Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.12.1993, Az.: 4 L 5866/93

Teilstationäre Betreuung; Pflegebedürftiger; Pflegegeld; Anrechnung; Geldleistung; Krankenkasse

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.12.1993
Aktenzeichen
4 L 5866/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1993, 13620
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1993:1208.4L5866.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade 12.11.1992 - 1 A 186/92
nachfolgend
BVerwG - 15.12.1995 - AZ: BVerwG 5 C 3/94

Fundstelle

  • RdLH 1994, Nr 1, 19

Amtlicher Leitsatz

Bei teilstationärer Betreuung des Pflegebedürftigen kann das Pflegegeld angemessen gekürzt werden, das sich nach Anrechnung der Geldleistung der Krankenkasse ergibt.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten über die Anrechnung der Geldleistung der Krankenkasse auf das Pflegegeld gestritten haben. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 1. Kammer - vom 12. November 1992 unwirksam.

Auf den Antrag der Klägerin wird dieses Urteil teilweise geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 19. August 1991 bis zum 12. Mai 1992 Pflegegeld in der Höhe zu gewähren, die sich ergibt, wenn zunächst die Geldleistung der Krankenkasse in Höhe von 200,-- DM auf das Pflegegeld angerechnet und erst danach das Pflegegeld wegen teilstationärer Betreuung gekürzt wird. Der Bescheid der Stadt ... vom 13. November 1991 in der Fassung des Schreibens vom 14. November 1991, der Bescheid vom 11. Februar 1992 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 12. Mai 1992 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Bei der im Jahre 1988 geborenen Klägerin besteht eine Trisomie 21; außerdem hat sie einen Herzfehler. Sie lebt bei ihren Pflegeeltern. Seit dem 19. August 1991 wird sie in einem Sonderkindergarten der Lebenshilfe teilstationär betreut; hierfür erhält sie Eingliederungshilfe.

2

Die im Auftrage des Beklagten handelnde Stadt ... gewährte der Klägerin ab dem 1. Juli 1990 das pauschalierte Pflegegeld nach § 69 BSHG in Höhe von damals 325,-- DM (ab 1. Juli 1991 in Höhe von 341,-- DM), das sie ab dem 28. November 1991 wegen außergewöhnlicher Pflegebedürftigkeit auf 550,-- DM erhöhte. Dieses Pflegegeld kürzte sie wegen der teilstationären Betreuung der Klägerin in dem Sonderkindergarten um 20 v. H. und rechnete ab dem 1. Dezember 1991 die Geldleistung der Krankenkasse nach § 57 SGB V in Höhe von 400,-- DM auf das gekürzte Pflegegeld an, so daß sie ein Pflegegeld von 40,-- DM auszahlte. Für den zurückliegenden Zeitraum vom 21. April 1991 bis zum 30. November 1991 machte sie gegenüber der Krankenkasse einen Erstattungsanspruch geltend.

3

Die Pflegeeltern der Klägerin legten Widerspruch ein und machten geltend: Die Geldleistung der Krankenkasse dürfe nicht auf das Pflegegeld angerechnet und die von ihr zu Unrecht erstatteten Beträge müßten wieder ausgezahlt werden. Selbst wenn aber ein Teil der Geldleistung auf das Pflegegeld anzurechnen sei, ... dürfe das Pflegegeld erst nach der Anrechnung im Hinblick auf die teilstationäre Betreuung gekürzt werden. Der Beklagte wies die Widersprüche gegen den Bescheid der Stadt Stade vom 13. November 1991 in der Fassung des Schreibens vom 14. November 1991 und gegen den Bescheid vom 11. Februar 1992 durch Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 1992 zurück.

4

Die Pflegeeltern der Klägerin haben daraufhin für sie Klage erhoben und beantragt,

5

1. den Bescheid der Stadt ... vom 13. November 1991, den Brief der Stadt ... vom 14. November 1991 und den Bescheid vom 11. Februar 1992 sowie den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 12. Mai 1992 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin rückwirkend ab Dezember 1991 Pflegegeld ohne Anrechnung der Leistungen der Krankenkasse zu gewähren,

6

2. den Beklagten zu verpflichten, die durch die Stadt ... im Auftrage des Beklagten von der Krankenkasse vereinnahmten Geldleistungen für die Zeit vom 21. April 1991 bis zum 30. November 1991 an die Klägerin auszuzahlen,

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3. den Beklagten zu verpflichten, auf eine doppelte Kürzung des eingeräumten Pflegegeldes nach § 69 BSHG zu verzichten und an die Klägerin rückwirkend ab 28. November 1991 bzw. 21. April 1991 das so zu Unrecht einbehaltene Pflegegeld auszuzahlen.

8

Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 12. November 1992 dem Klageantrag zu 1. stattgegeben und den Antrag zu 2. abgewiesen. Es hat, gestützt auf die Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 7. Okt. 1991 - 4 M 2160/91 -), zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Geldleistung der Krankenkasse dürfe nicht auf das Pflegegeld angerechnet werden, da beide Leistungen nicht "gleichartig" seien. Auszahlung der von der Krankenkasse zu Unrecht erstatteten Beträge könne die Klägerin aber nicht vom Beklagten, sondern nur von der Krankenkasse verlangen. Da dem Klageantrag zu 1. in vollem Umfang stattgegeben worden sei, brauche auf den Klageantrag zu 3., der die Reihenfolge der Anrechnung und Kürzung betreffe, nicht mehr eingegangen zu werden.

9

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Im Anschluß an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. März 1993 (5 C 45.91, abgedr. u. a. in DVBl. 1993, 797 und FEVS 43, 456) haben die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Anrechnung der Geldleistung der Krankenkasse auf das Pflegegeld für erledigt erklärt.

10

Die Klägerin beantragt nunmehr,

11

das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, ihr für die Zeit vom 19. August 1991 bis zum 12. Mai 1992 Pflegegeld in der Höhe zu gewähren, die sich ergibt, wenn zunächst die Geldleistung der Krankenkasse in Höhe von 200,-- DM auf das Pflegegeld angerechnet und erst danach das Pflegegeld wegen teilstationärer Betreuung gekürzt wird, sowie den Bescheid der Stadt ... vom 13. November 1991 in der Fassung des Schreibens vom 14. November 1991, den Bescheid vom 11. Februar 1992 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 12. Mai 1992 1992 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.

12

Der Beklagte beantragt,

13

den Antrag der Klägerin zurückzuweisen.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Stadt Stade ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15

Da die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Anrechnung der Geldleistung der Krankenkasse auf das Pflegegeld für erledigt erklärt haben, ist insoweit das Verfahren

16

einzustellen und das angefochtene Urteil für unwirksam zu erklären.

17

Der von der Klägerin zuvor - außer dem Hauptantrag auf Zurückweisung der Berufung des Beklagten - nur hilfsweise gestellte Klageantrag zu 3. ist damit im Berufungsverfahren zum Hauptantrag geworden, ohne daß die Klägerin Anschlußberufung nach § 127 VwGO einzulegen brauchte. Die Fassung des in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gestellten Hauptantrages beruht auf einem Hinweis nach § 86 Abs. 3 VwGO. Inhaltlich ist dieses Begehren schon von dem früher hilfsweise gestellten Klageantrag zu 3. erfaßt gewesen.

18

Der somit zulässige Antrag der Klägerin ist auch begründet.

19

Sinn der im Ermessen des Trägers der Sozialhilfe stehenden Kürzung des Pflegegeldes nach § 69 Abs. 4 Satz 3 BSHG bei teilstationärer Betreuung ist es, Doppelleistungen der Sozialhilfe zu verhindern (BVerwG, Urt. v. 16. Juli 1985, FEVS 35, 89 = NDV 1985, 425, und Urt. v. 14. März 1991, BVerwGE 88, 86 [BVerwG 14.03.1991 - 5 C 8/87]). Um zu ermitteln, ob es zu Doppelleistungen käme, sind die tatsächlichen Aufwendungen der Sozialhilfe für die häusliche Pflege (hier das Pflegegeld) einerseits und für die teilstationäre Betreuung andererseits gegenüberzustellen. Das bedeutet, daß die Kürzung des Pflegegeldes in Betracht kommt, das der örtliche Träger der Sozialhilfe ohne die Kürzung tatsächlich zu leisten hätte, und das wiederum ist das Pflegegeld, das sich nach Anrechnung gleichartiger Leistungen nach § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG a. F. (seit dem 1. August 1992 nach § 69 Abs. 3 Satz 4 BSHG n. F.) ergibt (im Ergebnis ebenso: VG Düsseldorf, Urt. v. 29. Sept. 1992 - 22 K 4978/91 - und VG Osnabrück, Urt. v. 25. Nov. 1993 - 4 A 37/92 -).

20

Für diese Auslegung spricht auch noch eine weitere Erwägung:

21

In dem Fall, in dem sich wegen der Anrechnung von Einkommen nach den §§ 28, 76 ff. BSHG das zu gewährende Pflegegeld verringert, ist nicht zweifelhaft, daß bei teilstationärer Betreuung nur das Pflegegeld gekürzt werden kann, das sich nach Anrechnung von Einkommen ergibt. Die gleichartige Geldleistung der Krankenkasse könnte - gäbe es nicht die spezielle Anrechnungsvorschrift - ebenfalls als einzusetzendes Einkommen (zweckidentische Leistung im Sinne der §§ 77 Abs. 1, 85 Nr. 1 BSHG) betrachtet werden. Ein sachlicher Grund dafür, bei der Kürzung des Pflegegeldes wegen teilstationärer Betreuung die Fälle der Anrechnung von Einkommen und die Fälle der Anrechnung gleichartiger Leistungen auf das Pflegegeld unterschiedlich zu behandeln, besteht nicht.

22

Gegen die Höhe der Kürzung des Pflegegeldes wegen teilstationärer Betreuung um 20 v. H. wendet sich die Klägerin nicht, so daß der Senat nicht zu prüfen hat, ob der Kürzungsbetrag in diesem Fall angemessen ist.

23

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 161 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

24

Der Senat läßt die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu, da die Frage der Reihenfolge der Anrechnung gleichartiger Leistungen auf das Pflegegeld und der Kürzung des Pflegegeldes wegen teilstationärer Betreuung bisher - soweit ersichtlich - höchstrichterlich nicht entschieden ist.

25

Klay

26

Willikonsky

27

Zeisler