzfälle nicht benannt. Entsprechendes gilt, soweit Dr. Hankel in einer weiteren Stellungnahme vom 11. Juni 2021 an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausgeführt hat, dass sich ruandische Behörden nicht an diplomatische Zusicherungen halten, die abgegeben worden seien im Rahmen von Ersuchen zur Auslieferung eines ruandischen Staatsangehörigen, welchem die Beteiligung an genozidären Straftaten im April 1994 in Ruanda vorgeworfen wird. Zum Beleg hierfür werden aber nur Verfolgungs-schicksale von politisch exponierten Personen wie dem Oppositionspolitiker Boniface Twagirimana und dem Sänger Mihigo Kizito benannt. Auch insoweit ist nicht zu ersehen, dass bereits der „formale“ Aspekt der Beantragung von Asyl im Ausland zu politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen führt.

Einen dahingehenden Schluss lässt auch nicht der von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin angeführte Fall von Innocent Irankunda zu, der unmittelbar nach seiner Abschiebung im Oktober 2009 am Flughafen in Kigali verhaftet und wegen der Delikte Verbreitung von Völkermordideologie, Fälschung von Dokumenten und Verrat angeklagt und wegen Fälschung von Dokumenten zu vier Jahren Haft verurteilt worden ist (vgl. dazu Auskunft von Amnesty International an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin vom 19.10.2012, S. 5 und an das VG Hannover vom 29.1.2014, S. 2). Die Verhaftung wegen der ihm vorgeworfenen Delikte und die anschließende Verurteilung standen ersichtlich im Zusammenhang mit dem auch öffentlich bekannt gewordenen Asylvorbringen von Innocent Irankunda, er sei vor einem Gacaca-Gericht vorgeladen worden, obwohl er zum Zeitpunkt des Genozids noch minderjährig gewesen sei. Dieses Asylvor-bringen ist geeignet gewesen, aus Sicht der ruandischen Behörden das Ansehen des ruandischen Justizsystems zu beschädigen (vgl. dazu Dr. Bognitz, Sachverständigen-anhörung vom 14.3.2022, S. 19 f.). Der Fall Irankunda ist daher kein Referenzfall für politisch motivierte Verfolgungsmaßnahmen seitens des ruandischen Staats allein aufgrund des „formalen“ Aspekts der Asylantragstellung, sondern im Zusammenhang mit dem öffentlich auch bekannt gemachten Asylvorbringen im konkreten Einzelfall zu sehen.“

Nach alldem, kommt es nicht – mehr – darauf an, dass die für die Klägerin beim Bundesamt für Migration eingesetzte Dolmetscherin möglicherweise, wie die Klägerin mit Schriftsatz vom 1. November 2022 unter Beifügung von Lichtbildern behauptet, eine Nähe zu ruandischen Regierungsstellen hat. Nach den oben zitierten sachkundigen Feststellungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts könnte allerdings auch dies als ein qualitativer Umstand angesehen werden, der allein die Stellung eines Asylantrags als verfolgungsrelevant erscheinen lässt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.