Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 17.04.2018, Az.: L 15 AS 9/18 B ER

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.04.2018
Aktenzeichen
L 15 AS 9/18 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74532
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 21.12.2017 - AZ: S 29 AS 819/17 ER

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Daueraufenthaltsrecht familienangehöriger Unionsbürger bestimmt sich nach dem Tod des Unionsbürgers, bei dem sie im Zeitpunkt seines Todes ihren ständigen Aufenthalt hatten, ausschließlich nach den Voraussetzungen des § 4a Abs. 3 FreizügG/EU.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. Dezember 2017 aufgehoben. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 19. Dezember 2017 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. Dezember 2017 wird abgelehnt.

Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., Osnabrück, und ohne Ratenzahlung bewilligt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Osnabrück vom 21. Dezember 2017 ist zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt, und auch begründet. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse des Antragsgegners und Beschwerdeführers liegt vor, auch wenn sich die Wirkung des angefochtenen Bescheides auf den Zeitraum bis Ende Januar 2018 beschränkt. Denn der Antragsgegner hat im Hinblick auf den stattgebenden Beschluss des SG Leistungen nur vorläufig und vorbehaltlich des Ausgangs des hiesigen Beschwerdeverfahrens bis Ende Januar 2018 bewilligt.

Das SG hat zu Unrecht die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6. Dezember 2017 angenommen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil sich der angefochtene Bescheid bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig erweist und deshalb das öffentliche Interesse am Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes das private Suspensivinteresse der Antragstellerin überwiegt.

Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 1. Alt. Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist, dass die Interessen des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse am Vollzug des Bescheides ausnahmsweise überwiegen. Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erfolgt damit auf Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individualinteressen und öffentlichen Interessen dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen oder wenn ausnahmsweise besondere Interessen überwiegen.

Die Antragstellerin kann kein gewichtiges Interesse geltend machen, vom Vollzug des Verwaltungsaktes, mit dem der Antragsgegner die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Wirkung vom 1. Januar 2018 aufgehoben hat, verschont zu werden. Sie hat als nicht erwerbstätige Ehefrau des am 8. November 2017 verstorbenen G., mit dem sie gemeinsam am 1. Juni 2016 in das Bundesgebiet eingereist war und der infolge einer geringfügigen Beschäftigung den hierzu erforderlichen Arbeitnehmerstatus hatte, in Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II seit 1. Juni 2016 bezogen. Zuletzt waren der Antragstellerin und ihrem verstorbenen Ehemann mit Bescheid vom 19. Juli 2017 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1. August 2017 bis 31. Januar 2018 in Höhe von 986 € monatlich gewährt worden. Mit Bescheid vom 24. November 2017 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin allein Leistungen vom 1. Dezember 2017 bis 31. Januar 2018 unter teilweiser Aufhebung der zuvor ergangenen Bewilligungen in Höhe von 939 € monatlich und hörte sie mit weiterem Schreiben vom selben Tag zu der beabsichtigten Aufhebung der Leistungsbewilligung infolge des Todes ihres Ehemannes mit Wirkung vom 1. Januar 2018 an. Die Antragstellerin bat darum, die Leistungen für sechs Monate weiter zu gewähren, da sie zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes hierauf angewiesen sei. Mit Bescheid vom 6. Dezember 2017 hob der Antragsgegner die Leistungsbewilligung ab dem 1. Januar 2018 auf, weil die Antragstellerin nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Über den hiergegen erhobenen Widerspruch hat der Antragsgegner – soweit ersichtlich – bisher nicht entschieden. Das SG hat mit Beschluss vom 21. Dezember 2017 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6. Dezember 2017 angeordnet, weil die Antragstellerin sich auf ein Aufenthaltsrecht aus § 3 Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) berufen könne. Das in dieser Vorschrift geregelte Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Unionsbürgers nach dessen Tod, die nicht selbst Unionsbürger seien, müsse im Wege teleologischer Reduktion des § 7 Abs.1 S. 2 Nr. 2 b SGB II hier ebenfalls Wirkung entfalten, da es ansonsten zu einer Schlechterstellung von Unionsbürgern gegenüber Nicht-Unionsbürgern komme.

Zwar erfüllt die Antragstellerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S.1 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II nicht erreicht, ist hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragstellerin ist als H. Staatsangehörige jedoch nach dem Tod ihres Ehemannes, der als Arbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU hatte und mit dem sie seit der Einreise in das Bundesgebiet am 1. Juni 2016 bis zu seinem Tod am 8. November 2017 gemeinsam in der Bundesrepublik Deutschland lebte, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 (BGBl I 3155).

Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die

a) kein Aufenthaltsrecht haben,

b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, oder

c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b) aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitsnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27. Mai 2011, S.1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22. April 2016, S.1) geändert worden ist, ableiten und ihre Familienangehörigen.

Die Antragstellerin hätte als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin allein ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des FreizügG/EU nur als Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU oder zwecks Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 a) FreizügG/EU. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU erfüllt die Antragstellerin jedoch nicht, weil sie nicht erwerbstätig ist. Sie ist auch nicht zum Zweck der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie ist vielmehr als nicht erwerbstätige Ehefrau ihres erwerbstätigen, nunmehr verstorbenen Ehemannes eingereist, so dass sich ihr aufenthaltsrechtlicher Status nach § 2 Abs. 2 Nr. 5, Nr. 6 und Nr. 7 FreizügG/EU bestimmt. Danach sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU und Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU, sowie Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben haben. Nicht erwerbstätige Unionsbürger genießen nach diesen Vorschriften grundsätzlich nur dann Freizügigkeit, wenn sie über ausreichende finanzielle Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK, SGB II, 4. Auflage 2015, Stand 8. Januar 2018, § 7 Rn. 96).

Die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU erfüllt die Antragstellerin nicht, denn sie verfügt gerade nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel. Ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 3 FreizügG/EU hat sie nicht erworben. Nach dieser Vorschrift haben Familienangehörige eines nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten, verstorbenen Unionsbürgers, die im Zeitpunkt seines Todes bei ihm ihren ständigen Aufenthalt hatten, das Daueraufenthaltsrecht, wenn

1. der Unionsbürger sich im Zeitpunkt seines Todes seit mindestens zwei Jahren im Bundesgebiet ständig aufgehalten hat,

2. der Unionsbürger infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit gestorben ist oder

3. der überlebende Ehegatte oder Lebenspartner des Unionsbürgers Deutscher nach Art. 116 des Grundgesetzes ist oder diese Rechtsstellung durch Eheschließung mit dem Unionsbürger vor dem 31. März 1953 verloren hat.

Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin ersichtlich nicht.

Entgegen der Auffassung des SG kann die Antragstellerin sich hinsichtlich eines Aufenthaltsrechts auch nicht auf eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 3 S. 1 FreizügG/EU berufen. Diese Vorschrift beinhaltet für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die selbst nicht Unionsbürger sind, beim Tod des Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 FreizügG/EU erfüllen und sich vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr als seine Familienangehörigen im Bundesgebiet aufgehalten haben. Unabhängig davon, dass der Gesetzgeber das Daueraufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Unionsbürger nach dem Tod ihres Ehegatten abschließend in § 4a Abs. 3 FreizügG/EU geregelt hat, so dass für eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 3 S. 1 FreizügG/EU kein Raum bleibt, würde auch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift der Antragstellerin kein Aufenthaltsrecht verschaffen, weil sie die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 FreizügG/EU gerade nicht erfüllt.

Die vom SG angenommene Schlechterstellung von familienangehörigen Unionsbürgern gegenüber familienangehörigen Nicht-Unionsbürgern beim Tod des Unionsbürgers, den sie begleitet haben oder dem sie nachgezogen sind, kann der Senat nicht erkennen:

Der Gesetzgeber hat mit dem FreizügG/EU vom 30. Juli 2004, gültig ab 1. Januar 2005, die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, gültig ab 30. April 2004 (Unionsbürgerrichtlinie <UBRL>) umgesetzt. Art. 12 UBRL enthält Maßgaben zur Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers. Grundsätzlich berührt der Tod oder Wegzug eines Unionsbürgers danach nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen. Bevor die Betroffenen ein Daueraufenthaltsrecht erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a), b), c) oder d) UBRL erfüllen, mithin für sich selbst und ihren Lebensunterhalt sorgen können, ohne auf Sozial(hilfe)leistungen des Aufnahmemitgliedsstaates angewiesen zu sein. Entsprechendes gilt gemäß Art. 12 Abs. 2 UBRL für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, allerdings unter der weiteren (zusätzlichen) Voraussetzung, dass sie sich als Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben. Die UBRL selbst enthält daher keine Privilegierung von Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, gegenüber familienangehörigen Unionsbürgern.

Das FreizügG/EU setzt in den oben bereits genannten Vorschriften diese Maßgaben vollständig um. Allerdings hat der Gesetzgeber für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die selbst Unionsbürger sind, in § 4a Abs. 3 FreizügG/EU eine über Art. 12 UBRL hinausgehende Regelung geschaffen, indem er ihnen ein Daueraufenthaltsrecht unter den dort aufgeführten Voraussetzungen und unabhängig von den Maßgaben des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU gewährt.

Da folglich im Falle der Antragstellerin sich aus dem FreizügG/EU oder dem AufenthG ergebende Aufenthaltsrechte nicht in Betracht kommen, ist vom Vorliegen eines Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b SGB II auszugehen. An seiner Rechtsprechung, dass der bei Fehlen eines anderweitigen Aufenthaltsrechts sowohl auf arbeitsuchende wie auf wirtschaftlich passive Unionsbürger anwendbare Leistungsausschluss nach der Vorgängerregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II a.F. in keinem dieser beiden Anwendungsfälle gegen EU-Recht verstößt und daher Leistungsansprüche nach dem SGB II wirksam ausschließt, hält der Senat auch in Ansehung der Neuregelung des § 7 SGB II mit dem Gesetz vom 22. Dezember 2016 fest (grundlegend: Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Der Antragstellerin ist für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen. Sie kann nach den von ihr ausgefüllten Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Kosten der Rechtsverfolgung im Beschwerdeverfahren nicht, auch nicht teil- oder ratenweise tragen (§ 73a SGG i.V.m. § 114 S. 1, 1. Halbsatz, 1. Alt. Zivilprozessordnung <ZPO>). Da der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat, hat die Bewilligung unabhängig von der Frage der Erfolgsaussichten zu erfolgen (§ 119 Abs. 1 S. 2 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).