Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 14.11.2008, Az.: 1 A 4402/06
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 14.11.2008
- Aktenzeichen
- 1 A 4402/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45697
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2008:1114.1A4402.06.0A
Fundstelle
- Streit 2009, 72
In der Verwaltungsrechtssache
...
Streitgegenstand: Asylrecht, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung
hat das Verwaltungsgericht Oldenburg - 1. Kammer - aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. November 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Janssen als Einzelrichter für Recht erkannt:
Tenor:
Die Beklagte wird zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG verpflichtet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. September 2008 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder durch Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
Die Kläger, eine geborene Frau mit ihren zwei Söhnen, sind in B. geboren. Zur ihrer Identität liegen Personenstandsurkunden aus B. vor. Den deutschen Behörden wurde der Aufenthalt der Kläger erstmals bekannt, als sie sich am 31. August 2006 in O. als Asylbewerber meldeten. Zur Begründung machte die Klägerin zu 1) im Wesentlichen geltend, sie habe ihre Heimatstadt B. 1990 verlassen, nachdem die Armenier dort verfolgt worden seien. Ihre Mutter sei armenische Volkszugehörige, ihr Vater Aserbaidschaner gewesen. In der Russischen Föderation sei es ihr gelungen, die russische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Dennoch seien sie dort nicht akzeptiert worden. Man habe sich an niemanden um Hilfe wenden können. Die Kinder seien geschlagen worden und hätten keine Zukunft gehabt. Eine medizinische Versorgung sei kaum vorhanden gewesen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Asylanträge mit Bescheid vom 14. September 2006 ab und stellte gleichzeitig fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen. Die Kläger wurden unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise in die Russische Förderation aufgefordert.
Am 28. September 2006 haben die Kläger die auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beschränkte Klage erhoben. Zwischenzeitlich hielt sich auch der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) und 3) in der Bundesrepublik auf, ist aber Anfang November 2008 wieder ausgereist. Zu Begründung ihrer Klage wiederholen und vertiefen die Kläger ihr bisheriges Vorbringen. Die Klägerin zu 1) fühle sich trotz ihres aserbaidschanischen Vaters dem armenischen Volkstum zugehörig. Ihre Kinder habe sie aber in B. in Aserbaidschan zur Welt gebracht, weil dieser Staat auch ihre Heimat gewesen sei. In der Russischen Föderation sei trotz der Russischen Staatsangehörigkeit ein menschenwürdiges Leben nicht möglich gewesen. Angehörige der Kaukasusvölker würden beleidigt und erniedrigt. Eine wirtschaftliche Existenz sei ihnen kaum möglich. Im Falle ihrer Rückkehr könnten sie dort kein Auskommen finden, weil sie, die Klägerin zu 1) sich um die Kinder kümmern müsse und niemand für die Ernährung der Familie sorgen könne. Das Verhältnis zu ihrem Ehemann, der die Familie inzwischen auch wieder verlassen habe, sei derart zerrüttet, dass ein Zusammenleben mit ihm nicht mehr in Frage komme. Die Klägerin zu 1) sei deshalb auf sich selbst gestellt und wisse wegen ihrer gemischt aserbaidschanisch/armenischen Volkszugehörigkeit nicht, welcher Bevölkerungsgruppe sie sich anschließen und wo sie Schutz finden sollte.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. September 2006 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Verfahrensakte und auf Erkenntnismittel, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat zum Teil Erfolg. Die Kläger haben Anspruch auf Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 6 AufenthG liegen allerdings nicht vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist hier anzunehmen. Die Kläger wären nach einer Einreise in die Russische Föderation, deren Staatsangehörigkeit sie besitzen, völlig auf sich gestellt. Der Ehemann der Klägerin zu 1), der bislang im Wesentlichen für das Familieneinkommen sorgte, gehört nach der Entscheidung der Klägerin zu 1) nicht mehr zum Familienverband. Sie hat sich - wie in der mündlichen Verhandlung nach einigem Zögern dargelegt hat - von ihrem Ehemann getrennt. Das Verhältnis ist so zerrüttet, dass ein gemeinsamer Haushalt für sie nicht mehr in Frage kommt. Eine Scheidung ist zwar nicht eingereicht, dennoch ist das Gericht aufgrund des Auftretens der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass eine Lebensgemeinschaft mit ihrem E-hemann nicht mehr geführt werden wird. Es ist zwar für allein stehenden Frauen in der Russischen Föderation durchaus eine wirtschaftliche Existenz möglich, auch wenn sie angefeindeten Minderheiten angehörigen. Auch wenn eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht sofort oder überhaupt nicht angeboten wird, so können diese Frauen ebenso wie Männer auf eine Tätigkeit in der sehr weit verbreiteten "Schattenwirtschaft" verwiesen werden.
Für die Kläger stellt sich die Situation jedoch entscheidend anders dar. Die Klägerin zu 1) ist zwar gesund und arbeitsfähig, sie kann ihre Arbeitskraft jedoch nicht in dem erforderlichen Umfang für die Ernährung der Familie einsetzen, weil sie sich um zwei minderjährige Kinder kümmern muss. Verwandte oder Landsleute, auf deren Hilfe unter Umständen Rückkehrer verwiesen werden könnten, werden sich um die Kläger nicht kümmern können. Zum Einen ist die Mutter der Klägerin zu 1) inzwischen verstorben. Zum Anderen hat die Klägerin mehrfach und überzeugend dargelegt, dass sie sich auf Netzwerke und Unterstützungsgruppen von Landsleuten nicht berufen kann, weil sie weder von Armeniern von Aserbaidschanern als Mitglied in ihrer Exilgemeinschaft akzeptiert wird. Die Klägerin zu 1) ist Tochter eines aserbaidschanischen Vaters und hat deshalb den Nationalitäteneintrag "aserbaidschanisch" in ihren sowjetischen Papieren gehabt. Wesentlich geprägt ist sie jedoch von ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die Armenier waren. Im Falle ihrer Rückkehr wäre die Klägerin somit völlig auf sich gestellt sein und keinerlei verlässliche Möglichkeit haben, sich eine wirtschaftliche Existenz aufbauen zu können.
Da den Klägern Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz7 1 AufenthG zusteht, ist der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge entsprechend aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Kostenmäßig fällt es nicht ins Gewicht, dass den Klägern Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 6 AufenthG nicht gewährt werden konnte. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.