Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 22.03.1989, Az.: 9 U 44/88

Verletzung der Verkehrssicherungspflicht; Streupflicht von Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften; Streupflicht für Bundesstraßen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
22.03.1989
Aktenzeichen
9 U 44/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1989, 20132
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1989:0322.9U44.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 17.12.1987 - AZ: 2 O 146/87

Fundstelle

  • NJW 1989, 3287-3288 (Volltext mit amtl. LS)

In dem Rechtsstreit
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 8. März 1989
durch
die Richter am Oberlandesgericht
... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen vom 17. Dezember 1987 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.492,63 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27. Februar 1987 zu zahlen; im übrigen werden die Klage abgewiesen und das weitergehende Rechtsmittel zurückgewiesen.

Mit Ausnahme der Kosten der Verweisung des Rechtsstreits vom Amtsgericht Herzberg an das Landgericht Göttingen hat die Beklagte 73 % der Kosten der ersten Instanz und 92 % der Kosten der zweiten Instanz zu tragen; im übrigen treffen den Kläger die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1

Die Berufung hat im wesentlichen Erfolg.

2

I.

Die Beklagte hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil der Einmündungsbereich der ... Straße in die Bundesstraße 243 in ... wo der Kläger am 20. Januar 1987 gegen 14.50 Uhr mit seinem Pkw auf schnee- und eisglatter Fahrbahn ins Rutschen geriet und gegen einen auf der Bundesstraße von links kommenden Lkw stieß, unstreitig nicht gestreut war (vgl. die Fotos vom Unfalltage in Hülle Bl. 21 und 38 d.A., die Unfallskizze des Klägers Bl. 5 d.A. sowie die mit der Berufung vorgelegten Fotos des Einmündungsbereichs und seiner Umgebung Bl. 114 ff d.A.).

3

1.

Zwar besteht eine Streupflicht auch innerhalb geschlossener Ortschaften nur an solchen Straßenstellen, deren Gefahren der Kraftfahrer auch mit der im Winter gebotenen besonderen Aufmerksamkeit und Vorsicht nicht rechtzeitig zu erkennen und zu bewältigen vermag, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat. Der Einmündungsbereich, an dem sich der hier in Rede stehende Unfall zugetragen hat, ist übersichtlich und eben; die Straßenverhältnisse bieten daher von ihrer baulichen Anlage her keine besonderen Schwierigkeiten. Am Unfalltage herrschte Frost; der Einmündungsbereich war nach dem Vorbringen des Klägers mit einer Eisschicht überzogen, über der sich teilweise eine dünne Schneedecke befand. Durch das Abbremsen und-Anfahren von Fahrzeugen sei die Fahrbahn extrem glatt geworden, so daß auch ein dem Kläger nachfolgendes Fahrzeug nach dem Unfall trotz eingeschaltetem Blinklicht und aufgestelltem Warndreieck in die Rückfront des klägerischen Fahrzeugs hineinrutschte. Auch diese jetzt zum Teil bestrittenen Umstände begründen aber für sich genommen noch nicht die Gefährlichkeit dieses Straßenteils. Das Landgericht hat mit Recht darauf hingewiesen, es sei allgemein bekannt, daß wegen ständigen Bremsens und Anfahrens von Fahrzeugen im Einmündungsbereich von Straßen Eisflächen entstehen können, darauf könne und müsse sich jeder Autofahrer einstellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist von dem Lebenserfahrungssatz auszugehen, daß Gefahren auch einer eisglatten Fahrbahn selbst in Kurven in der Regel durch besondere Vorsicht bei der Beobachtung der Fahrbahn und der Lenkung des Fahrzeug begegnet werden kann (BGH VersR 1971, 842). Der Kläger hat nicht dargetan, mit welcher Geschwindigkeit genau er sich der Vorfahrtsstraße genähert hat, sondern spricht lediglich davon, "langsam" gefahren zu sein (Bl. 2, 76 d.A.). Bei Schrittgeschwindigkeit (6 km/h) und entsprechend sanftem Anfahren und Abbremsen läßt sich ein Fahrzeug in aller Regel aber auch auf eisglatter Fahrbahn beherrschen.

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2.

Anders als in dem vom Landgericht beigezogenen, früher vom Senat entschiedenen Fall (8 O 90/85 LG Göttingen; 9 U 278/85 OLG Celle) handelt es sich hier aber um eine stark benutzte Einmündung in eine Bundesstraße. Die (einmündende) ... Straße nimmt nach dem erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten zu etwa 60 bis 70 % den Verkehr zwischen dem Stadtteil ... einerseits und der Kernstadt ... andererseits auf (Bl. 42 d.A.). Wie die mit der Berufung überreichten Fotos des Klägers zeigen, liegen in unmittelbarer Nähe der Einmündung an der Bundesstraße eine Großtankstelle, ein Einkaufszentrum und eine Grundschule. Sein Vortrag, zur Unfallzeit habe es sich um eine Verkehrsspitzenzeit gehandelt, nämlich der Haupteinkaufszeit ebenso wie auch der Zeit des Schichtwechsels in dem angrenzenden Industriegebiet (Bl. 111 d.A.), ist von der Beklagten nicht bestritten worden. Bei einer derartig hohen Verkehrsbelastung wird die Aufmerksamkeit der Kraftfahrer auch von anderen Umständen als den winterlichen Straßenverhältnissen stark beansprucht. Äußerst langsames und vorsichtiges Fahrverhalten führt alsbald zu einem größeren Verkehrsstau, der zusätzliche Risiken schafft. Da schon geringste Fahrfehler unter diesen Bedingungen auf eisglatter Fahrbahn zu Unfällen führen, wird der einzelne Kraftfahrer überfordert und kann der Verkehr überhaupt zum Erliegen kommen, wenn die Fahrbahn nicht durch ausreichendes Räumen und Streuen sicher gemacht wird. Daß sich die Gefährlichkeit eines Straßenteiles i.S.v. § 52 Abs. 1 Satz 3 c Nds.StrG auch aus einer besonders hohen Verkehrsbelastung ergeben kann, die bei winterlichen Straßenverhältnissen ohne ausreichendes Räumen und Streuen zu einem Verkehrschaos führt, steht nicht in Widerspruch mit der gesetzlichen Bestimmung, daß die Streupflicht eine Gefährlichkeit der betreffenden Straßenstelle voraussetze, die zu einem nicht nur unbedeutenden Verkehr als weiteres Erfordernis hinzutreten muß. Von einer derartigen Doppelverwertung der Verkehrsbedeutung und der aktuellen Verkehrslage ist der Senat auch in seinem Urteil vom 21. Dezember 1988 ausgegangen (Nds.Rpfl 1989, 37 f. unter II. 2.).

5

Ob die Auffassung zutrifft, daß der Einmündungsbereich unter allen Umständen auch zum Schutz der Verkehrsteilnehmer auf der Bundesstraße vor einem Hereinrutschen von Fahrzeugen aus der Nebenstraße gestreut werden müsse (so OLG Stuttgart NJW 1987, 1831 [OLG Stuttgart 16.12.1986 - 10 U 116/86]; a. A. OLG Frankfurt (Senat Kassel) NJW 1988, 2546 f; OLG Hamburg NJW 1988, 3212 f; Schmid, NJW 1988, 3180), kann dahinstehen. Der Bundesgerichtshof hat zur Abwendung dieses Risikos bisher lediglich gefordert, die Bundesstraße selbst schon ein beträchtliches Stück vor einem Einmündungsbereich zu streuen (LM § 823 (Dc) BGB Nr. 18; VersR 1961, 87 ff.).

6

Da sich hier aus der hohen Verkehrsbelastung die Gefährlichkeit der Einmündung bei Glatteis ergibt, hätte sie gestreut werden müssen. Unstreitig ist die ... Straße am Unfalltage aber nicht gestreut worden. Die Beklagte, die den Winterdienst durch einen beauftragten Unternehmer ausführen läßt, trifft zumindest fahrlässsiges Verschulden; Gesichtspunkte zu ihrer Entlastung hat sie nicht vorgetragen.

7

II.

Der Kläger hat gemäß § 254 BGB auch für die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs einzustehen, wie er in zweiter Instanz selbst einräumt. Darüber hinaus läßt sich ein konkretes Verschulden des Klägers nicht feststellen. An einer derartigen Einmündung durfte der Kläger damit rechnen, daß die Straßenglätte durch Streugut vermindert war, wie es auch der regelmäßigen Übung der Beklagten entsprach (Bl. 20, 27, 108 f. d.A.). Zwar spricht der Umstand, daß er ins Rutschen geriet, dafür, daß er nicht behutsam genug gefahren ist; daraus kann ihm indessen ohne nähere Anhaltspunkte, die von der Beklagten weder vorgetragen noch ersichtlich sind, an einer so verkehrsreichen Stelle jedenfalls kein ins Gewicht fallender Vorwurf gemacht werden. In Abwägung gegenüber dem Verschulden, das die Beklagte trifft, erscheint ein Mithaftungsanteil des Klägers in Höhe von 1/4 angemessen.

8

III.

Zur Höhe des Schadens hat der Kläger unwidersprochen vorgetragen, daß der - nach dem hier in Rede stehenden Unfall erfolgte - Anstoß eines weiteren Fahrzeugs an das Heck des klägerischen Fahrzeugs nur einen ganz geringen Schaden zur Folge gehabt und insbesondere den Frontschaden nicht erhöht habe (Bl. 2 d.A.). Das - im Auftrag der Beklagten (vgl. die Beiakte H 3/87 AG Herzberg, Bl. 14 f) erstellte - Sachverständigengutachten (Bl. 9 ff) gelangt zu der Feststellung, daß eine Reparatur allein des Frontschadens des im Unfallzeitpunkt 8 1/2 Jahre alten Wagens wirtschaftlich nicht mehr vertretbar sei, sondern ein Totalschaden vorliege. Der Kläger beziffert auf der Grundlage des Gutachtens den Wiederbeschaffungspreis zuzüglich Mehrwertsteuer und abzüglich des Restwerts zutreffend auf2.799,- DM.

9

Er verlangt weiter eine Nutzungsausfallentschädigung für die Zeit der Wiederbeschaffung, die im Gutachten mit ca. 8 Arbeitstagen geschätzt wird (Bl. 16 d.A.). Der Kläger fordert dagegen einen Ausgleich nur für 8 Kalendertage. Er hat belegt, daß er am 30. Januar 1987 ein neues Fahrzeug bestellt und am 18. Februar 1987 erhalten und zugelassen hat (Bl. 128, 134, 133 d.A.). Danach erscheint die Dauer der vom Kläger geltend gemachten Nutzungsausfallentschädigung berechtigt.

10

Da das verunglückte Fahrzeug älter als 5 Jahre war, kann der Kläger als Entschädigungssatz pro Tag lediglich den für die nächstniedrigere Fahrzeugklasse nach der Tabelle von Sanden und Danner geltenden Satz verlangen (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 46. Aufl., Anh. zu § 249 Anm. 2). Demnach ist nicht von 63 DM auszugehen, die der Kläger verlangt, sondern nur von 54 DM. Für 8 Tage ergeben sich432,- DM.

11

Für Ab- und Anmeldekosten stehen dem Kläger62,30 DM zu, die er mit einer entsprechenden Bescheinigung belegt hat (Bl. 142 d.A.). Darüber hinaus kann er für die mit einem derartigen Unfall nach der Lebenserfahrung verbundenen weiteren Unkosten ein Pauschalbetrag von 30 DM verlangen, jedoch ohne näheren Nachweis nicht mehr.

12

Von seinem Gesamtschaden, der sich danach auf 3.323,50 DM beläuft, hat die Beklagte im Hinblick auf das Mitverschulden des Klägers allerdings nur 3/4 zu tragen, das sind: 2.492,63 DM.

13

Ferner stehen dem Kläger gemäß §§ 288, 291 BGB auf diesen Betrag die von ihm ab Rechtshängigkeit verlangten 4 % Zinsen zu.

14

IV.

Dementsprechend waren die Verfahrenskosten erster und zweiter Instanz zu quoteln (§§ 97, 92 ZPO). Dabei war für die erste Instanz § 281 Abs. 3 Satz 2 ZPO zu berücksichtigen (vgl. Bl. 28 R d.A.).

15

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Beschwer für den Kläger:228,97 DM, Beschwer für die Beklagte: 2.492,63 DM