Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 29.05.2017, Az.: 2 A 296/17

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
29.05.2017
Aktenzeichen
2 A 296/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53618
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Der Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet und Vater von zwei, fünf und drei Jahre alten Kindern. Er reiste mit seiner Familie am 1. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 01. Juli 2016 einen Asylantrag. Er lebt mit seiner Familie in F.. Am 17. Januar 2017 legitimierte sich seine Prozessbevollmächtigte zum Verfahren. Unter dem 23. Februar 2017 lud das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Kläger und seine Ehefrau für den 17. März 2017 um 08:00 Uhr zur Anhörung nach G.. Angaben dazu, dass Betreuungsmöglichkeiten für minderjährige Kinder bestehen enthielt die Ladung ebenso wenig wie Hinweise darauf, dass der Anhörungstermin u.U. um zwei Stunden nach hinten verschoben werden kann. Am 16. März 2017 erkrankte die Ehefrau des Klägers ausweislich des ärztlichen Attestes der Dres. H. vom selben Tage an starken unklaren Unterbauchschmerzen und musste stationär behandelt werden. Noch am selben Tage beantragte die Prozessbevollmächtigte des Klägers für diesen und seine Ehefrau die Verlegung des Anhörungtermins auf einen späteren Zeitpunkt. Die Ehefrau sei krank, der Kläger müsse sich um seine beiden Kinder kümmern. Der Kläger erschien am 17. März nicht zur Anhörung.

Nach Abtrennung des klägerischen Verfahrens von denjenigen der übrigen Familienmitglieder, verfügt die Beklagte mit Bescheid vom 24. März 2017, der Asylantrag gelte als zurückgenommen; das Asylverfahren sei eingestellt. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Pakistan abgeschoben. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetz befristete sie auf 30 Monate. Zur Begründung gab die Beklagte an, der Kläger sei ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen. Erscheine ein Antragsteller ohne genügende Entschuldigung nicht zur Anhörung, werde nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG vermutet, dass er das Verfahren nicht betreibt.

Hiergegen hat der Kläger am 05. April 2017 Klage erhoben und gleichzeitig um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, seine Klage sei zulässig und auch begründet. Nachdem seine Frau kurzfristig ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, habe er sich um seine beiden Kinder kümmern müssen. Auf entsprechende Mitteilung seines Anwalts an die Mitarbeiter des Bundesamtes, sei ihm die Verlegung seiner Anhörung zugesichert worden. Folglich sei er seiner Anhörung nicht unentschuldigt ferngeblieben.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 24. März 2017 aufzuheben,

hilfsweise,

die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote zugunsten des Klägers bestehen und den Bescheid vom 24. März 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegen und ist der Meinung, für die minderjährigen Kinder des Klägers hätte während seiner Anhörung durch Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des Bundesamtes gesorgt werden können. Auch sei es möglich gewesen und üblich, den Anhörungstermin von 08:00 Uhr um zwei Stunden nach hinten zu verlegen.

Das Gericht hat mit Beschluss vom 20. April 2017 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Das Gericht nimmt insoweit Bezug auf seinen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergangenen Beschluss vom 20. April 2017 (2 B 297/17). Die Kammer folgt bezüglich der Zulässigkeit der Anfechtungsklage trotz der in § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG vorgesehen Möglichkeit, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 20.07.2016 -2 BvR 1385/16-, juris).

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 33 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Der Kläger hatte keinen Einfluss auf die Umstände, die dazu geführt haben, dass er seinen für den 17. März 2017 anberaumten Anhörungstermin nicht wahrgenommen hat (§ 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG); das Verfahren ist daher gemäß § 33 Abs. 2 Satz 3 AsylG fortzuführen.

Zur Begründung nimmt das Gericht zunächst Bezug auf seine Ausführungen in dem o.a. Beschluss vom 20. April 2017. Es hat dort ausgeführt:

„Nach Satz 2 der Vorschrift darf das Nichterscheinen zur Anhörung nicht auf Umständen beruhen, auf die der Asylbewerber keinen Einfluss hatte, was von diesem unverzüglich nachzuweisen ist. Dieser Nachweis ist dem Antragsteller gelungen.

Er hat, vertreten durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten mit anwaltlichem Schreiben vom 16. März 2017 und durch Vorlage eines ärztlichen Attestes vom selben Tage nachgewiesen, dass seine Frau an diesem Tag ins Krankenhaus eingeliefert worden ist. Dies führt auch für den Antragsteller dazu, dass er bei seiner für den 17. März 2017 vorgesehenen Anhörung unentschuldigt gefehlt hat. Denn er hat glaubhaft gemacht, sich um seine beiden fünf und drei Jahre alten Kinder gekümmert haben zu müssen. Von weiteren in Deutschland lebenden Verwandten, die diese Aufgabe hätten übernehmen können, ist nichts bekannt. Dem Antragsteller wird von der Antragsgegnerin zu Unrecht vorgehalten, er hätte seine Kinder mit zu seiner Anhörung mitbringen können und Angestellte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in G. hätten sich in dieser Zeit um die Kinder gekümmert. Abgesehen davon, dass sich der Einzelrichter in Anbetracht der gerichtsbekannten Überlastung des Bundesamtes nicht vorstellen kann, dass Mitarbeiter für die Kinderbetreuung abgestellt werden und dass diese dann auch zu einer qualifizierten Betreuung der Kinder in der Lage gewesen wären, kann dem Antragsteller dieser Einwand schon aus einem anderen Grund nicht entgegengehalten werden. Denn das Angebot der Kinderbetreuung ist dem Antragsteller von der Antragsgegnerin zu keinem Zeitpunkt vor der Anhörung gemacht worden. Dies obwohl ein reger e-mail und Telefonverkehr zwischen dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers und Mitarbeitern des Bundesamtes stattgefunden hat.

Ein weiteres kommt hinzu. Der Kläger ist für 8:00 Uhr zu seiner Anhörung geladen worden; er und seine Familie wohnen in F.. Dies hätte nach der der Reiseauskunft der Deutschen Bahn eine Abreise um 22:07 am 16. März 2017 und eine damit einhergehende Übernachtung nötig gemacht. Die erste morgendliche Verbindung zwischen F. und G. führt zu einer frühesten Ankunft in G. um 8:23 Uhr, wäre also verspätet gewesen. Ist diese frühe Terminierung schon für einen Erwachsenen allein ein erhebliches Verfahrenserschwernis, stellt sich die mit der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin verbundene Obliegenheit des Antragstellers, seine Kinder über Nacht mitzunehmen und sich um deren Unterbringung zu kümmern, schon fast als Schikane dar. Jedenfalls hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller an keiner Stelle aufgezeigt, wie er dieses Unterbringungs- und Betreuungsproblem lösen soll. Sein Fernbleiben ist daher in Anbetracht der nachgewiesenen Umstände entschuldigt.“

Die von der Beklagten hiergegen ins Feld geführten Argumente überzeugen in der Sache nicht.

Die Vorschrift des § 33 Abs. 1 AsylG ist im Lichte der ihr zugrunde liegenden Bestimmung des Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - Asylverfahrensrichtlinie - (ABl. L 180/60) auszulegen. Danach genügt es, dass der Asylbewerber “berechtigte Gründe“ für sein Fernbleiben vorgebracht hat. In diesem Sinne sind die in § 33 Abs. 1 AsylG genannten “Umstände, auf die der Asylbewerber keinen Einfluss hatte“ auszulegen. Derartige “berechtigte Gründe“ hat der Kläger vorgebracht. Sie ergeben sich aus der plötzlichen Erkrankung seiner Ehefrau und deren Krankenhausaufenthalt einen Tag vor der geplanten Anhörung und der sich daraus ergebenden Betreuungsnotwendigkeit für die zwei kleinen Kinder des Klägers.

Für die Frage, welche Gründe im Sinne von Art. 14 Abs. 5 Asylverfahrensrichtlinie “berechtigt“ sein können, sind die Erwägungsgründe dieser Richtlinie mit heranzuziehen. Erwägungsgrund (33) bestimmt, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Richtlinie gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigen sollen.

Daraus folgt, dass bei der Terminierung von Anhörungen in besonderem Maße auf das Wohl von minderjährigen Kindern Rücksicht zu nehmen ist. Dies schließt es aus, eine Anhörung so zu terminieren, dass der allein kinderbetreuende Ausländer gemeinsam mit seinen Kindern über Nacht zur Anhörung anreisen muss, um pünktlich zu seiner Anhörung zu erscheinen. Das Wohl der Kinder verlangt zudem, dass während der Anhörung des allein kinderbetreuenden Ausländers eine qualifizierte Betreuung seiner Kinder vom Bundesamt angeboten wird. Dass faktisch eine Kinderbetreuung im Bundesamt vorhanden ist, wird dem Wohl des Kindes nicht ausreichend gerecht. Ohne den diesbezüglichen Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes schmälern zu wollen, ist seitens der Beklagten zu deren fachlicher Eignung zur Kinderbetreuung nichts vorgetragen; es erscheint dem Gericht auch nicht naheliegend, dass die Mitarbeiter des Bundesamtes über eine derartige pädagogische Ausbildung verfügen.

Unabhängig davon wäre es Sache des Bundesamtes gewesen, den Kläger auf derartige Möglichkeiten der Kinderbetreuung und die Möglichkeit eines späteren Beginns seiner Anhörung hinzuweisen. Dann wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, sich mit seinen Kindern zu zumutbaren Bedingungen auf den Weg von F. nach G. zu machen. Wenn ein solcher Hinweis nicht schon mit der Ladung zur Anhörung am 23. Februar 2017 erfolgt, so hätte konkreter Anlass hierzu jedenfalls in dem Moment bestanden, als der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Bundesamt unter Vorlage des ärztlichen Attestes für dessen Ehefrau am 16. März 2017 auf die familiären Umstände hingewiesen und um Verlegung des Anhörungstermins gebeten hat. Fehlt wie hier eine derartige Information an den Asylbewerber, kann die Beklagte nicht mit dem Argument durchdringen, der Kläger hätte zwei Stunden später zu seinem Anhörungstermin erscheinen können, ohne einen Rechtsverlust zu erleiden und für die Betreuung seiner Kinder hätte gesorgt werden können.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.