Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 23.02.2004, Az.: 7 A 643/04

Abschlussfahrt; Angemessenheit; Ausgrenzung; Beihilfe; Klassenfahrt; Klassengemeinschaft; notwendiger Lebensunterhalt; Schüler; Skifreizeit; Zumutbarkeit; Übernahme

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
23.02.2004
Aktenzeichen
7 A 643/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50514
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine weitere einmalige Leistung in Höhe von 100,50 € zur Teilnahme an der Abschlussfahrt der Klasse 10d der D. -Realschule zu gewähren. Der Bescheid der Landeshauptstadt Hannover vom 27.11.2003 und der Widerspruchsbescheid der Region Hannover vom 28.01.2004 werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Klägerin, die von der Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, begehrt eine höhere Beihilfe zu den Fahrtkosten für eine Klassenfahrt für die Zeit vom 25.03.2004 bis zum 04.03.2004.

2

Die Klägerin ist Schülerin der Klasse 10d der D. -Realschule in Hannover. Als Abschlussfahrt unternimmt diese Klasse eine Fahrt nach Österreich, um dort eine Skifreizeit zu verbringen. Es wird Vollverpflegung gewährt. Dafür muss jeder Schüler 305 € bezahlen. An der Klassenfahrt nehmen nach dem Vortrag der Klägerin alle Schüler der Klasse teil, bis auf zwei Schüler, die durch einen Konferenzbeschluss von der Klassenfahrt ausgeschlossen worden sind und zwei weiteren Schülern, die wegen eines Gerichtstermins nicht mitfahren können.

3

Vor dem 27.11.2003 (das genaue Datum ist unbekannt, die Akten der Landeshauptstadt Hannover liegen dem Gericht trotz Anforderung noch immer nicht vor) beantragte die Klägerin eine einmalige Leistung zur Übernahme der Fahrtkosten aus Sozialhilfemitteln. Diesen Antrag lehnte die Landeshauptstadt Hannover, die namens und im Auftrag der Beklagten den Sozialhilfefall der Klägerin regelt, mit Bescheid vom 27.11.2003 ab. Die Kosten für diese Fahrt seien unverhältnismäßig hoch.

4

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2004, zugestellt am 30.01.2004, half die Beklagte den Widerspruch in Höhe von 204,50 € ab, wies aber im Übrigen den Widerspruch als unbegründet zurück. Lediglich Fahrtkosten bis zu dem gewährten Betrag seien angemessen.

5

Die Klägerin hat am 09.02.2004 Klage erhoben.

6

Sie trägt vor: Die Klassenfahrt verursache keine unangemessen hohen Kosten. Die Stadt habe in anderen Fällen sogar Kosten bis 307 € anerkannt. Wegen der mit der Fahrt verbundenen weiteren Kosten könne sie trotz Vollverpflegung auch keine Haushaltsersparnis einsetzen.

7

Der Kläger beantragt,

8

unter Aufhebung des belastenden Teils des Bescheides vom 17.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2004 die Beklagte zu verpflichten, ihr weitere 100,50 € für die Abschlussfahrt der Klasse 10a (richtig Klasse 10d) der D. -Realschule zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen

11

Sie hält lediglich Fahrtkosten bis 204,50 € für angemessen. Ein teurer Skikurs zähle nicht mehr zu sozialtypischem Bedarf von Kindern und Jugendlichen.

12

Die Kammer hat die Sache mit Beschluss vom 23.02.2004 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

13

Alle Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

14

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Widerspruchsakte) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15

Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung übertragen hat.

16

Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung weiterhin ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.

17

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine weitere Beihilfe zu den Reisekosten der Klassenfahrt in Höhe von 100,50 €.

18

Nach der Rechtsprechung des Gerichts sind einmalige Leistungen nach §§ 11, 12, 21 BSHG dann zu gewähren, wenn besondere Anlässe gegeben sind. Grundsätzlich fallen darunter auch die Kosten für Klassenfahrten. Voraussetzung ist nur, dass ein Zurückstehen bei der Fahrt ein Abseitsstehen vom Klassenverband bedeuten würde, was regelmäßig dann angenommen werden muss, wenn an der Fahrt alle Schüler teilnehmen oder sie gar verpflichtend ist (Urteil vom 23.10.2001 - 7 A 3610/01 -).

19

Im vorliegenden Fall ist zwar nicht erkennbar, dass die Teilnahme an der Fahrt verpflichten ist - dies hat selbst die Klägerin nicht vorgetragen - , jedoch ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin, an dem das Gericht keine Zweifel hegt, dass abgesehen von vier Sonderfällen, alle Schüler der Klasse an dieser Abschlussfahrt teilnehmen. Die Nicht-Teilnahme von vier Schülern hat ganz besondere Ursachen, die jedenfalls nicht darin liegen, dass die Fahrtkosten allgemein als zu hoch angesehen wurden.

20

Die Nichtteilnahme der Klägerin würde nach alledem ein Ausschluss aus dem Klassenverband bedeuten.

21

Zwar ist gleichwohl nicht jede Fahrt aus Sozialhilfemitteln zu bezahlen. Voraussetzung ist immer auch, dass die Aufwendungen einen angemessenen Umfang nicht überschreiten (OVG Lüneburg, Urt. v. 06.07.1990 - 4 L 99/89 -).

22

Dabei gibt es jedoch keine absolute Grenze, was unter einem angemessenen Umfang zu verstehen ist. Zu berücksichtigen ist dabei neben den anfallenden Betrag auch die allgemeine Entwicklung, die vom schlichten Aufenthalt in Schullandheimen oder Jugendherbergen zu durchaus anspruchsvollen „Studien- und Freizeitfahrten“ mit immer höheren Kosten geführt hat. Zu berücksichtigen ist weiterhin, ob einem Hilfeempfänger ein - wenn auch nur zeitweiser - Ausschluss aus der Klassengemeinschaft durch die Nichtteilnahme zugemutet werden kann. Dabei ist insbesondere die weitere Dauer der Klassengemeinschaft und das Alter der Kinder bzw. Jugendlichen zu berücksichtigen. Ein Ausschluss von einer Fahrt wiegt für ein kleines Kind schwerwiegender als für einen volljährigen Schüler etwa einer 12. Klasse, wo die Altersgenossen durchaus für wirtschaftliche Gründe bereits Verständnis aufbringen können. Denn ab einem bestimmten Alter kann erwartet werden, dass die Mitschüler die Gründe für eine Nichtteilnahme verstehen und akzeptieren (VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 19.06.2003 - 6 B 114/03 -).

23

Zwar ist im vorliegenden Fall einzuräumen, dass es sich um eine Abschlussfahrt handelt und der Klassenverband sich ohnehin mit Ablauf des Schuljahres auflösen wird. Allerdings wird der Klassenverband auch nach Abschluss der Fahrt, die ja schon Anfang März endet, noch einige Monate fortbestehen. Außerdem ist die Klägerin (und wohl auch die meisten ihrer Klassenkameraden) noch nicht volljährig, so dass sich doch stärker die Frage eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft und dessen Zumutbarkeit stellt.

24

Die Klägerin hat zudem zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass die Beklagte - bzw. ihr zurechenbar die Stadt Hannover - in anderen Fällen durchaus Kosten als angemessen anerkannt, die den hier streitigen Kosten nahe kommen. So übersandte sie die Kopie eines an eine E. adressierten Bescheides (wobei hier offen bleiben kann, wie die Klägerin davon Kenntnis erlangen konnte), worin deren Tochter Anfang 2003 eine Beihilfe zur Klassenfahrt - Segeltour in Holland - in Höhe von 290 € gewährt wurde.

25

Dies zeigt, dass sich mittlerweile Kosten im Bereich um die 300 € für Klassenfahrten durchaus als üblich erweisen und damit nicht mehr als unangemessen bezeichnet werden können. Es mag durchaus sein, dass Schulfahrten, insbesondere Abschlussfahrten, immer aufwendiger und mithin teurer werden. Der Beklagten und den von ihr herangezogenen Gemeinden ist es unbenommen, auf die Schulen in ihren Bereich einzuwirken, um den Aufwand für diese Fahrten wieder einzugrenzen. Für die hier vorzunehmende Beurteilung, inwieweit die Kosten, die aus Sozialhilfemitteln übernommen werden sollen, noch angemessen sind, ist jedoch darauf abzustellen, was zwischenzeitlich allgemein üblich geworden ist.

26

Letztendlich hat die Beklagte selbst den Bedarf „Fahrtkosten für die Abschlussfahrt nach Österreich“ bei der Klägerin dadurch anerkannt, in dem sie zumindest 204,50 € als Beihilfe gewährte. Wären die Fahrt nicht angemessen und würde es keine unzumutbare Ausgrenzung der Klägerin bedeuten, so hätte wie im Ursprungsbescheid der Stadt geschehen, überhaupt keine Beihilfe gewährt werden dürfen. Nach Abwägung aller vorgenannten Umstände schließt sich das Gericht der Ansicht der Beklagten an und meint ebenfalls, dass die Teilnahme an der Abschlussfahrt für die Klägerin zum notwendigen Lebensunterhalt zählt und es ihr nicht zugemutet werden kann, durch die Nicht-Teilnahme aus dem Klassenverband ausgegrenzt zu werden.

27

Für nur eine nur teilweise Übernahme der Fahrtkosten bleibt dann allerdings kein Raum. Es ist keine Rechtsgrundlage erkennbar, wonach die Beklagte berechtigt wäre, der Klägerin die Übernahme des vollen Betrages zu verwehren. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn in der Klasse zwei Abschlussfahrten angeboten worden wären, von denen eine nicht mehr als die von der Beklagten anerkannten 204,50 € kosten würde. Eine derartige Alternative stand und steht der Klägerin in diesem Verfahren aber nicht zur Verfügung.

28

Die Klägerin kann den Differenzbetrag auch nicht anderweitig decken.

29

Dafür, dass es ihr möglich gewesen wäre, einen Zuschuss etwa von der Schule oder von der Elternschaft bzw. eines Fördervereines zu erhalten, liegen keine Anhaltspunkte vor. Dies hat noch nicht einmal die Beklagte behauptet.

30

Die Klägerin kann die Differenz weiterhin nicht aus der sich im Hinblick auf die gewährte Vollverpflegung ergebene Haushaltsersparnis bezahlen. Die dadurch ersparten Aufwendungen stehen durch die Teilnahme an der Klassenfahrt bedingte erhöhte Aufwendungen für Taschengeld und für sonstige kleinere Anschaffungen aus Anlass der Klassenfahrt gegenüber, so dass eine Kürzung nicht in Betracht kommt (so schon OVG Lüneburg, Entscheidung vom 06.07.1990 – 4 L 99/89 – FEVS 42, 79; sowie Urteil des Gerichts vom 14.08.2001 - 7 A 2442/01 -).

31

Gründe für die Zulassung der Berufung gem. §§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO sind nicht ersichtlich.

32

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.