Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 14.08.2023, Az.: L 6 U 69/22

Bewiesenheit der für die Gewährung einer höheren Verletztenrente erforderlichen Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit; Prüfung des Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
14.08.2023
Aktenzeichen
L 6 U 69/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 47178
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2023:0814.6U69.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 23.03.2022 - AZ: S 19 U 224/18

Redaktioneller Leitsatz

Die für die Gewährung einer höheren Verletztenrente erforderliche Gesundheitsstörung, die der Bewertung der MdE zugrunde liegt, muss als solche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein. Nur für die Prüfung des Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall ist der Beweismaßstab der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit als ausreichend anzusehen.

In dem Rechtsstreit
A.
- Kläger und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigter:
B.
gegen
Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover,
Am Mittelfelde 169, 30519 Hannover
- Beklagter und Berufungsbeklagter -
hat der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 14. August 2023 in Celle durch Richter C., Richterin D. und Richter Dr E. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 23. März 2022 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Streitig ist höhere Verletztenrente.

Der im Jahr 1997 geborene Kläger stürzte am 18. Februar 2016 auf einer Klassenfahrt beim Skifahren (Unfallanzeige vom 22. Februar 2016). Dabei erlitt er eine vordere Kreuzbandruptur rechts mit Riss des Außenmeniskushinterhorns, die operativ versorgt wurde (Krankenbericht vom 15. März 2016). Da sich die Beschwerden nicht besserten, erfolgte Ende des Jahres 2016 eine Revisions-Kreuzbandplastik (Krankenbericht vom 24. Dezember 2016), die keine wesentliche Besserung brachte. Deshalb wurde die weitere Arthroskopie vom 18. August 2017 erforderlich (Krankenbericht vom 21. August 2017), an die sich eine medizinische Rehabilitation anschloss (erster Reha-Plan vom 1. September 2017). Nach Anhörung des Klägers beauftragte der Beklagte zur Feststellung der Unfallfolgen drs F. mit der Erstattung der unfallchirurgisch-orthopädischen Gutachten nach ambulanter Untersuchung vom 27. März 2017 und 11. Januar 2018. Darauf gestützt erkannte er als Folgen des Arbeitsunfalls vom 18. Februar 2016 an: Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk, Kraft- und Umfangsverminderung am rechten Oberschenkel, geringe vordere Instabilität des rechten Kniegelenkes, Narbenbildung nach operativer Behandlung am rechten Knie sowie leichte Belastungsminderung im rechten Bein nach operativ, mittels VKB-Plastik versorgter vorderer Kreuzbandruptur rechts mit Außenmeniskusteilresektion unter nachfolgender Revisions-VKB-Plastik rechts und bewilligte mit dem Bescheid vom 27. Februar 2018 Rente als vorläufige Entschädigung ab dem 19. Februar 2016 gestaffelt, ab dem 10. Mai 2016 bis zum 9. Oktober 2017 in Höhe von (iHv) 30 vom Hundert (vH) und danach iHv 20 vH der Vollrente. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. September 2018).

Gegen die am 25. September 2018 zur Post gegebene Entscheidung hat der Kläger am 26. Oktober 2018 vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück Klage erhoben.

Der Beklagte hat mit Bescheid vom 23. Oktober 2018, den er am 24. Oktober 2018 zur Post gegeben hat, Verletztenrente auf unbestimmte Zeit in unveränderter Höhe bewilligt. Der Entscheidung zugrunde hat das nach ambulanter Untersuchung erstattete unfallchirurgisch-orthopädische Gutachten des drs F. vom 8. Oktober 2018 gelegen. Der Gutachter hat im Vergleich zur Gegenseite eine Streckminderung von 10 Grad und eine Beugeminderung von 25 Grad sowie eine allenfalls leicht- bis mäßiggradige Instabilität von 1- bis 2fach plus erhoben. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hat er unverändert auf 20 vH eingeschätzt.

In den Monaten April und Oktober 2019 hat der Kläger erneut operiert werden müssen (Krankenberichte vom 30. April und 12. November 2019).

Anschließend hat das SG das nach ambulanter Untersuchung erstattete orthopädisch-unfallchirurgische Gutachten des Dr G. vom 1. April 2020 eingeholt. Der Sachverständige hat eine Minderbelastbarkeit des rechten Kniegelenks mit wiederkehrenden Bewegungs- und Belastungsarthralgien, endgradiger Bewegungsbeeinträchtigung, Muskelminderung sowie endgradiger Bandinstabilität nach wiederholt durchgeführter vorderer Kreuzbandersatzplastik und Entwicklung eines anlaufenden degenerativen Kniegelenkschadens sowie gefühlsgeminderter Narbenbildungen diagnostiziert und ausgeführt: Nach Durchführung der vorderen Kreuzbandersatzplastik am 8. März 2016 sei es zu einem verlängerten Heilungsverlauf mit der Notwendigkeit weiterer operativer Maßnahmen, zuletzt am 8. Oktober 2019 gekommen. Die Eingriffe seien aufgrund immer wieder auftretender Beschwerdezunahmen und Instabilitäten, die trotz umfangreicher physiotherapeutischer Maßnahmen nicht hätten aufgefangen werden können, erfolgt. Nach der nunmehr letzten stabilisierenden Operation bestehe noch eine endgradige Einschränkung der Kniegelenkbeweglichkeit bei guter Kniebandführung ohne Nachweis beurteilungsrelevanter Instabilitäten und bei noch geringgradiger Minderung der Oberschenkelmuskulatur rechts gegenüber links um 2 cm. Nach den Beurteilungskriterien der gesetzlichen Unfallversicherung erfolge die Beurteilung von Unfallschäden unter rein funktionellen Aspekten. Deshalb lasse sich aus gutachterlicher Sicht ab dem 27. März 2017 eine höhere MdE als 20 vH nicht begründen. Eine Verschlechterung der Situation sei mit der Vorstellung im Universitätsklinikum H. am 19. März 2019 dokumentiert. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich eine Kniebandlockerung und eine deutliche Einschränkung der Kniegelenkbeweglichkeit gefunden. Deshalb seien stationäre Behandlungen zur Durchführung einer arthroskopischen Operation erfolgt. Die dazu dokumentierten Untersuchungsbefunde rechtfertigten bis zur aktuellen Untersuchung am 30. März 2020 eine MdE um 30 vH.

Anschließend hat das SG auf Antrag des Klägers das nach ambulanter Untersuchung erstattete orthopädisch-unfallchirurgische Gutachten des Prof Dr I. vom 7. Dezember 2020 eingeholt. Der Sachverständige hielt ein geringes Streckdefizit des rechten Kniegelenkes mit schmerzhaftem Beugedefizit ab 90 Grad und eine Eins-Plus-Kreuzbandinstabilität rechts fest. Die MdE schätzte er ab dem 10. Mai 2016 auf Dauer auf 30 vH. Zur Begründung führte er aus: Unter Berücksichtigung der anerkannten Erfahrungssätze erreiche die Beweglichkeitseinschränkung eine MdE um 20 vH. Die beim Kläger zusätzlich festzustellende Belastungsinsuffizienz des Kniegelenkes führe nachvollziehbar zur Notwendigkeit des Tragens einer Knieführungsschiene, wobei grundsätzlich festzustellen sei, dass der Kläger sich auf das rechte Kniegelenk nicht mehr verlassen könne. Als Standbein falle es im zuverlässigen Gebrauch aus, die Muskulatur kompensiere von Anfang an nicht die längerfristig bereits bekannte dynamische Instabilität. Somit sei die Nutzbarkeit des Kniegelenkes über den Umstand der ausschließlichen Beweglichkeitseinschränkung hier mit 0-10-90 Grad weiter eingeschränkt und erreiche aufgrund der als erwiesen anzusehenden Unzuverlässigkeit den in den Erfahrungssätzen angegebenen Wert von 30 vH.

Dem ist der Sachverständige Dr G. in der ergänzenden Stellungnahme vom 20. April 2021 entgegengetreten: Die von Prof Dr I. übermittelten Befundergebnisse ließen sich weder beim Vergleich zu vorausgegangenen noch im Vergleich zu nachfolgenden Untersuchungen bestätigen. Eine gezielte Überprüfung der Bandstabilität sei nicht erfolgt.

Demgegenüber hat der Sachverständige Prof Dr I. in der ergänzenden Stellungnahme vom 3. August 2021 an seiner MdE-Schätzung festgehalten: Er habe nicht von einer Knieinstabilität, sondern von einem komplexen frustranen klinischen Ergebnis mit dynamischem Instabilitätsgefühl berichtet. Die MdE sei deshalb nicht allein nach dem Bewegungsumfang zu bewerten.

Das SG ist der Beurteilung des Sachverständigen Dr G. gefolgt und hat den Beklagten durch Urteil vom 23. März 2022 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 19. März 2019 bis 29. März 2020 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Denn die Ausführungen des Sachverständigen Prof Dr I. überzeugten nicht: Nach den Berichten des UKE über die ambulanten Vorstellungen am 10. Juni und 4. September 2020 habe eine freie Beweglichkeit des rechten Kniegelenkes bestanden. Auch Hinweise für eine zentrale oder seitliche Instabilität hätten sich nicht gefunden. Die Außen- und Innenbänder seien in der Stabilitätsprüfung seitengleich und ohne pathologische Aufklappbarkeit gewesen.

Gegen das am 30. März 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. April 2022 eingelegte Berufung, die der Kläger auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof Dr I. und auf überreichte aktuelle medizinische Befunde, insbesondere den Entlassungsbericht der Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des UKE über die erneut erforderliche Operation am 20. Dezember 2022, die für diese Beurteilung sprächen, stützt.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

das Urteil des SG Osnabrück vom 23. März 2022 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, Verletztenrente über den 9. Oktober 2017 hinaus und auf unbestimmte Zeit in Höhe von 30 vH der Vollrente zu zahlen.

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 23. März 2022 zurückzuweisen.

Der Vorsitzende hat die Beteiligten durch Verfügung vom 29. März 2023 darauf hingewiesen zu beabsichtigen, dem Senat vorzuschlagen, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Er halte eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich und gebe Gelegenheit zur Stellungnahme, die der Kläger mit den Schriftsätzen vom 17. und 19. April 2023 genutzt hat.

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten des Beklagten vorgelegen. Sie sind Grundlage der Entscheidung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

II.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und somit insgesamt zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen, § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Das SG hat die Klage, soweit sie auf Zahlung von Verletztenrente in Höhe von 30 vH der Vollrente auch für die Zeit vor dem 19. März 2019 und nach dem 29. März 2020 gerichtet ist, zu Recht abgewiesen. Der Senat folgt den überzeugenden und im Einzelnen zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil, § 142 Abs 2 Satz 3 SGG. Lediglich im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren ist auszuführen:

Bereits das SG hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Gesundheitsstörung, die der Bewertung der MdE zugrunde liegt, als solche voll, dh mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein muss. Lediglich für die Prüfung des Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall genügt der Beweismaßstab der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit. Unter Berücksichtigung der von dem Sachverständigen Dr G. und den im UKE erhobenen Befunden können die von dem Sachverständigen Prof Dr I. erhobenen Befunde nicht als gesichert angesehen werden. Auch der im Berufungsverfahren überreichte Entlassungsbericht beschreibt keine Instabilität und eine gute Mobilisation nach dem erneuten operativen Eingriff am 20. Dezember 2022, die im letzten hier vorliegenden Durchgangsarztbericht vom 18. Juli 2023 mit 90 Grad bei stabilen Seitenbändern bestätigt worden ist und die die rentenberechtigende MdE um 20 vH rechtfertigt. Demgegenüber führt der aktuelle MRT-Befund vom 14. April 2023 nicht weiter. Denn entscheidend ist - darauf hat bereits der Sachverständige Dr G. aufmerksam gemacht - der funktionelle Befund.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegt nicht vor. -----------