Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 26.10.2011, Az.: 1 Ws 424/11

Kriterien zur Abgrenzung von Strafaufschub und Strafunterbrechung bei krankheitsbedingter Vollzugsuntauglichkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
26.10.2011
Aktenzeichen
1 Ws 424/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 27889
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2011:1026.1WS424.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hildesheim - 06.10.2011 - AZ: 24 KLs 5423 Js 52888/00

Fundstelle

  • StraFo 2011, 524-525

Amtlicher Leitsatz

Zwischen Strafaufschub und Strafunterbrechung besteht ein wesentlicher Unterschied, der es ausschließt, die Vorschriften über das eine auf das andere entsprechend anzuwenden. Deshalb kann die Ablehnung eines Strafaufschubs nach § 455 Abs. 3 StPO wegen krankheitsbedingter Vollzugsuntauglichkeit nicht darauf gestützt werden, dass der Verurteilte zum Strafantritt in ein Anstaltskrankenhaus geladen worden sei, wo er medizinisch betreut werden könne. denn damit wird die Ablehnung des Strafaufschubs auf einen Grund gestützt, den das Gesetz nur für die Ablehnung einer Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO vorsieht.

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hannover vom 9. September 2011 werden aufgehoben.

2. Die Sache wird zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Verurteilten auf Strafaufschub an die Staatsanwaltschaft Hannover zurückgegeben.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe

1

I. Am 8. September 2011 beantragte der Verurteilte, dem bis zum 31. März 2011 Strafaufschub wegen einer Knieoperation gewährt worden war, erneut die Gewährung von Strafaufschub, weil bei ihm erstmals am 17. März 2011 eine Herzrhythmusstörung bei AVBlock II. Grades Typ Mobitz mit Verdacht auf intermittierendes Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie diagnostiziert und die Indikation einer Herzschrittmacherimplantation festgestellt worden war. Die Diagnose und Indikation wurden am 4. April 2011 und zuletzt nach einem stationären Aufenthalt des Verurteilten im Herz und Diabeteszentrum NRW in B. O. in der Zeit vom 11. bis 13. Juli 2011 bestätigt.

2

Mit Entscheidung vom 9. September 2011 lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Strafaufschub ab. Zur Begründung führte sie aus, dass eine lebensbedrohliche Erkrankung und damit eine nahe Lebensgefahr im Sinne von § 455 Abs. 2 StPO den vorgelegten Attesten nicht zu entnehmen sei. Es liege auch kein Grund für einen Aufschub nach § 455 Abs. 3 StPO vor. Zwar sei im Hinblick auf die ärztlichen Berichte sicherlich anzuerkennen, dass eine ernste Erkrankung vorliege. Dem sei jedoch dadurch Rechnung getragen worden, dass der Verurteilte zum Strafantritt in das Justizvollzugskrankenhaus L. geladen worden sei, wo er angemessen medizinisch betreut werden könne.

3

Die Einwendungen des Verurteilten gegen die vorgenannte Entscheidung hat das Landgericht Hildesheim mit dem angefochtenen Beschluss nach Einholung einer Stellungnahme des Leitenden Arztes des Justizvollzugskrankenhauses L., Dr. med. N., zurückgewiesen. Eine nahe Lebensgefahr des Verurteilten sei nicht zu besorgen. Eine Unverträglichkeit der sofortigen Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt liege ebenfalls nicht vor. Denn die anstehende Schrittmacherimplantation könne ohne Unterbrechung des Vollzuges in einem externen Krankenhaus in L. und die anschließende Nachbehandlung im dortigen Justizvollzugskrankenhaus durchgeführt werden.

4

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde vom 12. Oktober 2011.

5

II. Die gemäß § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch sonst zulässig erhobene sofortige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der staatsanwaltlichen Entscheidung vom 9. September 2011 sowie zur Rückgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Verurteilten auf Strafaufschub.

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1. Nicht zu beanstanden sind die Entscheidungen des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft allerdings, soweit sie einen Fall des gebundenen Strafaufschubs nach § 455 Abs. 2 StPO verneinen. Anhaltspunkte dafür, dass von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist, liegen - jedenfalls mit dem hierfür nötigen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit (vgl. Senatsbeschluss vom 31. August 2010 - 1 Ws 437/10) - nicht vor. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Verurteilte trotz Kenntnis der Diagnose seit dem 17. März 2011 immer noch nicht die indizierte Herzschrittmacherimplantation hat vornehmen lassen. Nach dem Bericht des Herz und Diabeteszentrums NRW in B. O. vom 13. Juli 2011 konnte zudem eine koronare Herzerkrankung ausgeschlossen werden.

7

2. Indes halten die staatsanwaltliche Entscheidung über die Ablehnung eines fakultativen Strafaufschubs nach § 455 Abs. 3 StPO und ihre Bestätigung durch das Landgericht rechtlicher Überprüfung nicht Stand.

8

Danach kann die Vollstreckung auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist. Da diese Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft steht, kann sie von den Gerichten nur auf Ermessensfehler überprüft werden (vgl. KG NStZ 1994, 255 [KG Berlin 05.01.1994 - 5 Ws 4/94]. LRGraalmannScheerer, StPO 26. Aufl. § 455 Rn. 32), also darauf, ob sie von einem rechtlich zutreffenden Begriff des Versagungsgrundes ausgeht und auf einer nachvollziehbaren Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände beruht. Das ist hier nicht der Fall.

9

Indem die Staatsanwaltschaft nämlich darauf abgestellt hat, dass der Verurteilte zum Strafantritt in das Justizvollzugskrankenhaus L. geladen worden sei und dass er dort angemessen medizinisch betreut werden könne, hat sie ihre Entscheidung auf einen Versagungsgrund gestützt, den das Gesetz nur für die Ablehnung einer Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO vorsieht und der nicht für die Ablehnung von Strafaufschub nach § 455 Abs. 3 StPO herangezogen werden kann (vgl. OLG Koblenz StraFo 2003, 434). Zwischen Strafunterbrechung und Strafaufschub besteht ein wesentlicher Unterschied, der es ausschließt, die Vorschriften über das eine auf das andere entsprechend anzuwenden (vgl. LRGraalmannScheerer aaO. Rn. 17). Der Gesetzgeber hat bewusst zwischen beiden unterschieden, um zu gewährleisten, dass eine einmal begonnene Strafvollstreckung - auch im Interesse des Verurteilten - konsequent zu Ende geführt wird und nicht in jedem Fall von Vollzugsuntauglichkeit unterbrochen werden muss (vgl. OLG München NStZ 1988, 294. OLG Karlsruhe NStZ 1991, 54 [OLG Karlsruhe 17.09.1990 - 1 Ws 216/90]). aus diesem Grunde sieht § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO als Regelfall vor, dass eine einmal begonnene Vollstreckung auch bei schwereren Erkrankungen nicht unterbrochen wird, solange eine Behandlung im Vollzugskrankenhaus möglich ist. Demgegenüber dient § 455 Abs. 3 StPO einem ganz anderen Zweck. Diese Regelung soll in erster Linie den Justizvollzugsanstalten Schwierigkeiten ersparen, die eine geordnete Durchführung des Vollzuges unmöglich machen, und außerdem auch die Verurteilten davor schützen, dass im Vollzug nicht auf ihren körperlichen Zustand Rücksicht genommen werden kann, weil der Anstalt die notwendigen Mittel dafür fehlen (LRGraalmannScheerer aaO. Rn. 11). Dementsprechend kommt ein Strafaufschub nach § 455 Abs. 3 StPO bereits dann in Betracht, wenn die nötige ärztliche Behandlung in der Justizvollzugsanstalt nicht möglich ist und auch durch Aufnahme in einer geeigneten Justizvollzugsanstalt unter Abweichung vom Vollstreckungsplan nicht erreicht werden kann (BGHSt 19, 148. LRGraalmannScheerer aaO. Rn. 13). Die Abwendung eines an sich gebotenen Strafaufschubs durch Ladung zum Strafantritt in einem Vollzugskrankenhaus sieht das Gesetz hingegen nicht vor (OLG Koblenz aaO.).

10

Daher ist im Rahmen des § 455 Abs. 3 StPO zu prüfen, welche konkreten Maßnahmen und Rücksichtnahmen im Vollzug aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Verurteilten unerlässlich sind, ob diese in der für den Verurteilten vorgesehenen oder einer anderen Vollzugsanstalt gewährleistet werden können und ob die hiermit verbundenen Belastungen für alle Beteiligten in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer alsbaldigen Strafvollstreckung zumutbar sind (vgl. OLG Koblenz aaO. KKAppl, StPO 6. Aufl. § 455 Rn. 8).

11

Dem wird die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bislang nicht gerecht.

12

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.