Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 17.03.2020, Az.: 2 A 791/17
Flüchtlingseigenschaft; Gruppe, soziale; IS-Anhänger: Verdacht; Mann, kampffähig; Sunnit
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 17.03.2020
- Aktenzeichen
- 2 A 791/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71482
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 3b AsylVfG 1992
Tatbestand:
Der 1989 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger sunnitischer Religionszugehörigkeit. Vor seiner Ausreise lebte er zuletzt mit seiner Familie in der Nähe von Erbil. Die Familie stammt ursprünglich aus der Stadt Al-Qa’im in der Provinz Anbar. Nach der Eroberung der Stadt durch den IS Ende Juni 2014 verblieb die Familie zunächst dort. Der Kläger arbeitete als Computerspezialist in einem Krankenhaus. Etwa fünf bis sechs Monate nach dem Einmarsch des IS wurde der Kläger verhaftet. Er musste nach der etwa dreitägigen Haft für etwa einen Monat an einer Umerziehungsmaßnahme teilnehmen. Nach Abschluss der Maßnahme verblieb er noch für eine Weile in seiner Heimatstadt. Er verließ sie, nachdem die Einwohner aufgefordert worden waren, einen Aufruf zu unterschreiben, mit dem sie die Maßnahmen des IS billigten. Vor Ablauf der Frist zur Rückgabe der Solidaritätserklärung flüchtete die Familie. Der Kläger wurde auf der Flucht vorübergehend verhaftet und nach seinen Beziehungen zum IS befragt, nach einem Tag aber wieder freigelassen. Er ging zunächst nach Bagdad zu einem Freund. Hier blieb er etwa einen Monat lang und verließ Bagdad Richtung Erbil, wo sich schon der Rest seiner Familie aufgehalten hatte, nachdem sein Freund von der örtlichen Miliz gefragt worden ist, was er, der Kläger, bei ihm zu suchen habe. In Erbil hielt sich der Kläger etwa fünf Monate auf, bevor er sein Heimatland verließ.
Am 13. November 2015 reiste der Kläger aus dem Irak aus und am 26. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er am 27. Mai 2016 förmlich einen Asylantrag, zu dessen Gründen er am 26. Juni 2017 angehört worden ist. zur Begründung seines Asylantrags gab der Kläger im Wesentlichen an, der IS habe seinen Heimatort im Jahre 2014 eingenommen. Er, der Kläger, sei gezwungen worden, 21 Tage an einem Umerziehungsseminar teilzunehmen, das in einer örtlichen Moschee stattgefunden habe. Ihm sei es dann gemeinsam mit seiner Schwester gelungen zu fliehen. Auf ihrer Flucht seien sie an einem Kontrollpunkt für einen Tag festgehalten und verhört worden. Man habe herausfinden wollen, ob er mit dem IS zusammengearbeitet habe. Als sie festgestellt hätten, dass er unschuldig sei, seien sie freigelassen worden. Er sei dann zunächst nach Bagdad zu einem Freund gegangen, bei dem er habe wohnen können. Es seien dann aber schiitische Milizen zu dem Freund gekommen und hätten diesen zu ihm, dem Kläger, befragt. Der Freund habe daraufhin Angst bekommen und ihn aufgefordert auszuziehen. Er sei daraufhin nach Erbil gegangen, wo seine restliche Familie sich schon aufgehalten habe.
Mit Bescheid vom 18. September 2017 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger den Flüchtlingsstatus oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und lehnte es auch ab, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Sie forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach unanfechtbarem Abschluss seines Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Irak androhte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Zur Begründung gab die Beklagte im Wesentlichen an, die Verfolgung des Klägers durch den IS sei nur vorübergehender Natur gewesen und habe in Form des Umerziehungslagers keine erheblichen Auswirkungen auf den Kläger gehabt. Anderweitigen Verfolgungsmaßnahmen sei er nicht ausgesetzt gewesen. Zudem habe er zuletzt in Erbil gewohnt, so dass ihm eine interne Schutzmöglichkeit zur Seite gestanden habe.
Hiergegen hat der Kläger am 26. September 2017 Klage erhoben.
Zur Begründung dieser Klage trug er im Wesentlichen vor, er sei vom IS gezwungen worden an einer Schulungsmaßnahme teilzunehmen. Mit bei Gericht am 3. März 2020 eingegangenem Schriftsatz vom 2. März 2020 trägt der Kläger ergänzend vor, seine Familie sei mittlerweile aufgefordert worden das kurdische Autonomiegebiet zu verlassen und wieder in die Provinz Anbar in ihren Heimatort Al-Qa’im zurückzukehren. Daraufhin seien seine Geschwister in die Türkei geflohen. Die Eltern seien zunächst in ihrem ursprünglichen Heimatort verblieben. Dort seien sie von Mitgliedern schiitischer Milizen aufgesucht worden, die sich nach dem Verbleib ihrer Kinder erkundigt hätten. Es sei die Vermutung geäußert worden, dass sie beim IS seien. Das Haus seiner Eltern sei niedergebrannt worden. Daraufhin seien diese im Dezember 2018 nach Bagdad geflohen. Bei der Wohnungssuche seien Mitglieder der Miliz Asaib Ahl al Haq auf sie aufmerksam geworden. Sein Vater sei festgenommen und beschuldigt worden, den IS zu unterstützen. Er habe den Aufenthaltsort seiner Kinder preisgeben sollen, da diese beim IS vermutet worden seien. Daraufhin seien auch seine Eltern in die Türkei geflohen. Ihm drohe bei einer Rückkehr in den Irak deshalb Verfolgung wegen nachgesagter IS-Anhängerschaft.
Der Kläger ist in mündlicher Verhandlung zu seinen Asylgründen angehört worden. Wegen der Einzelheiten seiner Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 18. September 2017 zu verpflichten,
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise,
dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise,
festzustellen, dass in seinem Fall Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegentretend,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten des Landkreises Göttingen Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18. September 2017 ist rechtswidrig und der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch darauf, dass diese ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3 a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Dabei muss gemäß § 3 a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3 b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Nach § 3 c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3 d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 - Qualifikationsrichtlinie - (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.
Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahezu zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es - unter Angabe genauer Einzelheiten - einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder Aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 - 9 C 32/87 -; BVerfG, Beschluss vom 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90 -, jeweils zitiert nach juris).
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Gemessen hieran droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Solche geht nach der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung der Kammer, bestätigt durch Entscheidungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts, zwar nicht mehr vom IS aus, vor dem der Kläger aus seiner Heimatstadt geflüchtet ist und schließlich sein Land verlassen hat. Sie droht dem Kläger auch nicht allein wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit, denn die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak liegen nach der den Beteiligten ebenfalls bekannten Rechtsprechung der Kammer (vgl. zuletzt Urteil vom 18. Februar 2020 -2 A 664/17-) auch nicht vor. Eine politische Verfolgung steht dem Kläger jedoch deshalb bevor, weil ihm Maßnahmen drohen, die ihre Ursache in der ihm von allen verfolgungsmächtigen Organen im Irak zugeschriebenen IS-Anhängerschaft haben.
Vorab ist zu bemerken, dass der Einzelrichter dem Kläger nach nochmaliger Durchsicht der Akten und Vergegenwärtigung der zeitlichen Abläufe den von ihm beschriebenen zeitlichen Ablauf seiner Flucht entgegen den in der mündlichen Verhandlung geäußerten ersten Zweifeln, glaubt.
Die Heimatstadt Al Qa’im des Klägers ist vom IS Ende Juni 2014 erobert worden. Die Angabe des Klägers, etwa 14 Tage nach dem Fall von Mossul, ist nachvollziehbar (vgl. UNHCR Web-Archiv vom 29. August 2014, „Syrien, Flüchtlingszahl erreicht 3 Millionen“). Nimmt man die Angaben des Klägers, wogegen Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind, kam er etwa fünf Monate nach dem Einmarsch in Haft und nahm dann einen weiteren Monat an einer Umerziehungsmaßnahme teil. Für die Zeit bis zum Erlass des Dekretes können ein paar weitere Monate veranschlagt werden, so dass die Angabe des Klägers, er sei nach dem Einmarsch des IS noch etwa ein Jahr lang in seiner Heimatstadt verblieben nachvollziehbar ist. Rechnet man den einmonatigen Aufenthalt in Bagdad und den fünfmonatigen Aufenthalt in Erbil hinzu, ist zwanglos nachvollziehbar, dass der Kläger am 13. November 2015 aus seiner Heimat ausgereist ist. Auch die übrigen Ausführungen des Klägers gaben keinen Anhalt für Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Er schilderte alle Erlebnisse emphatisch, aber ohne zu übertreiben. Er vermochte auf Nachfrage auch einzelne Details anzugeben. So ergibt sich bis zu seiner Ausreise aus dem Irak ein Bild, dass zwar möglicherweise eine Verfolgung durch den IS zeigt, jedoch auch eine interne Sicherheit in Erbil, wo der Kläger und seine Familie vor Verfolgung sicher waren. Indes kann der Kläger hierauf nach den aktuellen Kenntnissen des Gerichts nicht – mehr – verwiesen werden.
Dem Kläger droht im Falle seiner Rückkehr in den Irak wegen einer ihm zugeschriebenen Zugehörigkeit oder mindestens Anhängerschaft zum IS schwere Misshandlung bis hin zur Tötung.
Nach Angaben des UNHCR stehen insbesondere kampffähige junge Männer sunnitischer Religionszugehörigkeit aus den ehemals vom IS besetzten Gebieten unter Generalverdacht der Zugehörigkeit oder Anhängerschaft zum IS. Ihnen droht Gewalt und Missbrauch durch staatliche und nichtstaatliche Akteure (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen S. 69 f.). Es drohen willkürliche Festnahmen, Gefangenschaft, Entführung, Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen (a.a.O. S. 71). Auch Zugangskontrollen stützen sich auf solche Verdachtsmomente und selbst Familienangehörigen drohen Maßnahmen wie z.B. Plünderungen (a.a.O. S. 72 f.). Selbst da, wo es, wie in Suleymaniyah und Erbil Zugangsbeschränkungen nicht gibt, die an die oben genannten Eigenschaften anknüpfen, muss man sich auch dort bei den örtlichen Behörden anmelden und erhält nur dann einen Aufenthaltstitel von einem Jahr, wenn man eine Bescheinigung eines Arbeitgebers vorweisen kann; hat man diese nicht, erhält man eine Aufenthaltsberechtigung nur für einen Monat, woraus sich Probleme bei der Arbeitssuche ergeben (UNHCR, Iraq: Country of Origin Information on Access and Residency Requirements in Iraq, Update I). Bei einer solchen Anmeldung droht den Betroffenen Festnahme (UNHCR an VG Sigmaringen vom 25. April 2018). Der UNHCR schließt mit der Anmerkung, dieser Personenkreis benötige wahrscheinlich Flüchtlingsschutz. Das US-Departement of State kommt in seinem undatierten Menschenrechtsbericht Irak 2019 zu einer ähnlichen Einschätzung. Danach verschwinden Menschen, von den man vermutet, sie seien IS-Mitglieder einfach (a.a.O, S. 5); Sunniten würden in der Haft misshandelt (a.a.O. S. 6); die Haft erfolge oft ohne Anklage und die Situation sei im Zentralirak dieselbe wie in der kurdischen Autonomieregion (a.a.O. S. 14 f.). Rückkehrer in die ehemals vom IS besetzten Gebiete erhielten keine Personaldokumente, so dass sie nicht arbeiten und sich nicht bewegen könnten; teilweise gäbe es besondere rosafarbene Erkennungskarten für diesen Personenkreis, Kollektivstrafen und Bewegungseinschränkungen (a.a.O. S. 25 und 33). Der Zugang in die KRG-Region sei für diese Personen schwierig (a.a.O. S. 34).
Das Auswärtige Amt stellt in seinem aktuellen Lagebericht (vom 02. März 2020, Stand: März 2020) fest, dass der Staat den Schutz von Minderheiten nicht sicherstellen kann (a.a.O. S. 17), dass eine Stigmatisierung und Verhaftung von Sunniten allein wegen ihrer Glaubensrichtung und vermuteter IS-Anhängerschaft erfolge und Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen auch Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger träfen, denen zudem oft Personenstandsdokumente verweigert würden (a.a.O. S. 18, 23). In der KRG-Region gebe es Folter gegenüber Terrorverdächtigen (a.a.O. S. 22). In einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Sigmaringen vom 30. November 2017 heißt es weiter, oftmals würden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung automatisch als IS-Sympathisanten stigmatisiert. Konsequenzen daraus könnten bis hin zur Todesstrafe gehen. Laut Amnesty International (Menschenrechte im Nahen Osten und in Nordafrika 2019; Irak) sitzen viele Männer wegen mutmaßlicher Verbindungen zum IS in Gefängnissen der kurdischen Autonomieregion (KRG) ein. Es gebe zahlreiche Berichte über Folter und Misshandlungen in zentralirakischen und Gefängnissen der KRG. Dies beträfe vor allem Gefangene unter IS-Verdacht. Gerichte akzeptierten Geständnisse, die unter Folter abgegeben worden seien. Es seien Todesstrafen verhängt und vollstreckt worden nach grob unfairen Verfahren bei Menschen, denen man Verbindungen zum IS nachgesagt habe. Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet wie folgt (Länderinformationsblatt Irak vom 20. November 2019 aktualisiert am 30. Oktober 2019): In der KRG seien in Gefängnissen Jungen zwischen 11 und 17 Jahren wegen angeblicher Verbindungen zum IS gefoltert worden (a.a.O. S. 46). Es gebe Stigmatisierung, Verfolgung und Festnahmen allein wegen sunnitischer Religionszugehörigkeit, weil eine IS-Sympathie vermutet werde (a.a.O. S. 67). Tausende von IS-Verdächtigen würden sowohl von irakischen Bundesbehörden wie von KRG-Behörden verfolg. Es gebe überfüllte Haftanstalten, unmenschliche Haftbedingungen, systematische Verletzungen eines prozessordnungsgemäßen Verfahrens, Entzug des gesetzlichen Richters und von anwaltlichem Beistand und für eine Verurteilung reichten unter Folter erzwungene Geständnisse. Zwar gebe es eine Amnestiemöglichkeit aufgrund des Amnestiegesetzes Nr. 27/2016, wenn der Nachweis gelinge, dass der Beitritt zum IS gegen den eigenen Willen erfolgt sei und keine schwere Straftat begangen worden sei; diese Amnestieregelung werde in der KRG-Region jedoch nicht angewandt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen träfen vermehrt auch Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger, vor allem von solchen, die aus Gebieten geflohen sind, die ehemals unter IS-Kontrolle standen und denen Sympathie mit dem IS unterstellt werde. Sicherheitskräfte unternähmen nichts gegen solche Maßnahmen oder seien sogar Teil davon (a.a.O. S. 94 f.; ähnlich BFA Sicherheitslage Mossul, Hammam al-Alil, Übergriffe auf Sunniten und Rückkehrer vom 23. April 2018 S. 36 und 39).
Der Dänische Immigrationsservice berichtet im November 2018 davon, dass von den oben geschilderten Maßnahmen am häufigsten junge sunnitische Männer betroffen sind, wobei es keinen Unterschied mache, ob man im Zentralirak sei oder in der KRG-Region. Der World Report 2020 – Iraq von Human Rights Watch berichtet ebenfalls von Inhaftierungen ohne Haftbefehl und Gerichtsverfahren bei Verdacht auf IS-Sympathie. Die prozessualen Rechte der Inhaftierten würden verletzt, es gebe Folter und erzwungene Geständnisse ebenso wie Sippenhaft in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Schließlich werden all diese Aussagen bestätigt von EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aus dem März 2019 (a.a.O. S. 25). Ferner wird dort ausgeführt, dass jede Person, die in den letzten drei Jahren in einem Gebiet gelebt hat, das unter Kontrolle des IS stand, ein potentieller Terrorist sei. Er werde in der Regel inhaftiert (a.a.O. S. 26). Die Situation sei in der KRG-Region identisch (a.a.O. S. 37). Schließlich wird bestätigt, dass auch Familienmitglieder von unter IS-Verdacht Stehenden verfolgt würden.
Der Kläger ist im kampffähigen Alter, ist Sunnit und hat bis Mitte 2015, also etwa ein Jahr lang unter IS-Herrschaft in Al Qa’im gelebt und gearbeitet. Er hat zugestanden, dem doktrinären Einfluss des IS ausgesetzt gewesen zu sein. Da er es ein Jahr lang dort ausgehalten hat, kann man den Kläger nicht als erklärten Gegner des IS bezeichnen. So bestätigter er, die Umerziehungsmaßnahme möglichst korrekt erfüllt zu haben, um keine Strafe zu erhalten und in der Stadt geblieben zu sein, weil er dort Arbeit gehabt habe. Aus all dem kann zwanglos der Vorwurf konstruiert werden, der Kläger sei mindestens Anhänger des IS gewesen. Nach den oben beschriebenen Berichten wird ihn dieser Vorwurf auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit treffen. Denn er wird im Falle seiner Abschiebung allein in den Irak zurückkehren, da der Rest seiner Familie in der Türkei lebt. Ohne familiäre Anbindung ist er auf sich allein gestellt und muss sich, um überhaupt in den Genuss sozialer Vergünstigungen zu kommen, bei den örtlichen Behörden anmelden. In Anbetracht seines bald fünf Jahre dauernden Aufenthaltes in Deutschland wird sich den örtlichen Behörden im Irak umso mehr die Frage stellen, ob der Kläger ein IS-Anhänger oder –kämpfer ist. Der Umstand, dass die Generalstaatsanwaltschaft Celle entsprechende Ermittlungen gegen den Kläger offenbar eingestellt hat, werden ihm im Irak nicht zum Vorteil gereichen. Vielmehr ist sicher davon auszugehen, dass er als IS-Sympathisant angesehen wird. Bei Auswertung der o.a. Erkenntnismittel droht ihm damit sowohl im Zentralirak wie auch in der KRG-Region Haft und in der Haft unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Eine interne Schutzmöglichkeit im Sinne von § 3 e AsylG steht dem Kläger nach den sachverständigen Auskünften nicht zur Seite, da die Verfolgungshandlungen im ganzen Irak drohen.
Schließlich knüpft die Verfolgung auch an ein asylerhebliches Merkmal im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 b AsylG an. Dabei kann dahinstehen, ob Anknüpfungsmerkmal schon die sunnitische Religion ist. Dagegen spricht, dass es den Verfolgern nicht um die Religionsausübung selbst geht, sondern um die Ausprägung eines lange tradierten Generalverdachts der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den sunnitischen Bevölkerungsschichten, die über Jahrzehnte die Geschicke des Landes bestimmt haben und der sich aktuell in dem Verdacht äußert, die Sunniten hätten, was auch in erheblichem Umfang den Tatsachen entspricht, den IS unterstützt. Verfolgungsgrund im Fall des Klägers ist seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach Buchstabe a) dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Der Kläger hat insoweit einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als er Sunnit im kampffähigen Alter ist, der längere Zeit mehr oder weniger unbehelligt unter IS-Herrschaft gelebt hat. Diese unveräußerlichen Merkmale stehen im Zentrum der Motivation seiner Verfolger im Irak.
Das vom Kläger geschilderte glaubhafte Geschehen um seine Eltern bestätigt die o.a. beschriebene Auskunftslage. So hat er nachvollziehbar und detailreich zunächst dargestellt, dass seine Eltern und seine Brüder mittlerweile gezwungen worden seien, Erbil zu verlassen. Sie hätten in ihre Heimatstadt zurückkehren sollen. Während die Brüder in die Türkei übersiedelten, seien seine Eltern zunächst wieder nach Al Qa’im gezogen. Der Kläger berichtete hier glaubhaft von Schikanen gegen die Eltern und ständigen Nachfragen, wo deren Kinder, also der Kläger und seine Brüder seien. Deutlich sei gemacht worden, dass man ihrer wegen einer vermuteten Zugehörigkeit zum IS habhaft werden wollte. Schließlich hätten sich die Schikanen dahin gesteigert, dass die elterliche Wohnung in Brand gesteckt worden sei. Nachdem die Eltern, die diesem Brandanschlag knapp hätten entkommen können, nach Bagdad gegangen seien, seien sie auch hier unter Druck gesetzt worden, sich zum Verbleib ihrer Kinder zu äußern. Dass es nicht so sehr darum gegangen sei, den Aufenthaltsort zu ermitteln – zu dem schnell eine Aussage hätte gemacht werden können -, sondern darum die Eltern einzuschüchtern und zu schikanieren und ihnen letztlich die offizielle Anmeldung in Bagdad zu verweigern, hat der Kläger emotional angespannt aber sachlich überzeugend darlegen können. Diese Ereignisse um die Familie des Klägers runden das Bild des ihm drohenden Verfolgungsgeschehens ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.