Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 01.07.2003, Az.: 2 B 219/03

Hilfe zum Lebensunterhalt; Lebensmittelpunkt; Scheinmietverhältnis; Sozialhilfeträger; tatsächlicher Aufenthaltsort; Wohnung ; Örtliche Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
01.07.2003
Aktenzeichen
2 B 219/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48052
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antragstellerin wird für einen noch zu stellenden Antrag, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, der Antragstellerin Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu gewähren, Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt D. aus J. beigeordnet.

Gründe

1

I. Die Antragstellerin bezog von der in Sozialhilfesachen namens und im Auftrage des Antragsgegners tätigen G. seit Juli 1993 Hilfe zum Lebensunterhalt.

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Seit April 1998 hat sie eine Wohnung in der B. in J. angemietet. In dieser Wohnung verbrauchte die Antragstellerin im Jahr 1998 an Strom 193 kWh, im Jahr 1999 210 kWh, im Jahr 2000 188 kWh, im Jahr 2001 80 kWh und im Jahr 2002 15 kWh. Der Stromverbrauch im Jahr 2003 betrug in der Zeit vom 1. Februar bis 24. Juni nach den im Erörterungstermin vom 24. Juni 2003 und durch fernmündliche Auskunft des Stromlieferanten EAM gewonnenen Feststellungen 26 kWh.

3

Von März bis Oktober 2002 pflegte die Antragstellerin ihren krebskranken Vater, bei dem sie sich tagsüber aufhielt. Während dieser Zeit hielt sie sich nur zum Übernachten in ihrer Wohnung auf. Der Vater der Antragstellerin verstarb im September 2002. Anschließend war die Antragstellerin für den Rest des Monats September 2002 überwiegend bei ihrer in J. lebenden Mutter aufhältig. In den letzten drei Monaten dieses Jahres hielt sich die Antragstellerin nach eigener Einlassung, bestätigt durch die Aussagen ihrer Gastgeber überwiegend bei ihrer Freundin K. und deren Sohn L. in M., Landkreis N. auf. Wegen der Häufigkeit der Aufenthalte und der Einzelheiten der Aufenthaltsmodalitäten in M. wird auf die Sitzungsniederschrift des Erörterungstermins vom 24. Juni 2003 Bezug genommen. Mitarbeiter des Sozialamtes der G. versuchten in der Zeit von März bis Juni 2003 mehrfach vergeblich die Antragstellerin in ihrer Wohnung anzutreffen. Dabei machten sie die Feststellung, dass oft mehrere Tage dieselbe Post im Briefkasten lag. Nach Aussage von Nachbarn der Antragstellerin hält diese sich nicht in ihrer Wohnung auf. Allerdings kommt die Antragstellerin nach diesen Auskünften der turnusmäßigen Treppenhausreinigung nach.

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Die Wohnung der Antragstellerin wird nach deren eigenen Angaben und den Angaben von Herrn L. seit einiger Zeit und in kleinen Abschnitten renoviert. Ein Raum der Zweizimmerwohnung wird derzeit nicht zu Wohnzwecken genutzt, da hier Möbel und Einrichtungsgegenstände gelagert werden. Nutzbar für Wohnzwecke ist das Schlafzimmer, die Küche und das Bad der Wohnung. Wegen der Einzelheiten des Zustandes der Räume und des Eindrucks der Wohnung im Ganzen wird ebenfalls auf die Sitzungsniederschrift des Erörterungstermins vom 24. Juni 2003 Bezug genommen.

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Mit Bescheid vom 25. April 2003 stellte die G. die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt mit Ablauf des 31. März 2003 ein. Zur Begründung gab sie im Wesentlichen an, sie sei für die Hilfegewährung nicht zuständig. Die Antragstellerin halte sich tatsächlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich auf. Die von ihr angemietete Wohnung werde von ihr tatsächlich nicht genutzt. Dies bestätige sowohl der bei einer Wohnungsbesichtigung gewonnene unmittelbare Eindruck wie auch der extrem niedrige Stromverbrauch im Jahr 2002.

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Hiergegen legte die Antragstellerin fristgerecht Widerspruch ein und beantragte am 22. Mai 2003, ihr Prozesskostenhilfe für einen noch zu stellenden einstweiligen Rechtsschutzantrag zu bewilligen.

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Sie trägt vor, sie sei ausschließlich in der J. gemeldet und habe dort ihren Lebensmittelpunkt. Von März bis Oktober 2002 habe sie sich allerdings nur gelegentlich zum Übernachten dort aufgehalten, weil sie sich um ihren krebskranken Vater gekümmert habe. Sie gehe mit dem Strom sehr sparsam um und habe aufgrund ihres psychischen Zustandes und ihres Ruhebedürfnisses weder Fernsehen geguckt noch Radio gehört. Mit Herrn L., dem Sohn ihrer Freundin, sei sie lediglich befreundet. Eine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe nicht.

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Die Antragstellerin beantragt,

9

ihr Prozesskostenhilfe für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Antragsgegner zu bewilligen, mit dem dieser vorläufig verpflichtet wird, ihr ab sofort Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

10

Der Antragsgegner beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Er meint, örtlich unzuständig zu sein. Die Antragstellerin halte sich überwiegend im Bereich der Gemeinde M. bei K. und L. auf. Sicheres Indiz hierfür seien sowohl der extrem geringe Stromverbrauch wie auch der Umstand, dass ihre Mitarbeiter des öfteren vergeblich versucht hätten, die Antragstellerin in ihrer Wohnung anzutreffen.

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Darüber hinaus bestehe bei der Antragstellerin kein aktueller Sozialhilfebedarf, da sie mit Herrn L. in eheähnlicher Lebensgemeinschaft zusammen lebe.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsvorgänge der G. Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen.

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II. Die beantragte Prozesskostenhilfe ist zu bewilligen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung, das ist ein noch zu stellender Antrag nach § 123 VwGO, hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

16

Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ist die namens und im Auftrage des Antragsgegners handelnde G. nach § 97 Abs. 1 BSHG örtlich zuständig für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt an die Antragstellerin. Nach § 97 Abs. 1 S. 1 BSHG ist der Träger der Sozialhilfe für die Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich sich der Hilfeempfänger tatsächlich aufhält. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, im Interesse des Hilfesuchenden eine schnelle und effektive Beseitigung der gegenwärtigen Notlage zu ermöglichen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der ortsnahe Sozialhilfeträger schneller als der ortsferne in der Lage ist, die erforderlichen Ermittlungen, insbesondere zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Hilfesuchenden vorzunehmen. Dieses Ziel rechtfertigt es, die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers an den Ort zu knüpfen, der die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Sozialhilfeempfängers maßgeblich bestimmt und seinen familiären Lebensmittelpunkt bildet (BVerwG, Urteil vom 23.06.1994 – 5 C 26.92 -, BVerwGE 96, 152; dem folgend, Beschluss der Kammer vom 31.08.2001 – 2 B 2225/01 -).

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Die Wohnung der Antragstellerin in der B. in J. würde als Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit nur ausscheiden, wenn es sich um ein sog. „Scheinmietverhältnis“ handeln würde. Ein solches kann nach der Rechtsprechung des OVG Lüneburg (Beschluss vom 28.01.1998 – 12 M 5666/97 -) und der beschließenden Kammer (Urteil vom 10.07. und 11.10.2001 – 2 A 2266/00 -) nur angenommen werden, wenn der Unterkunftsbedarf in voller Höhe tatsächlich anderweitig gedeckt wird oder der Hilfeempfänger eine angemietete Unterkunft nicht nutzt, weil er anderweitig Unterkunft findet oder nimmt. Der regelmäßige (kostenfreie) Aufenthalt einschließlich Übernachtung in der Wohnung eines Partners ist grundsätzlich unschädlich, soweit sich nicht der Lebensmittelpunkt in dessen Unterkunft verlagert hat oder gar eine Gemeinschaft im Sinne von § 122 BSHG besteht, und dem Hilfesuchenden der Umzug zum Partner zudem tatsächlich möglich ist (Aufnahmebereitschaft des Partners und ggf. des Vermieters) und nach Maßgabe des § 2 BSHG dem Hilfeempfänger abzuverlangen ist.

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Diese Voraussetzungen vermag die Kammer derzeit nicht anzunehmen. Es ist zwischen den Beteiligten nach dem Ergebnis des Erörterungstermins unbestritten, dass sich die Antragstellerin derzeit überwiegend bei der Familie P. außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der G. (und des Antragsgegners) aufhält. Die Kammer kann nach dem Erörterungstermin allerdings nicht die Überzeugung erlangen, dass die Antragstellerin ihre Wohnung in der B. überhaupt nicht mehr nutzt und sich ausschließlich in M. aufhält. Dem steht schon der allerdings sehr niedrige Stromverbrauch entgegen, der für eine Nutzung der Wohnung durch die Antragstellerin spricht. Der Verbrauch liegt für die Zeit vom 1. Februar bis zum 24. Juni 2003 bereits über dem gesamten Jahresbetrag für das Kalenderjahr 2002, so dass von einer Intensivierung der Nutzung auszugehen ist. Ferner kommt die Antragstellerin nach den Feststellungen der Mitarbeiter des Sozialamtes der G. ihren Mieterpflichten insoweit nach, als sie für sechs Wochen die Treppenhausreinigung übernimmt. Dass die Wohnung nicht vollständig wohnlich eingerichtet ist, schreibt die Kammer dem Umstand zu, dass die Antragstellerin zusammen mit Herrn L. die Räume seit einiger Zeit renoviert, und sie dies schrittweise tun, so dass einzelne Räume infolge dessen nicht zu Wohnzwecken nutzbar sind. Davon, dass eine Renovierung tatsächlich stattgefunden hat, konnte sich der Berichterstatter im Erörterungstermin überzeugen. Darüber hinaus hält die Antragstellerin sämtliche für ein Wohnen benötigten Gegenstände, wie Ablagemöglichkeiten für Kleidung, Bett, Bad, Kühlschrank, Herd und Waschmaschine vor. Zwar spricht nach dem Eindruck des Erörterungstermins viel dafür, dass sowohl der Herd wie auch die Waschmaschine derzeit von der Antragstellerin nicht genutzt werden. Dies schließt ein Bewohnen indes nicht aus, weil einerseits eine Kalternährung möglich erscheint und andererseits die Wäsche der Klägerin derzeit von Frau K. gewaschen wird, solange die Waschmaschine infolge des Fehlens eines dafür benötigten Teiles nicht angeschlossen werden kann.

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Die Kammer geht für die Entscheidung deshalb davon aus, dass sich die Antragstellerin in regelmäßigem Wechsel an mindesten zwei Orten, nämlich in M. und in J., tatsächlich aufhält. In diesen Fällen erscheint es der Kammer gerechtfertigt, die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers an den Ort zu knüpfen, der die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Hilfeempfängers maßgeblich bestimmt und seinen familiären Lebensmittelpunkt bildet (OVG Lüneburg, Beschluss vom 30.08.1996 – 12 M 4814/96 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.11.1995 – 6 S 941/93 -, FEVS 46, 449; Beschluss der Kammer vom 31.08.2001, a.a.O.).

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Für die Entscheidung, wo in derartigen Fällen der zuständige Sozialhilfeträger anzunehmen ist, gibt § 43 Abs. 1 SGB I keine Auslegungshilfe. Nach dieser Vorschrift kann, wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Zwar gilt § 43 SGB I auch im Verhältnis zwischen zwei örtlichen Trägern der Sozialhilfe (BVerwG, Urteil vom 26.09.1991 – 5 C 14.87-, BVerwG 89, 81; Beschluss vom 29.10.1992 – 5 B 87.92 -, Buchholz 435.11 § 43 SGB I Nr. 4). Die Vorschrift hat jedoch einen grundsätzlich anderen gesetzlichen Anwendungsbereich als § 97 Abs. 1 BSHG. Welcher Leistungsträger örtlich zuständig ist, wird in § 43 Abs. 1 SGB I nicht geregelt. Die Regelung befasst sich allein mit der Frage, welcher von mehreren Sozialhilfeträgern Vorleistungen erbringen kann oder muss, wenn zwischen ihnen streitig ist, wer – örtlich oder sachlich – zur Leistung verpflichtet ist (BVerwG, Beschluss vom 29.10.1992, a.a.O.). Hier besteht indes zwischen dem Antragsgegner und dem N. kein derartiger Streit. Vielmehr weiß der N. nicht von seiner aus Sicht des Antragsgegners bestehenden Zuständigkeit, weil es die G. unterlassen hat, den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt an den N. weiterzuleiten. Hierzu wäre die G. in der Konsequenz der von ihr angenommenen Unzuständigkeit gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 SGB I jedoch verpflichtet gewesen. Da dieses Versäumnis nicht zu Lasten der Antragstellerin gehen kann, spricht schon dieser Umstand für eine Zuständigkeit der namens und im Auftrage des Antragsgegners handelnden G..

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Dafür, dass die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin maßgeblich von J. bestimmt werden, spricht weiter Folgendes:

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Da die Antragstellerin unverheiratet und kinderlos ist, kommt als Anknüpfungsort für die Zuständigkeit der Familienwohnsitz nicht in Betracht. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der allein lebenden Antragstellerin werden aber maßgeblich durch die von ihr angemietete Wohnung bestimmt, deren Kosten bisher im Rahmen der sozialhilferechtlichen Bestimmungen von der G. übernommen wurden, so dass das Innehaben dieser Wohnung, bei der es sich, wie dargelegt, nicht um eine Scheinwohnung handelt, ein Indiz für die Annahme des Lebensmittelpunktes darstellt.

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Ein weiteres Indiz ist der Wohnort der Mutter der Antragstellerin in J., bei der diese sich unbestrittenermaßen häufig aufhält. Auch diese persönliche Beziehung wird mithin in J. gelebt.

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Darüber hinaus geht die Kammer davon aus, dass die Antragstellerin ihre Wohnung nach dem bevorstehenden Ende der Renovierungsarbeiten und für den Fall, dass sie erneut Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, weiter nutzen wird und diese Nutzung intensiviert.

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Dem gegenüber erscheint es der Kammer rechtlich unerheblich, dass sich die Antragstellerin derzeit, auch infolge des Umstandes, dass sie keine Sozialhilfe von der G. mehr bezieht, bei ihren Freunden in M. aufhält.

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Der Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht schließlich, anders als der Antragsgegner meint, nicht entgegen, dass die Antragstellerin nicht aktuell sozialhilferechtlich bedürftig wäre. Hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft zwischen der Antragstellerin und Herrn L. liegen nach dem Gesagten schon tatsächlich nicht vor. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Herr L. Arbeitslosenhilfe in Höhe von ca. 550,- € monatlich erhält. Sozialhilferechtlich bedeutsame Ansprüche der Antragstellerin gegen Herrn L. dürften sich hieraus nicht ergeben.