Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 08.11.2022, Az.: 4 A 175/19
Homosexualität; Nichtstaatliche Verfolgung; Sexuelle Orientierung; soziale Gruppe; Türkei
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 08.11.2022
- Aktenzeichen
- 4 A 175/19
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 59315
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3b Abs 1 Nr 4 Halbs 2 AsylVfG 1992
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots.
Sie ist 1989 geboren, türkische Staatsangehörige und türkischer Volkszugehörigkeit und Atheistin. Sie reiste am 10.09.2018 mit einem vom Generalkonsulat in Istanbul ausgestellten Visum auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24.09.2018 einen Asylantrag.
Bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 11.10.2018 machte sie folgende Angaben:
Seit der Machtübernahme Erdogans sei großer Druck auf Andersdenkende ausgeübt worden. Bereits ihr Vater sei aufgrund der Ergenekon-Vorfälle aus dem Militärdienst in Frührente entlassen worden. Sie selbst habe sich zu dieser Zeit in ihrem Masterstudium befunden und an den sich an die Ergenekon-Vorfälle anschließenden Gezi-Protesten teilgenommen. Aufgrund ihrer Demonstrationsteilnahme seien der Dekan und die für sie zuständigen Professoren aufgefordert worden, die Zusammenarbeit mit ihr zu beenden. Der Dekan sei aber selbst staatskritisch gewesen und habe sie weiterhin unterstützt, sodass sie ihr Masterstudium habe erfolgreich beenden können. In ihrem anschließenden Doktorandenstudium sei sie aber nicht weiter von ihrem Dekan unterstützt worden, sodass sie sich entschlossen habe, ihre Doktorarbeit in Istanbul zu schreiben. Der sie in Istanbul unterstützende Professor sei einer der besten gewesen, er habe von ihrer Vergangenheit nichts gewusst. Da sie aber ihre politischen Ansichten weiterhin mit jedermann geteilt habe, hätten viele Kollegen/Kolleginnen, mit denen sie zusammengearbeitet habe, sie gemieden. Nach dem Putschversuch 2016 habe sie erneut ohne Erfolg versucht, mit ihren Kollegen/Kolleginnen über die sich an den Putsch anschließende Säuberungspolitik zu diskutieren. Die Kollegen/Kolleginnen habe das geärgert und sie seien weiter auf Abstand gegangen. Nach dem Putschversuch sei ihr guter Freund G. wegen Verbindungen zur Fetullah-Gülen-Bewegung (FETÖ) beschuldigt worden. Sie habe eine enge Beziehung zu ihm gehabt und ihre Zeit an der Uni und bei der Arbeit gemeinsam mit ihm verbracht. Sie hätten zusammen im Labor gearbeitet, zusammen gegessen und ihre Wohnungen hätten nah beieinander gelegen, sodass sie auch zusammen nach Hause gegangen seien. Dies sei auch ihrem Umfeld bekannt gewesen. Nachdem ihr Freund beschuldigt worden sei, sei auch sie beschuldigt worden, FETÖ-Anhänger zu unterstützen. Ihr Dekan habe von ihr und ihrem Freund Abstand genommen. Ihre Kollegen/Kolleginnen und auch der Dekan hätten sie stets kritisiert. Die Lage sei immer brenzliger geworden. Sie habe keinen Zugang mehr zu den für ihre Arbeit notwendige Chemikalien gehabt. Sie habe sich Gedanken darüber gemacht, dass sie unter diesen Umständen ihre Arbeit nicht fortsetzen könne. Es habe keine Sicherheit für sie gegeben, dass sie nach ihrem Studium nicht von jemanden angezeigt oder denunziert werde. Sie habe nicht weiter unter Druck leben wollen und sich deshalb zur Ausreise entschieden. An der Uni habe sie gesagt, dass sie in Urlaub fahre. Inzwischen müsste ihren Kollegen/Kolleginnen aber klar sein, dass sie aus der Türkei geflohen sei. Wenn sie jemand denunziere, werde sie bei ihrer Rückkehr bereits am Flughafen Probleme bekommen und festgenommen werden. Ihr Freund sei ebenfalls aufgrund einer Denunziation durch Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen der Universität verhört worden. Dies könne ihr genauso passieren.
Mit Bescheid vom 08.10.2019 lehnte das Bundesamt für die Klägerin die Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2), die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) jeweils ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Nr. 4), forderte die Klägerin unter Fristsetzung zur Ausreise auf, drohte ihr für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Türkei an und befristete das gesetzliche Einreise-und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es aus, die Klägerin sei kein Flüchtling im Sinne von § 3 AsylG. Nach ihren Angaben habe es in der Türkei bis zu ihrer Ausreise keine gezielt gegen sie gerichtete Verfolgungshandlung gegeben. Obwohl sie bereits während ihres Masterstudiums ihre politischen Ansichten geäußert habe und ihre politische Einstellung im Kollegenkreis bekannt gewesen sei, sei sie zu keiner Zeit Repressalien ausgesetzt gewesen. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, warum ihr im Falle ihrer Rückkehr Repressalien drohen sollten. Auch soweit sie angegeben habe, mit einem vermeintlichen Mitglied der FETÖ befreundet gewesen zu sein und an dessen Gerichtsverhandlung teilgenommen zu haben, gehe aus ihrem Vortrag nicht hervor, dass ihr eine eigene Mitgliedschaft in der Bewegung unterstellt worden sei. Wenn dies damals nicht geschehen sei, sei auch nicht zu erwarten, dass ihr im Falle ihrer Rückkehr eine Verbindung zur Gülen- Bewegung unterstellt werde. Wegen der weiteren Einzelheiten der ablehnenden Entscheidung wird auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
Die Klägerin hat am 22.10.2019 Klage gegen den Bescheid vom 08.10.2019 erhoben. erhoben.
Sie trägt im Klageverfahren erstmals vor, dass sie homosexuell sei. Sie habe dies bei ihrer Anhörung beim Bundesamt nicht angegeben, da ihr hierzu gegenüber den beiden anwesenden Männern der Mut gefehlt habe. Sie habe auch nicht gewusst, dass ihre sexuelle Orientierung in ihrem Asylverfahren eine Rolle spielen könne, da sie hiernach nicht gefragt worden sei. Ihr sei durch den Gegenstand der Befragung vermittelt worden, dass es in der Anhörung ausschließlich um eine politische Verfolgung gehe. Deshalb habe sie auch die Frage, ob sie die Befragung durch weibliches Personal bevorzuge, verneint. Zu ihrer Homosexualität führte sie aus, im Alter von 13 Jahren erkannt zu haben, dass sie homosexuell sei. Sie habe dies jedoch vor ihrem Umfeld und auch insbesondere gegenüber ihrer Familie geheim gehalten. Auch wenn ihre Familie sozialdemokratisch geprägt sei, sei sie dennoch im muslimischen Glaubens- und Traditionsverständnis verhaftet und akzeptiere Homosexualität nicht, sondern sehe sie als Krankheit an, die geheilt werden müsse. Sie habe sich deshalb gegenüber ihrer Familie nie als homosexuell outen können. Den Versuchen ihrer Eltern, sie zu verheiraten, sei sie stets mit dem Verweis auf die Belastung in ihrem Studium ausgewichen. Darüber hinaus habe sie sich dem direkten Zugriff der Familie auch durch einen Umzug nach Istanbul vorübergehend entziehen können, was jedoch keine dauerhafte Lösung gewesen sei. So hätten ihre Eltern sie selbst nach ihrer Flucht aus der Türkei in Deutschland aufgesucht, um ihr mitzuteilen, dass ein Ehemann für sie gefunden sei und sie zurückkehren solle. In der Türkei habe sie ihre Homosexualität ansatzweise nur im Verborgenen leben können, indem sie Apps und Websites genutzt habe um Kontakte zu lesbischen Frauen herzustellen. Wegen der für ihre Sicherheit unerlässlich notwendigen Geheimhaltung ihrer sexuellen Orientierung hätten sich ihre Kontakte jedoch stets nur auf kurze Beziehungen beschränkt.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG angehöre und als Angehörige der Gruppe vom türkischen Staat verfolgt werde. Die Verfolgung gegen homosexuelle Menschen gehe dabei von nichtstaatlichen Akteuren aus; hiegegen biete der türkische Staat keinen Schutz. Dies ergebe sich unzweifelhaft aus entsprechenden Erkenntnismitteln. Aufgrund des gesellschaftlichen Klimas, das sich sowohl für LGBTIQ- Personen als auch für westlich geprägte Frauen - und damit für sie in doppelter Hinsicht - in den letzten Jahren verschärft habe, fürchte sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei, dass ihrer sexuellen Orientierung mit dem Versuch begegnet würde, sie „zu brechen“, um aus ihr eine „normale, gläubige und devote Frau“ zu machen. Sie habe auch keine inländische Fluchtalternative.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.10.2019 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.10.2019 zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.10.2019 zu verpflichten, für sie das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Der Klägerin steht nach der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Bescheid der Beklagten vom 08.10.2019 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und entsprechend aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten § 3d AsylG).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr ("real risk"), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25/10 -, juris, Rn. 22).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
(Vgl. BVerwG, Beschluss vom 03.08. 1990 - 9 B 45.90 -, juris, Rn. 2 und OVG NRW, Urteil vom 14.02.2014 - 1 A 1139/13.A -, juris, Rn. 35)
Gemessen an diesen Grundsätzen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb ihres Herkunftslandes befindet. Die von ihr bei ihrer Anhörung beim Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2022 geschilderten Erlebnisse im Zusammenhang mit ihren politischen Meinungsäußerungen und ihren Verbindungen zu Regimegegnern reichen nicht aus, um eine Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, Alternative 4 AsylG anzunehmen. Insoweit folgt die Einzelrichterin den überzeugenden Ausführungen des Bundesamts in seinem Bescheid vom 08.10.2019 und macht sich diese gemäß § 77 Abs. 2 AsylG zu eigen.
Die Klägerin hat aber deshalb einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, weil sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes befindet.
Die Klägerin gehört einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an.
§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG, wonach als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten kann, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet, bildet einen Unterfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Als eine solche Gruppe gilt nach der Legaldefinition, die § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insoweit aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes übernimmt, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter (BVerwG, Beschluss vom 23.09.2019 - 1 B 54/19 -, juris, Rn. 7).
Die Homosexualität der Klägerin wurde von der Beklagten in Ansehung der Ausführun-gen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Schriftsatz vom 16.07.2022 nicht in Frage gestellt. Auch die Einzelrichterin ist nach Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die Klägerin homosexuell ist.
Homosexuelle Personen gehören in der Türkei auch einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG an. Insoweit schließt sich die Einzelrichterin einer entsprechenden Bewertung des Verwaltungsgerichts Köln in seinem Urteil vom 24.11.2021 - 22 K 8825/17.A -, veröffentlicht bei juris, an. Das Verwaltungsgericht Köln hat die Situation homosexueller Menschen in der Türkei zutreffend unter Berücksichtigung verschiedener Erkenntnismittel wie folgt wiedergegeben:
„Ausweislich der herangezogenen Erkenntnisquellen verbietet in der Türkei zwar kein Gesetz Homosexualität oder homosexuelle Handlungen. Homosexuelle Handlungen werden im Strafgesetz nicht eigens erfasst. Das Diskriminierungsverbot in Art. 10 der Verfassung erfasst jedoch nicht explizit die sexuelle Orientierung. Die Gesetzgebung verbietet somit nicht ausdrücklich die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung in sozialen Einrichtungen, Regierungsstellen oder Unternehmen. Gesellschaftlich ist sie ganz überwiegend nicht akzeptiert. Bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung werden homosexuelle Personen häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Von allen OECD-Ländern herrscht in der Türkei die geringste Akzeptanz gegenüber Homosexualität. Der statistische Meßwert liegt auf einer Skala von 1 (niedrigste mögliche Akzeptanz) bis 10 (maximale Akzeptanz) bei 1,6, wobei sich dieser Wert seit den achtziger Jahren kaum verbessert hat. Die türkische Regierung bemüht sich jedoch nicht mehr nur nicht aktiv um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz, sondern trägt seit geraumer Zeit sogar aktiv zum Gegenteil bei. Verleumdungskampagnen in regierungsfreundlichen Medien und Hassreden sowie herablassende Äußerungen hochrangiger Regierungsvertreter, darunter der Präsident der Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), der türkischen Institution für Menschenrechte und Gleichstellung und des Büros der Ombudsperson sowie der Vorsitzende der türkischen Gesellschaft des Roten Halbmonds, spiegeln die diskriminierende Haltung der Regierung gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten und deren Rechte wieder. Während der COVID-19-Pandemie sagte C. G., der Leiter des Diyanet, bei einer Predigt während des Ramadan, dass der Islam Homosexualität verurteile, weil sie Krankheit bringe, und dass jedes Jahr Tausende von Menschen dem HIV-Virus ausgesetzt seien.
Vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 03.06.2021 (Stand: April 2021) - im Folgenden: AA, Lagebericht 2021 -, S. 15; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, Stand: 29.11.2019, aktualisiert am 08.04.2020 - im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt 2020 -, S. 75 ff. und BFA, Länderinformationsblatt vom 18.05.2021, S. 115 ff.
Weiter wird er zitiert mit der Aussage "Lasst uns zusammen handeln, um die Menschen vor diesem Bösen/solchen Übeln zu schützen." Noch mehr Gewicht bekamen diese Sätze, als Präsident Erdogan diese Aussage ausdrücklich unterstützte "Die Worte des Diyanet-Chefs seien für gläubige türkische Sunniten verpflichtend. Was er sage, sei vollkommen richtig.“
Süddeutsche Zeitung vom 03.05.2020, Homophobie in der Türkei "Der Islam verflucht Homosexualität"; Deutschlandfunk vom 08.05.2020, "Türkei/Homophobie im Namen des Islam".
Auf Strafanzeigen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (THIV) und der Anwaltskammer von Ankara gegen Erbas wegen Aufwiegelung reagierte die Staatsanwaltschaft mit strafrechtlichen Untersuchungen wegen "Beleidigung religiöser Werte". Zuvor bezeichnete Staatspräsident Erdogan Angriffe auf Erbas als einen Angriff auf den Staat und sah die Kritik als gezielte Attacke auf den Islam. Anfang Februar 2021 bezeichnete Innenminister Süleyman Soylu LGBT-Mitglieder, die vor dem Hintergrund der Studentenproteste an der Bosporus-Universität festgenommen wurden, als Perverslinge bzw. Abartige, weil sie in den sozialen Medien die Kaaba in Mekka mit LGBT-Symbolen versahen. Darüber hinaus verkündete der Minister, dass die LGBT-Gemeinschaft nichts mit den türkischen Werten zu tun habe, sondern etwas sei, das westliche Länder in die Türkei vermarkteten. Bereits am 23.05.2018 entschied das türkische Verfassungsgericht, dass die Titulierung von Angehörigen sexueller Minderheiten in den Medien als Perverse nicht als Hassrede angesehen werden könne, da dies unter die Meinungsfreiheit falle.
Der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt wurde unter anderem mit dem Vorwurf verbunden, die Konvention sei zum Schutz der Rechte sexueller Minderheiten missbraucht worden. Die Kommunikationsdirektion der Präsidentschaftskanzlei erklärte, dass die Konvention von einer Gruppe von Menschen gekappt worden sei, die versuchten, Homosexualität zu normalisieren, was mit den sozialen und familiären Werten der Türkei unvereinbar sei. Daher die Entscheidung, sich zurückzuziehen.
BFA, Länderinformationsblatt vom 18.05.2021, S. 115 f.“
(VG Köln, a.a.O. Rn. 43 – 49)
Das Gericht ist nach den Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2022 davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht.
Dabei geht das Gericht in Ansehung der aktuellen Auskunftsklage zwar davon aus, dass im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine gezielte staatliche Verfolgung der Klägerin und auch keine Gruppenverfolgung von Homosexuellen in der Türkei anzunehmen ist, denn die bestehenden Diskriminierungen erreichen nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität oder Verfolgungsdichte.
Auch insoweit schließt sich die Einzelrichterin der zutreffenden Bewertung der Erkenntnismittel durch das Verwaltungsgericht Köln in seinem Urteil vom 24.11.2021 an. Dort heißt es:
„Homosexualität ist in der türkischen Republik - wie bereits ausgeführt - nicht verboten; homosexuelle Handlungen werden im Strafgesetz nicht eigens erfasst. So dienen Gesetzesbestimmungen zu "Straftaten gegen die öffentliche Moral", "Schutz der Familie" und "unnatürliche Sexualverhalten" manchmal als Grundlage für polizeilichen Missbrauch und Diskriminierung durch Arbeitgeber, zumal die Gesetzgebung - wie ausgeführt - nicht ausdrücklich die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung verbietet. Es gibt kein Gesetz gegen Hassverbrechen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten. Laut Menschenrechtsgruppen werden diese durch Straßenkriminalität und allgemeine Gewalt gefährdet. Art. 29 des Strafgesetzbuchs sieht die Milderung von Strafen, einschließlich Körperverletzung oder Mord, vor, wenn der Angeklagte durch eine "ungerechte Handlung" provoziert wurde. Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Richter routinemäßig Art. 29 zur Milderung von Urteilen im Falle der Ermordung von Angehörigen sexueller Minderheiten herangezogen haben. Auch garantiert das Gesetz Mitgliedern sexueller Minderheiten nicht jene Rechte in Bezug auf Pension, Erbschaft oder Sozialversicherung, die Heterosexuellen infolge einer Eheschließung implizit gewährleistet werden.
Sexuelle Minderheiten werden in der Türkei seit langem diskriminiert. Vor seiner ersten Wahl zum Regierungschef im Jahr 2002 hatte sich Erdogan jedoch noch für die Rechte von Schwulen und Lesben stark gemacht, ihnen Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierung versprochen. Für eine Weile verbesserte sich die Lage zumindest in den Metropolen des Landes. 2003 fand der erste Gay-Pride-Marsch in Istanbul statt, die Teilnehmerzahl stieg im Laufe der Jahre bis 2015 immer weiter an. Dann wurde die Regenbogen-Parade verboten, offiziell wegen des Fastenmonats Ramadan, in den der Marsch damals fiel. Seit den "Gezi"-Protesten von 2013 und vor allem seit dem gescheiterten Putsch von 2016 hat sich das innenpolitische Klima verändert. Kundgebungen der LGBTI-Gemeinschaft werden systematisch verboten bzw. unterbunden. Als Grund für die Untersagung werden in der Regel Sicherheitsgründe angegeben. Im April 2019 hob ein Gericht in Ankara das seit November 2017 geltende pauschale Verbot des Gouverneurs von Ankara für öffentliche Veranstaltungen auf, doch werden die Verbote in Ankara und anderen Städten in der Türkei weiterhin systematisch aufrechterhalten. Die Gouverneure von Ankara, Istanbul, Izmir, Antalya, Gaziantep und Mersin haben im Laufe des Jahres 2019 Verbote für öffentliche Aktivitäten von Mitgliedern sexueller Minderheiten erlassen. Im Mai und Juni löste die Polizei in Izmir und Istanbul öffentliche Veranstaltung im Zusammenhang mit dem "Pride Month" mit Schlagstöcken, Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen auf. In Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste ist es in bestimmten Teilbereichen möglich, Homosexualität zu zeigen; darüber hinaus ist sie gesellschaftlich nicht akzeptiert. Es kommt immer wieder zu Gewalttaten, die Polizei führte Razzien gegen Treffpunkte und Clubs von Homosexuellen durch. In Einzelfällen kommt es auch zu "Ehrenmorden" im Zusammenhang mit Homosexualität. Laut den letzten verfügbaren Zahlen des Auswärtigen Amtes sind 2018 insgesamt 62 LGBTI-Personen Opfer von körperlicher Gewalt geworden. Nur neun dieser Fälle seien der Polizei gemeldet worden, nur zwei davon seien angeklagt worden. Die LGBTI-Organisation KAOS-GL berichtete im Juni 2020 von 150 Angriffen auf LGBTI-Personen in 2019, von denen nur 26 angezeigt wurden, aus Angst auch von der Polizei diskriminiert zu werden bzw. aus Angst vor dem Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung.
Regierung und Medien behaupten, dass die Orientierung und die Aktivitäten der sexuellen Minderheiten mit der öffentlichen Moral und den spirituellen Werten der türkischen Gesellschaft unvereinbar seien, und dass sie die Familienwerte bedrohten. Die türkische Regierung beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf die öffentliche Ordnung und behauptet, sie könne die Sicherheit von LGBTI- Gruppen nicht garantieren.
AA, Lagebericht 2020, S. 18 und Lagebericht 2021, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt 2020 S. 75 und vom 18.05.2021, S. 115 f.; USDOS - 2020 Country Report on Human Rights Practices: Türkei vom 30.03.2021, S. 35 f.; Ministerie van Buitenlande Zaken, Länderbericht Türkei vom 01.03.2021, S. 58 ff.; Süddeutsche Zeitung vom 03.05.2020, Homophobie in der Türkei "Der Islam verflucht Homosexualität“.
(VG Köln, a.a.O. Rn. 54-57)
Auch aktuellere Erkenntnismittel geben keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung der Situation von Homosexuellen in der Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei, Version 6, vom 22.09.2022; AA, Lagebericht vom 28.07.2022, S. 10,11).
Vorliegend ist jedoch ein Fall einer asylrelevanten nichtstaatlichen Verfolgung nach § 3c Nr. 3 AsylG anzunehmen. Denn die Einzelrichterin hat aufgrund der Befragung der Klägerin die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch ihre Eltern Schaden an Leib und Leben droht, wenn sie in die Türkei zurückkehren würde, weil ihre Eltern Homosexualität als Krankheit betrachten, die durch eine medizinische Behandlung geheilt werden muss.
Die Klägerin hat in sich nachvollziehbar und glaubhaft geschildert, dass ihr im Falle einer Rückkehr in die Türkei die ernstzunehmende Gefahr droht, eine schwerwiegende Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte, insbesondere ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, und eine schwerwiegende Verletzung ihrer in Artikel 1 GG geschützten Menschenwürde zu erleiden. Damit liegt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG vor.
Die Klägerin stammt nach ihrer schlüssigen und glaubhaften Schilderung aus einer zutiefst religiösen und sehr konservativen Familie. Zwar haben ihre Eltern ihr ein Studium ermöglicht, dies musste sie auf Wunsch ihrer Eltern aber in ihrem Heimatort H. absolvieren und auch während des Studiums zu Hause wohnen. Erst anlässlich ihres Doktorandenstudiums konnte sie durchsetzen, in Istanbul weiterzustudieren und in einer eigenen Wohnung zu leben. Aber nicht nur während ihres Studiums in H. sondern auch während ihrer Zeit in Istanbul stand sie unter der Kontrolle ihrer Eltern. Für ihre Eltern stand eine Verheiratung ihrer Tochter im Vordergrund. Sie übten entsprechenden Druck auf die Klägerin aus und unternahmen ohne deren Wissen und Einverständnis Verkupplungsversuche, die die Klägerin als äußerst demütigend und und erniedrigend empfunden hat (s. Sitzungsniederschrift vom 08.11.2022, S. 3).
Die Klägerin hat glaubhaft geschildert, dass ihre Eltern Homosexualität als Krankheit betrachteten, die behandelt werden müsse. Ihre Eltern seien der Ansicht, dass Homosexualität mit der islamischen Religion unvereinbar sei. Würden ihre Eltern von ihrer Homosexualität erfahren, würden sie versuchen, sie von ihrer „Krankheit“ zu heilen. Die Klägerin sei sich sicher, dass ihr Vater sie in ein Krankenhaus einweisen lassen würde. Sie könne auch nicht ausschließen, dass er, der als ehemaliger Militärangehöriger über eine Waffe verfüge, diese gegen sie einsetzen würde (s. Sitzungsniederschrift S. 2). Demnach droht der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr eine schwerwiegende Verletzung ihrer in Art. 1 GG als unantastbar geschützten Menschenwürde (vgl. Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 1 Rn. 7 m.w.N.). Zur Menschenwürde zählt unzweifelhaft auch ein Leben entsprechend der eigenen sexuellen Orientierung. Wird eine bestimmte sexuelle Orientierung als Krankheit bewertet und Betroffene einer medizinischen Behandlung unterzogen, um diese von ihrer „Krankheit zu heilen“, stellt dies einen tiefgreifenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht dar und ist mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Schutz der Menschenwürde unvereinbar. Eine solche Behandlung ist darüber hinaus als erniedrigend und unmenschlich im Sinne von Art. 3 EMRK zu bewerten, weshalb auch ein Verstoß gegen diese Norm vorliegt. Hierfür ist nicht zwingend ein schwerwiegender körperlicher Eingriff notwendig. Eine Behandlung, die Betroffene von ihrer angeblich krankhaften sexuellen Orientierung heilen und sie sozusagen zu „normalen Menschen“ machen soll, dürfte unzweifelhaft schwere psychische Folgen haben, die sich letztlich auch körperlich auswirken. An dieser Bewertung ändert auch nichts, dass mit der Behandlung möglicherweise eine Erniedrigung und Entwürdigung nicht beabsichtigt ist (vgl. Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 4 Rn. 36 ). Es liegt auf der Hand und dies ist im vorliegenden Zusammenhang allein entscheidend, dass eine solche Behandlung von Betroffenen als erniedrigend und unmenschlich empfunden würde.
Von der Klägerin kann auch nicht erwartet werden, dass sie ihre Homosexualität im Falle einer Rückkehr weiterhin verschweigt. Im Einklang mit der unionsrechtlichen Rechtsprechung wird davon ausgegangen, dass Homosexuelle durch das Asylrecht nicht nur vor tatsächlichen, aktiven Repressalien geschützt sind, also wenn sie tatsächlich bereit sind, für die sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen, sondern auch dann geschützt sind, wenn sie ihre Homosexualität im Herkunftsland geheim halten würden oder Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung üben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Letzteres stellt demnach ebenfalls eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG dar.
(vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C 199/12 bis C 201/12 -, juris, Rn. 75; VG Ansbach, Urteil vom 31.01.2018 - AN 10 K 17.31735 -, juris, Rn. 22; VG Magdeburg, Urteil vom 09.04.2018 - 11 A 33/17 -, juris, Rn. 49 und VG Köln, Gerichtsbescheid vom 03.11.2020 - 22 K 1012/20.A -, juris, Rn. 30).
Vorliegend ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Klägerin inzwischen vier Jahre in Deutschland lebt, sich hier geoutet hat und ihre Homosexualität lebt (s. Sitzungsniederschrift), sodass auch mit Blick hierauf ihr ein Rückschritt in ihr früheres Leben in der Türkei nicht zumutbar und mit ihrer Menschenwürde unvereinbar ist.
Die Klägerin wäre im Falle ihrer Rückkehr auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr, sich zwangsweise einer Behandlung ihrer Homosexualität unterziehen zu müssen, ausgesetzt. Sie wäre auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, würde voraussichtlich wieder zu Hause wohnen und wäre hierdurch dem unmittelbaren Zugriff ihres Vaters ausgesetzt. Nach ihrer glaubhaften Schilderung muss auch damit gerechnet werden, dass ihr Vater zur Durchsetzung einer Behandlung der Klägerin „gegen ihre Homosexualität“ Gewalt anwendet. Die Klägerin hat auch keine Möglichkeit, sich dieser Situation zu entziehen. Obwohl sie als studierte Chemikerin über eine qualifizierte Ausbildung verfügt, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie eine Arbeitsstelle findet, um selbst ihren Lebensunterhalt zu sichern. Hierzu hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass es für sie bereits vor ihrer Ausreise nicht möglich gewesen sei, ohne entsprechende Beziehungen eine Stelle zu finden. Gänzlich unmöglich wird dies mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sein, wenn sie nach ihrer Rückkehr sich als Homosexuelle outet, was für die Gefahrenbewertung zugrundezulegen ist. Denn angesichts der in der Türkei herrschenden Homophobie kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin als Homosexuelle ohne familiäre Unterstützung eine Sicherung ihrer Existenz möglich sein wird. Insoweit wird auf die bereits zitierten Erkenntnismittel Bezug genommen. Aber selbst wenn die Klägerin unabhängig von ihren Eltern leben könnte, würde für sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der zwangsweisen Behandlung ihrer Homosexualität fortbestehen.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrach-tungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Nach den Schilderungen der Klägerin ist davon auszugehen, dass ihre Eltern alles daran setzen werden, ihre einzige Tochter (und ihr einziges Kind) zu einer „normalen Frau“ „zu machen“, auch um sie verheiraten zu können, sodass die Klägerin auch im Falle ihrer finanziellen Unabhängigkeit von ihren Eltern vor einer „Behandlung ihrer Homosexualität“ nicht geschützt wäre.
Der türkische Staat ist ausweislich der dargelegten Erkenntnisse nicht willens, Schutz im Sinne des § 3d AsylG vor der hier anzunehmenden Verfolgung zu bieten.
Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass der Klägerin auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.
Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hier scheitert die inländische Fluchtalternative daran, dass es keinen Landesteil gibt, in dem die Klägerin keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Zwar heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass es in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste in bestimmten Bereichen möglich sei, Homosexualität zu zeigen. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch unerheblich. Denn diese Feststellung zielt ersichtlich darauf ab, dass in diesen Gebieten für LGBTI-Personen - jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - keine Verfolgungshandlungen durch die anderen Bewohner dieser Gegenden drohen. Im vorliegenden Fall gehen die Verfolgungshandlungen indes von der Familie der Klägerin aus. Um dieser Bedrohung zu entgehen, müsste die Klägerin auch in Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara mehr oder weniger versteckt leben, so dass von einer "Aufnahme" in diesem Landesteil gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht die Rede sein kann. Denn es ist nach den überzeugenden Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass ihre Eltern über die Großfamilie den Aufenthalt der Klägerin in Erfahrung bringen könnten (vgl. Sitzungsniederschrift S. 4 Mitte).
Ungeachtet dessen und insoweit die Entscheidung selbstständig tragend scheidet eine inländische Fluchtalternative auch deshalb aus, weil nach den aktuellen Erkenntnismitteln in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste es lediglich „in bestimmten Teilbereichen“ möglich sein soll, Homosexualität zu zeigen. Dies versteht die Einzelrichterin so, dass auch in den genannten Großstädten nicht überall, sondern offenbar nur in bestimmten Stadtteilen, Homosexualität gezeigt werden kann. Es ist der Klägerin jedoch nicht zumutbar und kann von ihr auch nicht vernünftigerweise erwartet werden, ihr Leben in einer der genannten Großstädte auf einen bestimmten Stadtteil zu beschränken und gewissermaßen in einem Ghetto zu leben. Dies gilt gleichermaßen, soweit es auch an der Südküste möglich sein soll, in bestimmten Teilbereichen Homosexualität zu zeigen.
Im Ergebnis ist der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 08.10.2019 in Ziffer 1. aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Darüber hinaus ist der Bescheid auch in den Ziffern 3. bis 5. aufzuheben. In den Ziffern 3. und 4. versagte das Bundesamt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bzw. die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. Insoweit ist der Bescheid bereits deshalb aufzuheben, weil die Voraussetzungen für die Zuerkennung der insoweit vorrangigen Flüchtlingseigenschaft erfüllt sind. Damit werden die Ziffern 3. und 4. des angefochtenen Bescheids gegenstandslos (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Juni 2002 - 1 C 17.01 -, BVerwGE 116, 326, und vom 28. April 1998 - 9 C 1.97 -, BVerwGE 106, 339). Die in Ziffer 5. ergangene Abschiebungsandrohung ist ebenfalls aufzuheben, weil die Voraussetzungen für ihren Erlass nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG infolge der Bejahung der Voraussetzungen für die Flüchtlingsanerkennung bereits dem Grunde nach nicht vorliegen. Gleiches gilt für die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 6.).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.