Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 29.05.1990, Az.: 5 U 163/89
Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht zukünftiger Verdienstausfallschäden wegen einer fehlerhaften Augenbehandlung; Frühzeitige Erkennbarkeit einer Netzhautablösung mithilfe einer Untersuchung des Augenhintergrundes mit Pupillenweitstellung; Ersatz eines Verdienstausfalles wegen eines um ein Jahr verzögerten Eintritts in das Berufsleben
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 29.05.1990
- Aktenzeichen
- 5 U 163/89
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1990, 26171
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1990:0529.5U163.89.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Oldenburg - 27.10.1989 - AZ: 8 O 1330/88
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB
- § 256 ZPO
- § 287 ZPO
Fundstellen
- AZRT 1992, 5
- MDR 1990, 1011 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1991, 362 (amtl. Leitsatz)
- NJW-RR 1990, 1363-1364 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1991, 1243-1244 (Volltext mit red. LS)
In dem Rechtsstreit
...
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
auf die mündliche Verhandlung vom 15. Mai 1990
unter Mitwirkung des
Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts xxx des
Richters am Oberlandesgericht xxx und des
Richters am Oberlandesgericht xxx
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 27. Oktober 1989 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 500,-- DM zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den Verdienstausfall zu ersetzen, den sie dadurch erleidet, daß sich ihr Eintritt in das Berufsleben durch die fehlerhafte Behandlung des Beklagten 1986 um ein Jahr verzögert.
Die Kosten der ersten Instanz haben die Klägerin zu 7/10 und der Beklagte zu 3/10 zu tragen.
Die Kosten der Berufung fallen der Klägerin zu 1/20 und dem Beklagten zu 19/20 zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Wert der Beschwer liegt unter 40.000,-- DM.
Tatbestand
Die xxx geborene Klägerin verlangt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht zukünftiger Verdienstausfallschäden, die sie aus einer fehlerhaften Augenbehandlung herleitet.
Die Klägerin, die seit frühester Kindheit unter starker Kurzsichtigkeit (über 10 dptr) und aufgrund einer Maculanarbe unter einem schlechten Visus auf dem rechten Auge leidet, war seit 1977 bei dem Beklagten in augenärztlicher Behandlung. Bis zuletzt 1984 fand insgesamt fünf Mal eine Untersuchung des Augenhintergrundes unter Pupillenweitstellung statt. Im April 1986 führte der Beklagte einen Sehtest für die Führerscheinprüfung durch. Im Juni 1986 suchte die Klägerin den Beklagten wegen Verschlechterung der Sehfähigkeit auf; die genau geäußerten Beschwerden sind zwischen den Parteien streitig. Nach Untersuchung ohne Pupillenerweiterung verordnete der Beklagte pflanzliche Tropfen zur Stabilisierung des Augenblutdrucks. Auf die im September 1986 erfolgte Vorstellung, bei der die Mutter der Klägerin wegen deren Gesundheitszustand nachgefragt hatte, veranlaßte der Beklagte keine weitere Untersuchung. Bei der letzten Konsultation im Oktober 1986 überprüfte der Beklagte das Gesichtsfeld und verordnete Vitamintabletten.
Anläßlich einer Augenuntersuchung bei ihrem Bruder am 14.10.1986 in der xxx Universitätsklinik schilderte die Klägerin, die ihn zusammen mit ihrer Mutter begleitet hatte, ihre Beschwerden in Form von "Schimmer" und "Nebelsehen". Die Untersuchung ergab eine weitgehende Netzhautablösung rechts, die am Tag darauf durch eine erfolgreich verlaufene Cerclage-Operation behandelt wurde.
Die Klägerin hat dem Beklagten vorgeworfen, er hätte die Netzhautablösung bereits im Juni 1986 über eine Untersuchung des Augenhintergrundes mit Pupillenweitstellung erkennen müssen. Die Operation, die zur bleibenden Veränderung des Auges und der Wiederholung des Schuljahres 1986/87 mit der Folge eines um ein Jahr verzögerten Eintritts in das Berufsleben geführt habe, hätte durch eine bloße Laserkoagulation vermieden werden können.
Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat sie mit 30.000,-- DM angegeben und beantragt,
- 1.)
den Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
- 2.)
den Beklagten zu verurteilen, an sie 18.000,-- DM nebst 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
- 3.)
festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die ihr aus der verspäteten Erkennung und Behandlung der Netzhautablösung ihres rechten Auges entstanden sind und noch entstehen können, zu ersetzen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat bestritten, daß bereits zur Zeit der letzten Behandlung eine Netzhautablösung, und sei es auch nur im Anfangsstadium, vorgelegen habe und erkennbar gewesen sei. Die von der Klägerin geschilderten Beschwerden hätten darauf ebensowenig hingedeutet wie die pflichtgemäß durchgeführten Untersuchungen.
Das Landgericht hat nach umfangreicher Beweisaufnahme durch Einholung schriftlicher Sachverständigengutachten und Anhörung eines Sachverständigen die Klage abgewiesen. Die Operation hätte in jedem Fäll durchgeführt werden müssen, und das Auge habe auch durch eine etwaige Verzögerung keinen Schaden genommen, so daß es an dem haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang fehle.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Ersatzbegehren nur noch teilweise weiterverfolgt.
Sie hält dem Beklagten vor, daß sie bei gründlicherer Untersuchung im Juni 1986 durch eine anschließende Operation, die als unaufschiebbare Notfalloperation behandelt worden wäre, vier Monate eher von ihren Beschwerden befreit worden wäre und das Schuljahr 1986/87 nicht verloren hätte.
Ihre Schmerzensgeldvorstellung gibt sie jetzt mit 1.500,-- DM an und beantragt,
- 1.)
an sie ein angemessenes, in gerichtliches Ermessen gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen,
- 2.)
festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihr den Verdienstausfall zu ersetzen, den sie dadurch erleidet, daß sich ihr Eintritt in das Berufsleben durch die fehlerhafte Behandlung des Beklagten im Jahre 1986 um ein Jahr verzögert.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vorbringens das angefochtene Urteil und weist ergänzend darauf hin, daß angesichts der sehr seltenen Erkrankung der Netzhautablösung ein vorwerfbarer Diagnoseirrtum nicht - und schon gar nicht in Form eines groben Behandlungsfehlers - festzustellen sei. Zwischen Juni und Oktober 1986 habe die Klägerin auch nicht unter zusätzlichen Beschwerden bzw. einer zusätzlichen Gesundheitsbeeinträchtigung gelitten. Das Schuljahr 1986/87 hätte sie auch im Falle einer früheren Operation verloren.
Von der weiteren Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 1. Halbsatz ZPO abgesehen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat im wesentlichen Erfolg.
Dem Beklagten ist anzulasten, daß er es bei der medizinisch unklaren Diagnose im Juni 1986 unterlassen hat, die zweifellos gebotene Erhebung des Augenbefundes durch eine Augenhintergrundspiegelung bei Pupillenweitstellung nicht vorgenommen zu haben, wodurch die Beschwerden der Klägerin vier Monate unbehandelt geblieben sind. Für diese Gesundheitsbeeinträchtigung in Form der Untätigkeit gegenüber einem Krankheitszustand bzw. einer Krankheitsentwicklung hat der Beklagte einen Ausgleich der immateriellen Schäden zu leisten, §§ 823 Abs. 1, 847 BGB, und nicht etwa für zusätzliche Schäden durch eine Verschlechterung, die - was die Berufungserwiderung zu Recht betont - nicht festzustellen ist.
Bei dem allgemeinen Augenzustand der Klägerin gehörte es anläßlich der Konsultation im Juni 1986 zu den elementaren Pflichten des Beklagten, zur Statusfeststellung und -sicherung den Augenhintergrund unter Pupillenweitstellung zu spiegeln. Das gilt unabhängig davon, welche Einzelsymptome die Klägerin bei der Erläuterung ihrer Beschwerden, die Grund für den Arztbesuch waren, geschildert hat. Daß es sich um einen reinen Routinebesuch ohne Veränderung des bisher bekannten Zustandes gehandelt habe, wird selbst von dem Beklagten nicht behauptet.
Bei einer so starken Kurzsichtigkeit ist selbst bei reinen Routineuntersuchungen in typischen Zeitabständen von zwei bis drei Jahren wie beispielsweise anläßlich einer Brillenverordnung eine solche Augenhintergrunduntersuchung medizinisch veranlaßt. Das haben die Sachverständigen Prof. Dr. xxx, Dr. xxx und xxx überzeugend dargelegt. Entsprechend ist der Beklagte in dem Behandlungszeitraum von 1977 bis 1984 auch verfahren. Seit der letzten Spiegelung in dieser Form war im Juni 1986 wiederum ein Zeitraum von etwa zwei Jahren verstrichen. Die von den Sachverständigen angegebenen Einschränkungen durch das für die niedergelassenen Ärzte geltende Kassenrecht greifen hier unabhängig von der Frage, inwieweit dadurch der zu fordernde medizinische Behandlungsstandard überhaupt beschränkt werden kann, bereits deswegen nicht, weil die Patientin wegen aktueller Beschwerden vorstellig geworden war. Inwieweit sie dabei in ihrer Sprache eine Beschreibung der Sehbeschwerden gefunden hat, die für den Mediziner typischerweise für eine Netzhautablösung sprechen (z.B. Schlamm, Schleier) oder eben nicht typisch dafür sind (z.B. fliegende Mücken), ist entgegen der Ansicht der Sachverständigen ohne Belang. Denn es kann angesichts der Vorschädigung nicht darauf ankommen, wie genau ein Laie in der Lage ist, etwas zu beschreiben, das er möglicherweise subjektiv ganz anders empfunden hat, als es normalerweise empfunden wird. Darauf darf sich ein Arzt allein nicht verlassen. Ist bei einer Patientin wie der Klägerin eine gründliche Augenuntersuchung auch ohne besonderen Anlaß an sich schon in wiederkehrenden Zeitabständen geboten, so muß dies jedenfalls dann geschehen, wenn über weitere, erneute etc. Sehstörungen, wenn auch in medizinisch undifferenzierter Weise, geklagt wird.
Der Beklagte hat, das ist den Sachverständigen Prof. Dr. xxx u.a. ebenfalls zu entnehmen, sogar selbst eine Netzhautschädigung in Betracht gezogen, als er ohne Pupillenweitstellung die Netzhaut spiegelte. Das reichte indessen nicht, zumal er bereits eine alte Netzhautablösung nicht erkannt und fehl interpretiert hatte und kein Grund dafür ersichtlich war, entgegen der Behandlungsphase bis 1984, in der Hintergrundspiegelungen bei Pupillenweitstellung in durchschnittlich durchaus kürzeren Zeitabständen erfolgt sind (Im Durchschnitt etwa 1 Jahr und 5 Monate), nicht erneut die Pupillenweitstellung vorzunehmen.
Dem Beklagten ist nicht vorzuwerfen, daß er gegebenenfalls nicht sofort die zutreffende Diagnose getroffen hat, sondern irrtümlich einem anderen vermuteten Befund nachgegangen ist. Bei einem etwaigen Vorwurf eines Diagnosefehlers ist durchaus Zurückhaltung geboten (vgl. BGH VersR 1988, 293). Er hat aber die bei der Klägerin medizinisch zweifelsfrei gebotene Befunderhebung - Augenhintergrundspiegelung bei Pupillenweitstellung - unterlassen. Inwieweit darin auch ein als grob zu bewertender Behandlungsfehler liegt, bedarf keiner Entscheidung. Denn es ist auch im Falle der Nichtvornahme solcher Befunderhebung Sache der Behandlungsseite, darzulegen und zu beweisen, daß der Befund nicht vorgelegen und sich dadurch kein Behandlungsfehler auf den Patientenzustand ausgewirkt hat (vgl. BGH VersR 1989, 80 ff m.w.N.). Dieser daraus begründeten Darlegungs- und Beweislast hat der Beklagte nicht genügen können. Nach den überzeugenden Ausführungen der zuvor genannten Sachverständigen lag mit einer Wahrscheinlichkeit von über 80% bereits im Juni 1986 eine periphere Netzhautablösung vor, die bei ausreichender Untersuchung erkannt und anschließend operativ - wie später geschehen - behandelt worden wäre.
Die von der Klägerin geklagten Beschwerden und die daraus resultierende Unsicherheit und Sorge über ihre körperliche Befindlichkeit, denen der Beklagte trotz der weiteren Konsultationen im September und Oktober nicht nachgegangen ist, rechtfertigt angesichts der vom Beklagten nicht zu verantwortenden erheblichen Vorschädigung der Klägerin nach den zu berücksichtigenden Gesamtumständen ein Schmerzensgeld in der ausgeurteilten Höhe.
Ohne Erfolg wendet sich die Berufungserwiderung gegen den Feststellungsanspruch betreffend die Ersatzpflicht zukünftiger Verdienstausfallschaden infolge des Schuljahrverlustes. Bei einer Operation in zeitlichem Zusammenhang mit den großen Sommerferien wäre die Klägerin nicht von Oktober bis Jahresende 1986 in der Schule ausgefallen, sondern es hätte sich bei einem vergleichbaren Operationsverlauf, von dem auszugehen ist, ein zu vernachlässigender Schulzeitverlust von jeweils einer Woche vor und nach den Ferien ergeben, und damit zu einem für die Leistungsbeurteilung weniger entscheidenden Zeitpunkt. Diese Operation wäre entgegen der Auffassung in der Berufungserwiderung bei einer begründenden Netzhautablösung - wovon wie dargelegt hier auszugehen ist - auch unverzüglich vorzunehmen gewesen. Damit steht auch die den Feststellungsantrag rechtfertigende Schadensentwicklung fest, §§ 287, 256 ZPO.
Die Berufung war daher mit der Kostenfolge aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen. Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 546 ZPO.