Amtsgericht Hannover
Beschl. v. 13.10.2000, Az.: 608 F 2223/99 SO

Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Kindesmutter im Wege der vorläufigen Anordnung in Zusammenhang mit ihrem Scheidungsverfahren; Berücksichtigung des Kindeswohls im Falle der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts; Geeignetheit des Wechselmodells für die Kompensation der negativen Auswirkungen einer Trennung der Eltern

Bibliographie

Gericht
AG Hannover
Datum
13.10.2000
Aktenzeichen
608 F 2223/99 SO
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 33797
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGHANNO:2000:1013.608F2223.99SO.0A

Fundstellen

  • FamRZ 2001, 846-848 (Volltext mit amtl. LS)
  • FamRZ 2002, 563 (amtl. Leitsatz)

In der Familiensache
...
hat das Amtsgericht -Familiengericht- Hannover
durch
den Richter am Amtsgericht
am 13. Oktober 2000
beschlossen:

Tenor:

  1. I.

    Der Antrag der Kindesmutter auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts im Wege der vorläufigen Anordnung wird zurückgewiesen.

  2. II.

    Beiden Parteien wird aufgegeben, binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses mitzuteilen, ob das bisher ausgesetzte Hauptsacheverfahren wieder aufgenommen und weiter betrieben werden soll.

  3. III.

    Die Kostenentscheidung und die Festsetzung des Gegenstandswertes bleiben der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

1.

Die am 17.12.1993 geschlossene Ehe der Eltern wurde durch Urteil des Amtsgerichts -Familiengericht - Hannover vom 24.1.2000 geschieden. Aus der Ehe ist der Sohn hervorgegangen.

2

Im Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren wurde das vorliegende Hauptsacheverfahren über die elterliche Sorge anhängig gemacht. In der mündlichen Verhandlung vom 24. Januar verständigten sich beide Elternteile nach ausgiebiger Erörterung darauf, dass das Sorgerechtsverfahren ausgesetzt werden solle und beide den Weg einer Trennungsberatung suchen wollten (Bl. 22 ff., 29, 30 d.A.).

3

Beide Elternteile hatte sich bereits vor dem Scheidungsverfahren auf eine Regelung geeinigt, wonach am Montagmittag von der Kindesmutter vom Kindergarten abgeholt wird und sich bis Donnerstagnachmittag bei ihr aufhält. Am Donnerstagnachmittag oder -abend wird er von ihr zum Kindesvater gebracht. Beim Kindesvater hält es sich bis einschliesslich Montagmorgen zum Kindergartenbeginn auf. Diese Regelung wird von den Eltern seit ca. 1 l/2 Jahren praktiziert.

4

Die Kindesmutter begehrt nunmehr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für bei Einräumung eines großzügigen Besuchsrechts. Die Trennungsberatung zwischen beiden Elternteilen, sei bei dem ersten Gesprächstermin gescheitert. Für sei die Lebenssituation mit drei Lebensmittelpunkten (bei jedem Elternteil und im Kindergarten) unerträglich. zeige Verhaltensauffälligkeiten, die darin bestünden, dass er nervös sei, weine, wenn die Mutter ihn zum Vater bringe, er nicht mehr gerne in den Kindergarten gehe und die Übergabe am Kindergarten problematisch werde. Er reagiere auf Ratschläge und Belehrungen sehr aggressiv. Er leide wohl im Zusammenhang mit der Aufenthaltsregelung unter Asthma und Erkältungskrankheiten, wobei sich dies durch eine Mutter-Kind-Kur beruhigt hätten. reagiere jedoch weiterhin ängstlich und klammere sich an der Mutter fest.

5

Sie ist weiter der Ansicht, dass im Hinblick auf die konfliktgeladene Situation, nachdem es in der Ehe zu schweren körperlichen Mißhandlungen und Beleidigungen gekommen sei, zwischen beiden Eltern eine klare Regelung für erforderlich sei.

6

Die Kindesmutter beantragt,

ihr das Aufenthaltsbestimungsrecht für den gemeinsamen Sohn der Parteien zu übertragen.

7

Der Kindesvater beantragt,

den Antrag zurückzuweisen sowie hilfsweise, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen.

8

Er ist der Ansicht, dass sich die bisher praktizierte Regelung, die mit Rücksicht auf seine Berufstätigkeit und das Studium der Antragstellerin von beiden Seiten einvernehmlich getroffen wurde, bewährt habe. Er kümmere sich mit einem hohen Zeitaufwand intensiv um und habe zu ihm eine gute Beziehung. Die von beiden Eltern getroffene Regelung sei für klar, zumal er nur am Freitag vom Kindesvater vom Kindergarten abgeholt werde. Die Regelung werde seit 1 /2i Jahren praktiziert. Weiterhin habe er sich darum gekümmert, dass in einen Schwimmverein aufgenommen werde.

9

Die Mutter-Kind-Kur habe der Kindesvater organisiert. Sein Besuch vom 1. bis 4. Juni sei mit der Mutter abgesprochen worden. Zu dritt hätten sie Fahrten zum Tittisee, in die Schweiz sowie an den Schluchsee unternommen.

10

Im übrigen könnte er auch während der Woche die Betreuung gewährleisten, da ihm sein Arbeitgeber in Hamburg es ermöglichen würde, zu Hause als Programmierer zu arbeiten.

11

Das Jugendamt befürwortet eine klar gewichtete Aufenthaltsregelung, ohne zu den Verhaltensauffälligkeiten selbst Stellung nehmen zu können und verwies im übrigen auf den ausführlichen Bericht im Scheidungsverfahren.

12

2.

Der Antrag der Kindesmutter ist unzulässig und darüber hinaus unbegründet. Über den nur hilfsweise gestellten Antrag des Kindesvaters ist daher nicht zu entscheiden.

13

a)

Der Antrag der Kindesmutter, im Wege der vorläufigen Anordnung die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts herbeizuführen, ist unzulässig. Eine vorläufige Anordnung ist nur unter der Voraussetzung zulässig, dass "ein dringendes Bedürfnis für ein unverzügliches Einschreiten besteht, welches ein Abwarten bis zur endgültigen Entscheidung nicht gestattet, weil diese zu späte kommen, die Interessen nicht mehr genügend wahren würde und eine Entscheidung im Sinn der zunächst vorläufigen Massregel wahrscheinlich ist" (Kahl in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 14. Aufl., § 19 Rz. 30 m.w.Nw.; Zöller-Philippi, 21. Aufl., § 620 Rz. 5).

14

Ein solches dringendes Regelungsbedürfnis ist zur Zeit nicht erkennbar. Die von der Antragstellerin hervorgehobenen Verhaltensauffälligkeiten rechtfertigen - ihr Vorliegen unterstellt - kein sofortiges Handeln im Wege der vorläufigen Anordnung. Eine für unerträgliche Situation, die sofort durch die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts geändert werden müsste, besteht nicht. Die Parteien praktizieren den wechselnden Aufenthalt von seit ca. 1 l/2 Jahren. Schwerwiegende Beeinträchtigungen für das Wohl von sind bei einem weiteren Zuwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht erkennbar.

15

b)

Darüber hinaus ist der Antrag auch unbegründet. Die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen der beiden Elternteile entspricht dem Kindeswohl nicht am besten (§1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB).

16

Mit der Trennung der Eltern ist die Entscheidung verbunden, bei welchem Elternteil sich ein gemeinsames Kind aufhalten soll. Bis zur Grenze der Kindeswohlgefährdung können die Eltern ihre Aufgabenverteilung einvernehmlich gestalten und eine Regelung über den dauernden, vorübergehenden oder ggf. wechselnden Aufenthalt ihres Kindes treffen (vergl. § 1787 Abs. 1 Satz 2 BGB; Palandt-Diederichsen, 59. Aufl., § 1687 Rz. 6). Haben die Eltern einvernehmlich eine Einigung erzielt, kann diese nicht mehr einseitig, sondern nur gemeinsam oder über einen Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil, wie es im vorliegenden Fall geschehen ist, geändert werden (vergl. AG Bad Iburg FamRZ 2000, 1036 f.; OLG Stuttgart FamRZ 1999, 39, 40; OLG Zweibrücken DA Vorm 2000, 331, 333; vergl. Zum Stellenwert von Elternvereinbarungen Staudinger-Coester, 13. Aufl., § 1671 Rz. 59 ff).

17

Die Antragstellerin hat nicht hinreichend dargetan, dass die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrecht, die mit einem dauerhaften Aufenthalt des Sohnes bei ihr verbunden wäre, dem Kindeswohl am besten entspricht.

18

Der von der Antragstellerin massgeblich angeführte Gesichtspunkt, dass das Kind einen festen Lebensmittelpunkt benötige, ohne den eine "erfolgreiche Erziehung" nicht möglich sei, und dass der Beziehung zwischen Sohn und Vater über das übliche 14-tägige Besuchsrecht entsprochen werden könne, findet in den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen keine hinreichende Grundlage.

19

Grundsätzlich sind drei Modelle denkbar, die als Residenz-, Eingliederungs- oder Domizilprinzip, als Wechselmodell oder als Nestmodell bezeichnet werden (Motzer in: Schwab, Handbuch zum Scheidungsrecht, 4. Aufl., III Rz. 42; Staudinger-Coester, 12. Aufl., § 1671 Rz. 179; 13. Aufl., § 1671 Rz. 145; Oelkers/Kasten FamRZ 1993, 18, 20; Hansen, Das Recht der elterlichen Sorge nach Trennung und Scheidung, 1993, S. 48 f., 116 f. m.w.Nw.; Luthin, Gemeinsames Sorgerecht nach der Scheidung, 1987, S. 51 f.). Beim Wechselmodell lebt das Kind für eine gewisse Zeitdauer jeweils bei einem Elternteil, der in dieser Zeit die Betreuung haupt- und eigenverantwortlich gewährleistet. Über die Handhabung und Auswirkungen des in Deutschland nur sehr zurückhaltend praktizierten Wechselmodells Hegen kaum aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse vor (vergl. zur Praxis beim Familiengericht Hamburg Oelkers/Kasten/Oelkers, FamRZ 1994, 1080, 1082, wonach in lediglich 11 % der Fälle das Wechselmodell von den Eltern bei bestehender gemeinsamer Sorge gewählt worden ist).

20

Grundsätzlich führt der regelmässige Wechsel zwischen den Wohnungen der Eltern und die Betreuung durch beide Elternteile über gleiche Zeiträume für das Kind in positiver Hinsicht dazu, dass ein intensiver und zeitlich längerer Kontakt zu beiden Eltern aufrechterhalten werden kann. Beide Eltern bleiben durch die regelmässig wechselnde Betreuung in der gelebten Verantwortung für ihr Kind. Dem steht die Belastung des Kindes durch den räumlichen Wechsel und das Einstellen auf den anderen Elternteil gegenüber.

21

Über die Frage, welche positiven und negativen Auswirkungen das Wechselmodell für das betroffene Kind mit sich bringt, liegen bisher - soweit ersichtlich - keine umfassenden und aktuellen Studien vor, obwohl die dadurch bedingten Unklarheiten bereits in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre kritisiert worden sind. Im Rahmen der Diskussion um die gemeinsame elterliche Sorge nach § 1671 BGB a.F. wurde nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1982 (NJW 1983, 101 ff. [BVerfG 03.11.1982 - 1 BvL 25/80]) und wird auch noch heute auf frühere amerikanischen Studien zurückgegriffen. Dabei wird überwiegend die Untersuchung von Wallerstein/Blakeslee (Gewinner und Verlierer, 1989) angeführt. Nach dieser Studie versuchten die Eltern die mit der Scheidung und Trennung für das betroffene Kind einhergehenden Verluste durch eine Absprache über den Aufenthalt des Kindes möglichst gering zu halten, indem überwiegend ein halbwöchentlicher Wechsel gewählt worden sei. Bei der Untersuchung aus dem Jahre 1985 wurden 25 Paare mit ihren Kindern im Alter zwischen 8 Monaten und 5 Jahren befragt, wobei die Paare zumeist nur ein Kind hatten (Wallersein/Blakeslee, a.a.O., S. 306). Die Eltern gaben an, dass ihre kleineren Kinder durch den Betreuung- und Wohnungswechsel verunsichert, durcheinander und z.T. völlig aufgedreht gewesen seien, dass sie nach der Rückkehr ängstlich seien, ob sich nichts verändert habe, so dass insbesondere die Übergabetage mit besonderen Belastungen verbunden gewesen seien (diess., a.a.O., S. 309, 310).

22

Allerdings hätten die Eltern gegenüber diesen emotionalen Belastungen zugleich zum Ausdruck gebracht, dass "es der Mühe Wert sei". Nach Wallersetin/Blakeslee ist bei kleineren Kindern ein außergewöhnliches Maß an Kooperation und Kommunikation der Eltern erforderlich. Da die Autoren dies auf die "alltäglichen Kleinigkeiten wie Fütterungszeiten, laufende Nasen, Hygiene," Mittagsschlaf usw. bezogen haben, dürfte es sich primär um das Alter zwischen wenigen Monaten und ca. 3 Jahren gehandelt haben. Die Untersuchung ergab zugleich, dass durch das praktizierte gemeinsame Sorgerecht die Aggressionen zwischen den Eltern nicht schwinden (dies., a.a.O., S. 312).

23

Zusammenfassend lässt sich wohl nach der vorgenannten Untersuchung feststellen, dass sich die negativen Auswirkungen der Trennung der Eltern durch die gemeinsame Sorge, auch wenn sie in Form des Wechselmodells gehandhabt wird, kaum verringern. Die durch die Trennung der Eltern verlorene Stabilität für das Kind wird nicht beseitigt und kann durch das Pendeln je nach Alter der Kinder zwischen zwei Elternhäusern sogar verstärkt werden (dies., a.a.O., S. 314 - 317). Die Autoren kommen jedoch auch zu dem Ergebnis, dass weniger das Sorge- bzw. Aufenthaltsmodell Einfluss auf die Verarbeitung der Scheidungssituation hat, als vielmehr die weiteren mit der Trennung verbundenen Umstände wie emotionale Reaktionen der Eltern auf die Trennung, Ausmass der Konflikte zwischen den Eltern, Alter und Persönlichkeit des Kindes usw. (dies., a.a.O., S. 320).

24

Ballhoff und Walter heben hervor, dass besonders bei "älteren Kindern ein grösseres Bedürfnis nach kontinuierlichen Kontakten im Umkreis ihres Lebensmittelpunktes" bestehe, der ihnen regelmässigen Kontakt zu Gleichaltrigen erlaube. Lediglich in 20 % der Fälle wechselten die Kinder zeitlich zwischen den Wohnung ihrer Eltern (FamRZ 1990, 445, 451 f.), Befindlichkeitsstörungen seien bei den Kindern infolge der Trennung unabhängig von der Frage der gemeinsamen oder alleinigen elterlichen Sorge festzustellen.

25

Aus der Arbeit von Napp-Peters (Scheidungsfamilien, Interaktionsmuster und kindliche Entwicklung, 1988, S. 45 ff.) lassen sich konkrete Hinweise auf die Auswirkungen des Wechselmodells nicht ableiten. Zwar hebt sie hervor, dass Eltern, die ihren Wohnsitz im Nahbereich hätten, häufiger einen Wohnungswechsel als Aufenthaltsarrangement wählen würden, dadurch beide Elternteile aktiver am Leben ihrer Kinder teilnähmen und sich für deren Bedürfnisse gemeinsam verantwortlich fühlen würden. Wie der Aufenthalt gewählt werde, sei jedoch nur ein Aspekt im Rahmen der gemeinsamen Sorge ("ko-elterlichen Interaktion").

26

Limbach gelangt in ihrer Rechtstatsachenstudie (Die gemeinsame elterliche Sorge geschiedener Eltern in der Rechtspraxis, 1989, S. 72 ff.) durch die Auswertung verschiedener amerikanischer Studien über die Häufigkeit und Funktionstüchtigkeit der ausgeübten gemeinsamen Sorge zu dem Ergebnis, dass diese im Falle des Wechselmodells nicht unproblematisch sei, während wissenschaftliche Erkenntnisse über das Residenzmodell noch nicht ausreichend vorlägen. Die u.a. in ihrem Vortrag herangezogene Studie von Steinmann über die gemeinsame Sorge von 24 Familien und 32 betroffenen Kindern, die in regelmässigen Abständen zwischen den Wohnungen der Eltern hin- und herpendelten, hält sie methodisch auf die gemeinsame elterliche Sorge für nicht übertragbar (Limbach, gemeinsame Sorge geschiedener Eltern, 1988, S. 39, 40). Die Arbeit von Steinmann habe ergeben, dass die Eltern mit der gemeinsam praktizierten Elternverantwortung sehr zufrieden gewesen seien, während bei den Kindern durch das Leben in zwei Elternhaushalten Überforderungen festzustellen gewesen seien.

27

Aus der Arbeit werden aber auch als "gesicherte Aussagen" abgeleitet, dass sich in gewissen Fällen das Wechselmodell bewährt habe und von den Kindern die gemeinsame Sorge zwar nicht als gleichwertiger Ersatz für das verlorene gemeinsame Familienleben, wohl aber als zweitbeste Lösung empfunden werde (Kropholler, JR 1984,89,91,92).

28

Aus psychoanalytischer Sicht hält es Figdor für das Kind für wichtig, dass es wisse, wo das "richtige" Zuhause sei, bemängelt jedoch zugleich, dass es keine Studien über die Auswirkungen des Wechselmodell auf Kinder gebe. Allerdings seien Situationen denkbar, in denen das Wechselmodell aus Sicht der Eltern vorübergehend gewählt werden könne (Scheidung als Katastrophe oder Chance für die Kinder, in: 8. DFGT, Brühler Schriften zum Familienrecht Bd. 6 (1990), S. 21, 36).

29

Allgemein wird die herausragende und existentielle Bedeutung der Beziehung zum getrennt lebenden Elternteil betont (Hansen, a.a.O., S. 45 ff. zu den Auswirkungen auf Kinder mit zahlreichen Nachweisen; Blesken, Prax.Kinderpsychol.Kinderpsychia., 47 (1998), 344, 347, 350; Franz u.a., Wenn der Vater fehlt ... , Zsch. Psychosom. Med. 45 (1999), S. 260 ff. zu neueren Untersuchungen über die Folgen der Abwesenheit des Vaters auf die Entwicklung des Kindes).

30

Vor dem Hintergrund der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur überwiegend dem Residenzmodell der Vorzug gegeben, um mit dem Wechsel verbundene Belastungen für das Kind zu vermeiden (Oelkers/Kasten, FamRZ 1993, 18, 20; Staudinger-Coester, 13. Aufl., § 1671 Rz. 145 a.E.; Motzer, a.a.O., III Rz. 43; Luthin, a.a.O., S. 59).

31

Aus den Ergebnissen der dargestellten Untersuchungen lässt sich eine allgemeine Beurteilung über die Vor- und Nachteile des Wechselmodells für das Kind kaum herleiten. Dies liegt zum einen daran, dass die Zahl der in die Studien einbezogenen Eltern und Kinder sehr gering war, sowie zum anderen daran, dass die Erhebungen bereits über 10 Jahre zurückliegen und sich ganz allgemein auf die gemeinsame elterliche Sorge bezogen haben. Dabei dürften neuere Erkenntnisse kaum vorliegen, zumal auch die Begründung des Kindschaftsrechtsreformgesetzes auf die Arbeit von Wallerstein und Blakeslee sowie die Gegenströmung hinweist (Furstenberg und Cherlyn, Geteilte Familien, 1993 und Maccoby und Mnookin, FamRZ 1995, 1 ff., deren Untersuchung eine Langzeitstudie von 1.100 Familien zugrunde liegt, die zwischen September 1984 und April 1985 einen Scheidungsantrag gestellt hatten. Das Residenzmodell hätten ca. 70 % der Familien gewählt, während das Wechselmodell lediglich von ca. 16 % praktiziert worden sei. Bei diesen Familien sei nach den im Beitrag nicht näher dargestellten tatsächlichen Grundlagen ein erhöhtes Konfliktpotential festgestellt worden, FamRZ 1995, 1, 3, 5.). In der Rechtsprechungsübersicht von Motzer (FamRZ 1999, 1101 ff.) sind ebenfalls keine weiterführenden Untersuchungen aufgeführt.

32

Aus diesen allgemeinen Daten zu den Auswirkungen des von den Eltern praktizierten Wechselmodells lässt sich jedoch nicht ableiten, dass dieses für das von der Trennung der Eltern betroffene Kind belastender sei als die Wahl des Residenzmodells. Insoweit darf die rechtliche Ausgestaltung einer bestehenden gemeinsamen elterlichen Sorge nicht mit konkreten Betreuungsebene vermengt werden (Hansen, a.a.O., S. 116). Nach den Ergebnissen der vorangestellten Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass der Wechsel zwischen zwei Wohnungen und Haushalten für das Kind mit Belastungen verbunden ist. Diesen Belastungen stehen jedoch Vorteile durch den fortbestehenden intensiven Kontakt zum anderen Elternteil gegenüber. Durch ein über längere Zeit gelebtes Wechselmodell kann der Verlust des einen Elternteiles zumindest teilweise kompensiert werden. Darüber hinaus müsste im Einzelfall geklärt werden, welche Verhaltensauffälligkeiten tatsächlich auf den Wechsel des Kindes in kürzeren als den üblichen zweiwöchentlichen Abständen zurückzuführen sind.

33

In welchem Umfang die auf den Wechsel beruhenden Schwierigkeiten überhaupt auftreten, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang dazu, wie die Eltern auf die Rückkehr des Kindes reagieren. Die von Wallerstein und Blakeslle dargestellten Unsicherheiten des Kindes können von den Eltern gerade im Falle einer längerfristigen Handhabung gemildert werden, so dass das Kind Vertrauen in die Situation entwickeln kann und die anfänglichen Verlustängste gemildert werden können. In diesem Sinn sind auch Wallersein und Blakeslee zu verstehen, wenn sie weniger auf das Aufenthaltsmodell als auf den Umstand abstellen, wie die Eltern die Trennuhgs- und Scheidungssituation verarbeitet haben.

34

Die Diskussion um die Vor- und Nachteile des Wechsel- oder Residenzmodell scheint, soweit auch von der Antragstellerin auf einen festen Lebensmittelpunkt abgestellt wird, einen Ursprung in der Auseinandersetzung um die Bindungstheorie oder systemisches Betrachtung des familiären Geschehens zu haben. Dabei wurde von der Bindungstheorie hervorgehoben, dass das Kind nach einer Trennung oder Scheidung eine Hauptbezugsperson benötige (vergl. Hansen, a.a.O., S. 16 ff. m.w.Nw.; Fthenais, Väter, Bd. I, S. 209 ff., 216 ff.). Die systemische Sicht des Scheidungsprozesses sieht demgegenüber in der Bindung nur einen Aspekt einer kompklexeren Eltern-Kind Beziehung, wobei es gelte, möglichst viel von dem bisherigen Beziehungsgeflecht zu erhalten (vergl. Hansen, a.a.O., S. 23 ff.; Staudinger-Coester, 12. Aufl., § 1671 Rz. 102 ff. jeweils m.w.Nw.). Vor diesem Hintergrund wird in der Kontinuität der Betreuung eine Voraussetzung der Stabilität der Beziehung mit der Folge gesehen (Hansen, a.a.O., S. 27 m.w.Nw.), dass nicht isoliert auf eine Hauptbezugsperson abzustellen ist.

35

Eine allgemeine, von der Einzelbetrachtung gelöste Beurteilung und Einschätzung im Sinne eines Vorrangs des Residenzmodells vor dem Wechselmodell ist daher nicht möglich. Die Erkenntnis der vorgenannten Untersuchungen liegt jedoch darin, Aspekte gewonnen zu haben, um die Vor- und Nachteile für das Kind im konkret zu entscheidenden Fall beurteilen zu können.

36

Die weiteren von der Antragstellerin geltend gemachten negativen Auswirkungen sind zu pauschal, um eine Änderung des Aufenthaltsbestimmungsrechts begründen zu können. Aufgrund der Anhörung und des Vortrags der Antragstellerin ist nicht erkennbar, dass die gegenwärtig praktizierte Regelung für unerträglich ist. Verhaltensaufälligkeiten wie Nervosität, häufiges Weinen oder häufigere Erkrankungen lassen keinen Rückschluss darauf zu, dass unter dem Wechsel des Wohnortes leide. Es spricht demgegenüber vieles dafür, dass das vorliegende Sorgerechtsverfahren und die damit für beide Elternteile verbundenen Spannungen sich auf übertragen haben und erneut zu Verlustängsten fuhren, die in den angeführten Verhaltensweisen ihren Ausdruck finden.

37

Die eingangs dargestellten Untersuchungen gingen davon aus, dass das Wechselmodell bei fortbestehender gemeinsamer Sorge und der bestehenden Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Elternteile praktiziert werde. Die Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft zwischen den Parteien besteht zur Zeit aufgrund der im Scheidungsverfahren im Bericht des Jugendamts geschilderten gegensätzlichen Darstellungen zu ihrer Lebensbeziehung nicht. Vorliegend ist jedoch eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht deswegen erforderlich, weil die Voraussetzungen für eine gemeinsame elterliche Sorge fraglich erscheinen. Auch wenn die Kommunikationmöglichkeit und Kooperationsbereitschaft grundsätzlich für das Wechselmodell erforderlich sein wird, kann hiervon im vorliegenden Anordnungsverfahren abgesehen werden, weil Entscheidungen von erheblicher Bedeutung (§ 1687 Abs. 1 Satz 1 BGB) für nicht anstehen und beide Eltern das Wechselmodell trotz der bestehenden Kommunikationsschwierigkeiten seit längerer Zeit praktiziert haben. Ob hieran auf Dauer festgehalten werden kann, ohne dass die Parteien die gescheiterte Paarberatung wieder aufnehmen, scheint zweifelhaft, bedarf jedoch hier keiner Entscheidung.

38

Im Rahmen einer Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Anhörung von ersichtlich ist, dass er eine gute, über längere Zeit gewachsene Beziehung zu seinem Vater hat. Würde der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, führte dies zu einer schweren Beeinträchtigung in der Beziehung zu seinem Vater. Hier würde erneut einen Verlust einer seiner Hauptbezugspersonen erleben. Daher wird in einer Elternvereinbarung zu Recht eine gewichtiges Indiz für eine Entscheidung gemäss § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB gesehen, auch wenn die Zustimmung nach Nr. 1 frei widerruflich ist (Staudinger-Coester, 13. Aufl., § 1671 Rz. 61, 82).

39

Dass sich der Antragsgegner intensiv um kümmert, wird nicht nur aus der Regelung der Eltern einerseits deutlich, sondern ergibt sich andererseits auch daraus, dass er die Mutter-Kind-Kur Mitte des Jahres für die Kindesmutter organisiert und während dieser Zeit einmal besucht hat. Im Rahmen der Besuche fanden an den drei Tagen auch gemeinsame Fahrten in die Schweiz, zum Titisee und zum Schluchsee statt.

40

Im Rahmen der Anhörung von konnte sein Wille nicht näher ermittelt werden. Den Wunsch die bisherige Situation zu ändern, hat er nicht zum Ausdruck gebracht. Die Bindungen des Kindes zu beiden Eltern, die Möglichkeit der Förderung durch beide Elternteile und die Dauer der bisher geübten Aufenthaltsregelung sprechen dafür, das Wechselmodell - vorbehaltlich einer abweichenden Hauptsacheentscheidung - vorerst nicht zu ändern. Allerdings sollten die Parteien überlegen, ob eine Änderung der Wochenendregelung in der Weise geboten sein könnte, dass sich nicht jedes Wochenende bei dem Antragsgegner aufhält und kein Wochenende mit der Antragstellerin verbringen kann, worauf die Antragstellerin auch bei ihrer ersten Anhörung abstellte.

41

Über den Antrag des Antragsgegners, ihm das Aufenthaltsbestimmugnsrecht zu übertragen, war nicht zu entscheiden, da der Antrag lediglich hilfsweise gestellt war und im übrigen die Ausführungen auch für die Mutter-Kind-Beziehung Geltung haben.