Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.10.2011, Az.: 1 Ausl 31/11
Anwendbarkeit des § 119 StPO bei Prüfung der Zulässigkeit für Beschränkungen in Auslieferungshaftsachen in Niedersachsen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.10.2011
- Aktenzeichen
- 1 Ausl 31/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 26918
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2011:1019.1AUSL31.11.0A
Rechtsgrundlage
- § 119 StPO
Fundstelle
- NStZ 2012, 649-650
Amtlicher Leitsatz
Anders als in Untersuchungshaftsachen (vgl. OLG Celle, Nds. Rpfl. 2010, 127) richtet sich die Zulässigkeit für Beschränkungen in Auslieferungshaftsachen, die den Zweck der Auslieferungshaft betreffen, auch in Niedersachsen nach § 119 StPO.
In dem Auslieferungsverfahren ... hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Richter am Oberlandesgericht ... am 19. Oktober 2011 beschlossen:
Tenor:
Der Antrag auf Genehmigung der vom Leiter der JVA H. erfolgten Fesselung des Verfolgten während seines Aufenthaltes in der MHH H. wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die österreichischen Justizbehörden betreiben die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Der Senat hat auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft W. vom 2. Juli 2011 durch Beschluss vom 6. Oktober 2011 gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet und durch Beschluss vom 11. Oktober 2011 angepasst.
Danach wird dem Verfolgten vorgeworfen, am 23.06.2011 in W. einen Raub in Tatmehrheit mit einer versuchten Nötigung begangen zu haben, bei dem er mit vier weiteren unbekannten Tätern durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben dem G. P. eine fremde bewegliche Sache, nämlich 13 Gemälde in einem Gesamtwert von 172.000,-- Euro mit dem Vorsatz abgenötigt haben soll, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem dem Opfer gedroht wurde, dass die Beteiligten eine Waffe dabei hätten und sie zum Einsatz bringen würden, wenn er ihnen nicht den Zugangscode zum Lager seiner Gemäldesammlung geben würde, vor dem sich alle Beteiligten zum Tatzeitpunkt gerade befanden. Des Weiteren wurde das Opfer dazu genötigt, einen Schuldschein über EUR 140.000,-- zu unterschreiben. Weiterhin soll der Verfolgte nach der Tat den G. P. durch die weitere gefährliche Drohung, dass ihm und seiner Familie etwas zustoßen werde, wenn er eine Anzeige bei der Polizei erstatte, zu einer Unterlassung zu nötigen versucht haben.
Der Verfolgte wurde am 6. Oktober 2011 aufgrund des Europäischen Haftbefehls vom 2. Juli 2011 festgenommen und befindet sich wegen von ihm geäußerter Herzprobleme derzeit in der Medizinischen Hochschule H. unter Bewachung. Auf Anordnung der Leitung der JVA H. vom 7. Oktober 2011 ist der Verfolgte mittels einer sogenannten Laufkette an das Krankenbett gefesselt worden. Eine gleichzeitige Fesselung an Füßen und Händen ist ebenfalls angeordnet, aber nicht vollzogen worden. Unter dem 18. Oktober 2011 hat der Leiter der JVA H. die Fesselungsanordnung auf das Anlegen der Laufkette beschränkt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat den Vorgang mit dem Antrag vorgelegt, die auf Anordnung der Leitung der JVA H. erfolgte Fesselung des Verfolgten zu genehmigen.
II.
Der Antrag war abzulehnen.
1.
Der Senat ist zu einer Entscheidung in der Sache berufen. Maßnahmen, die Beschränkungen in der Auslieferungshaft betreffen, unterliegen der Zuständigkeit des Senatsvorsitzenden nach § 27 Abs. 1 IRG i.V.m. § 119 StPO und § 27 Abs. 3 IRG. Zwar findet die Vorschrift des § 119 StPO in Niedersachsen aufgrund der insoweit vorgehenden Regelungen im NJVollzG keine Anwendung, soweit Beschränkungen in der Untersuchungshaft angeordnet werden (vgl. OLG Celle, StV 2010, 194 [OLG Celle 09.02.2010 - 1 Ws 37/10]). Der Vorrang des NJVollzG vor § 119 StPO gilt aber nicht, soweit sich die freiheitsentziehende Maßnahme in Auslieferungshaft nach dem IRG erschöpft. Die Zuständigkeit zur Regelung der Auslieferungshaft ist nämlich nicht im Wege der Föderalismusreform auf die Länder übertragen worden. Maßgeblich bleibt demnach § 27 IRG, der für den Vollzug der Auslieferungshaft zwar auch auf die Vorschriften über den Vollzug der Untersuchungshaft verweist, zusätzlich aber noch§ 119 StPO in Bezug nimmt. Diesem gebührt der Vorrang, soweit es sich um Beschränkungen handelt, die den Zweck der Haft betreffen. Eine Anwendung des NJVollzG kommt dem gegenüber im Bereich der Auslieferungshaft nur in Betracht, wenn die Beschränkungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der Anstalt erfolgen sollen. Denn mit der Neufassung des § 119 StPO hat der Bundesgesetzgeber deutlich gemacht, dass er - anders als der Senat im oben benannten Beschluss - davon ausgeht, dass die Gesetzgebungskompetenz für Regelungen zur Untersuchungshaft nur in beschränktem Umfang auf die Länder übertragen worden sind und im Übrigen - soweit es zur Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist - die bisherige Regelungskompetenz des Bundes fortbesteht. Der Verweis in § 27 Abs. 1 IRG kann daher nur so verstanden werden, dass Maßnahmen, die den Zweck der Auslieferungshaft betreffen, sich allein nach § 119 StPO richten. Dafür, dass gerade im Bereich der Auslieferungshaft, deren Regelungskompetenz dem Bund uneingeschränkt zukommt, der Gesetzgeber insoweit einen von seiner Auffassung im Untersuchungshaftrecht abweichenden allgemeinen Vorrang der landesrechtlichen Regelungen vor § 119 StPO gewollt haben sollte, liegen keine Anhaltspunkte vor.
Da vorliegend die Fesselungsanordnung schon aufgrund der Unterbringung des Verfolgten außerhalb der JVA nicht zum Zweck der Ordnung in der Anstalt erfolgt sein kann und die Anordnung offenbar ausschließlich zur Vereitelung einer Flucht des Verfolgten ergangen ist, lag die originäre Zuständigkeit zur Regelung nach § 27 Abs. 1 und 3 IRG i.V.m. § 119 StPO beim Senatsvorsitzenden. Die gleichwohl vom Leiter der JVA getroffene Anordnung bedurfte daher nach § 119 Abs. 1 Satz 5 IRG der Genehmigung.
2.
Diese Genehmigung der erfolgten Fesselungsanordnung kam vorliegend aus mehreren Gründen nicht in Betracht.
a.
Entgegen seiner auf das NJVollzG gestützten Auffassung war der Leiter der JVA H. nur nach § 119 Abs. 1 Satz 4 StPO zu einer entsprechenden Anordnung der Fesselung befugt, wenn eine entsprechende Anordnung des Gerichts nicht rechtzeitig herbeigeführt hätte werden können. Gründe, die eine entsprechende Eilkompetenz hätten begründen können, sind indessen nicht ersichtlich. Nach der Festnahme des Verfolgten und seiner anschließenden Einlieferung in die MHH am 6. Oktober 2011 ist der Vorgang noch am selben Tag dem Senat zur Entscheidung über den Antrag auf Erlass des Auslieferungshaftbefehls vorgelegt worden. Eine Entscheidung über eine mögliche Fesselung hätte daher ebenso noch vor dem 7. Oktober 2011 - dem Tag der Fesselungsanordnung - ergehen können.
b.
Darüber hinaus hätte es gemäß § 119 Abs. 1 Satz 5 StPO einer Vorlage der Anordnung innerhalb von drei Tagen beim Senat bedurft. Auf die am 7. Oktober 2011 erfolgte Fesselungsanordnung ist aber eine entsprechende Vorlage in Verkennung der Anordnungskompetenz nicht vorgenommen worden (vgl. dazu auch VerfGH Berlin, Beschluss vom 8. September 2011, 159/07 - bei [...] -).
c.
Schließlich sind auch Gründe, die die Fesselung des Verfolgten erforderlich gemacht hätten, nicht erkennbar.
Bei einer Fesselung handelt es sich um den stärksten Eingriff in die Bewegungsfreiheit eines Betroffenen und zugleich um einen Grundrechtseingriff mit diskriminierendem Charakter (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 2011, 291). Eine solche kommt nur in Betracht, wenn konkrete Tatsachen einen Fesselungsgrund begründen und die mit der Fesselung beabsichtigten Zwecke nicht auf weniger einschneidende Art und Weise erreicht werden können (vgl. Meyer-Goßner, 54. Aufl., § 119 StPO Rn. 23). Allein das Bestehen von Fluchtgefahr, die auch der Senat ausweislich des Haftbefehls vom 6. Oktober 2011 angenommen hat, reicht für die Anordnung einer Fesselung nicht aus. Hinweise auf Auffälligkeiten des Verfolgten im Vollzug, die durch Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen, Fluchtversuche oder Suizidabsichten gekennzeichnet sind, haben sich bislang ebenso wenig ergeben, wie Hinweise auf Befreiungsabsichten von außerhalb. Auch wenn sich der Verfolgte aufgrund gesundheitlicher Umstände nicht innerhalb der Anstalt, sondern in einem frei zugänglichen Krankenhaus befindet, erscheint ohne solche konkrete Anhaltspunkte die Fesselung des Verfolgten unverhältnismäßig. Der Verfolgte ist 71 Jahre alt. Angesichts seines Alters und seiner Erkrankung, die aus ärztlicher Sicht die Verordnung von Bettruhe erforderlich gemacht hat, ist auch unter Berücksichtigung des in der verfolgten Tat zum Ausdruck kommenden Gewaltpotentials des Verfolgten nicht ersichtlich, warum die im Raum stehende Fluchtgefahr nicht durch mildere Mittel, etwa durch die Bewachung eines oder zwei junger sportlicher Beamte, ebenso gewährleistet werden konnte (vgl. auch OLG Koblenz, StV 1989, 209).