Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 26.06.2019, Az.: 1 A 577/18

Analogie; Antrag auf mündliche Verhandlung; Gerichtsbescheid; Keine Wiedereinsetzungsgründe; verspäteter Antrag; Verwerfen; mündliche Verhandlung; Durchführung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
26.06.2019
Aktenzeichen
1 A 577/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69723
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Über einen verspäteten Antrag auf mündliche Verhandlung gegen einen Gerichtsbescheid kann in entsprechender Anwendung von § 125 Abs. 2 VwGO durch Beschluss entscheiden werden.
2. Gegen diesen Beschluss ist entsprechend § 125 Abs 2 S 4 VwGO das Rechtsmittel des Antrags auf Zulassung der Berufung nach § 124a VwGO gegeben.

Gründe

Der gegen den Gerichtsbescheid vom 13.02.2019 gerichtete Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 04.03.2019 hat keinen Erfolg, weil er nicht innerhalb der Antragsfrist des 78 Abs. 7 AsylG i. V. m. § 84 Abs. 2 VwGO gestellt worden ist und Wiedereinsetzungsgründe nicht vorliegen.

Der Gerichtsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15.02.2019 zugestellt. Damit endete die Zweiwochenfrist des § 78 Abs. 7 AsylG i. V. m. § 84 Abs. 2 VwGO am 01.03.2019. Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung des Klägers ging erst am 04.03.2019 bei Gericht ein.

Wiedereinsetzungsgründe nach § 60 VwGO sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Entscheidung war nach Anhörung der Beteiligten in analoger Anwendung von § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO durch Beschluss zu treffen (vgl. BFH, Beschluss vom 10.06.1996 – VIII R 92/89 –, juris; OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.1997 – Bs IV 135/97 –, juris, Rn. 2 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 13.04.2005 – 34 X 163.02 –, juris, Rn. 6; VG Aachen, Beschluss vom 10.05.2011 – 4 K 1177/09 –, juris, Rn. 4; VG Bayreuth, Beschluss vom 09. Januar 2019 – B 7 K 18.50715 –, juris, Rn. 16; Eyermann/Schübel-Pfister, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 84, Rn. 21; a. A. BFH, Urteil vom 12.08.1981 – I B 72/80 –, juris, Rn. 9; VGH München, Beschluss vom 24.02.1981 – 11 C 5005/79 –, juris; VGH Kassel, Beschluss vom 04.04.1978 – II TE 27/78 –, juris; Schoch/Schneider/Bier/Clausing, VwGO, 36. EL Februar 2019, § 84, Rn. 43; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 84, Rn. 39; ausdrücklich offenlassend BVerwG, Beschluss vom 15.08.2017 – 5 PKH 1/17 D –, juris, Rn. 9).

Vorliegend besteht eine für eine Analogie vorausgesetzte planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage.

§ 84 VwGO enthält keine ausdrückliche Regelung, wie zu verfahren ist, wenn der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verfristet gestellt wird. Die Rechtsfolge des § 84 Abs. 3 VwGO, dass der Gerichtsbescheid als nicht ergangen gilt, tritt nur ein, wenn rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt wird. Das Argument der Gegenansicht, es fehle bereits an einer Regelungslücke, greift nach Ansicht des beschließenden Einzelrichters nicht durch. Es wird argumentiert, der vom Gesetz vorgesehene Rechtsbehelf „Antrag auf mündliche Verhandlung“ gebe uneingeschränkt Anspruch darauf, dass die Verhandlung auch stattfindet. Wenn dies nur für den rechtzeitigen Antrag gelten solle, sei es problemlos möglich gewesen, in § 84 VwGO einen Verweis auf § 125 Abs. 2 VwGO aufzunehmen (vgl. Schoch/Schneider/Bier/Clausing, a. a. O.). Diese Argumentation verkennt, dass § 84 Abs. 3, Hs. 1 VwGO ausdrücklich bestimmt, dass der Gerichtsbescheid als Urteil wirkt (gesetzliche Fiktion) und nach § 84 Abs. 3, Hs. 2 VwGO nur der rechtzeitig gestellte Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung diese gesetzliche Fiktion in Frage stellen kann. Warum in diesem Fall ein uneingeschränkter Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung bestehen soll, erschließt sich nicht. Dies widerspräche insbesondere auch dem Beschleunigungs- und Entlastungszweck des § 84 VwGO (vgl. VG Bayreuth, Beschluss vom 09.01.2019, a. a. O.; Eyermann/Schübel-Pfister, a. a. O.; siehe auch BT-Drs. 11/7030, S. 26 f.). Dieser Zweck wird auch gerade in asylrechtlichen Streitigkeiten deutlich, da der Gesetzgeber mit § 78 Abs. 7 AsylG die Fristen für die Erhebung von Rechtsbehelfen nach § 84 Abs. 2 VwGO sogar noch auf zwei Wochen verkürzt hat (vgl. auch VG Augsburg, Beschluss vom 19.09.2018 – Au 4 K 18.31490 –, juris, Rn. 11). Das Fehlen einer Regelung zum Fall des verspäteten Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung einerseits und der mit § 84 VwGO verfolgte Beschleunigungs- und Entlastungszweck andererseits implizieren zudem auch die Planwidrigkeit der fehlenden Regelung durch den Gesetzgeber. Aus den Gesetzesmaterialien ist auch nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber für diesen Fall bewusst keine Regelung getroffen hätte bzw. von einer stets gegebenen Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung ausgegangen wäre. Vielmehr führt die Gesetzesbegründung aus, der Anwendungsbereich der zuvor bestehenden Möglichkeit eines sog. Vorbescheides sei zu eng gewesen. Dieser habe den Beteiligten in jedem Fall die Möglichkeit gegeben, durch Antrag auf mündliche Verhandlung eine erneute Entscheidung in derselben Instanz herbeizuführen. Wegen dieser Mängel habe der Gesetzgeber bereits im Jahre 1978 den Verwaltungsgerichten mit dem Gerichtsbescheid ein Instrument zur Verfügung gestellt, welches erlaube, in einfach gelagerten Fällen eine instanzabschließende Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu treffen (vgl. BT-Drs. 11/7030, S. 26).

Die Schließung dieser Regelungslücke durch die analoge Anwendung von § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist sachgerecht, da darüber hinaus auch eine vergleichbare Interessenlage vorliegt. Im Fall der verspäteten Beantragung der mündlichen Verhandlung wird wie über ein verspätet eingelegtes Rechtsmittel gegen ein erstinstanzliches Urteil entschieden. Auch wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung ein außerordentlicher Rechtsbehelf ist, steht er insoweit dem Antrag auf Zulassung der Berufung gleich, über den – auch bei Unzulässigkeit – durch Beschluss (§ 124a Abs. 5 S. 1) zu entscheiden ist. Für eine analoge Anwendung des § 125 Abs. 2 VwGO spricht, dass der Streit darüber, ob das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht bereits abgeschlossen ist, weil der Gerichtsbescheid als Urteil wirkt, oder ob er als nicht ergangen gilt (§ 84 Abs. 3 VwGO), seinem Wesen nach einer Entscheidung über ein Rechtsmittel gemäß § 125 Abs. 2 VwGO (vgl. auch § 144 Abs. 1 VwGO) nähersteht als einer (erneuten) erstinstanzlichen Sachentscheidung über die Klage. Denn die Sachentscheidung ist im Gerichtsbescheid bereits getroffen worden (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.1997, a. a. O., Rn. 4).

Soweit gegen eine entsprechende Anwendung von § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO unter Hinweis auf die unterschiedliche Besetzung des Verwaltungsgerichts bei Entscheidungen durch Beschluss einerseits und durch Urteil andererseits insbesondere Bedenken unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters vorgebracht werden, können diese von vornherein nicht einschlägig sein, wenn die Streitsache wie im vorliegenden Fall ohnehin bereits auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden war (vgl. so auch VG Berlin, Beschluss vom 13. April 2005, a. a. O.; die vorgebrachten Bedenken im Übrigen auch entkräftend OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.1997, a. a. O., Rn. 3).

Die Kostenentscheidung des gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 154 Abs. 2 VwGO (vgl. VG Aachen, Beschluss vom 10.05.2011, a. a. O., Rn. 6; VG Bayreuth, Beschluss vom 09.01.2019, a. a. O., Rn. 17). Der Kläger trägt dementsprechend die durch den Antrag entstandenen Kosten. Gegen den Beschluss ist entsprechend § 125 Abs. 2 Satz 4 VwGO das Rechtsmittel gegeben, welches zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.1997, a. a. O.; VG Berlin, Beschluss vom 13.04.2005, a. a. O., Rn. 9 ff.; VG Aachen, Beschluss vom 10.05.2011, a. a. O., Rn. 6).