Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 19.03.2018, Az.: S 29 U 155/14 WA

Anspruch einer Versicherten mit einer unfallbedingten geminderten Erwerbsfähigkeit auf Feststellung der Zuschlagspflicht und die Ermittlung der Höhe des Zuschlages im Rahmen des Rentenanspruchs

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
19.03.2018
Aktenzeichen
S 29 U 155/14 WA
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74774
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2018:0319.S29U155.14WA.00

In dem Rechtsstreit
B. GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer,
C.
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte D.
gegen
E.
- Beklagte -
hat die 29. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2018 durch die Richterin am Sozialgericht F. sowie die ehrenamtliche Richterin G. und den ehrenamtlichen Richter H. für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

  3. 3.

    Der Streitwert wird endgültig auf 9.473,94 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Beitragszuschlagbescheid.

Der Versicherte I. (Versicherter) war bei der Klägerin beschäftigt, als er am 05. Juli 2009 verunfallte. Nach der Unfallanzeige vom 10. Juli 2009 erlitt er einen Oberschenkelhalsbruch am linken Bein.

In der Folge übernahm die Beklagte die Behandlungskosten und gewährte dem Versicherten mit Bescheid vom 24. März 2011 eine vorläufige Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 100 von Hundert. Die Rente begann zum 02. Januar 2011, der damalige monatliche Zahlbetrag betrug 1.020,24 €.

Mit Bescheid vom 24. April 2012 setzte die Beklagte den Beitrag für das Jahr 2011 auf 110.731,48 € fest.

Am 06. Juni 2012 hörte die Beklagte die Klägerin zur Festsetzung eines Beitragszuschlages für das Jahr 2011 an. Dieser sei wegen eines einzigen Arbeitsunfalls und zwar des Arbeitsunfalls des Versicherten vom 05. Juli 2009 zu erheben. Belastungstyp sei die Zahlung einer Rente aufgrund eines Bescheides aus März 2011. Es hätten sich 50,00 Belastungspunkte ergeben.

Gegen die angekündigte Festsetzung trug die Klägerin vor, dass der Versicherte Diabetes habe. Er sei benommen und habe Schwächeanfälle. Knochen und Beine seien geschwächt. Deshalb sei er am Unfalltag umgeknickt. Dem Versicherten seien die Beine amputiert worden. Er sitze seitdem im Rollstuhl. Das ursächliche Leiden der Erkrankung des Klägers sei die Diabeteserkrankung.

Mit Bescheid vom 24. Juli 2012 setzte die Beklagte einen Beitragszuschlag von 9.473,94 € fest. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 05. Oktober 2012 als unbegründet zurückgewiesen. Die Diabeteserkrankung habe bei der Rentenfestsetzung keine Rolle gespielt.

Mit der am 12. Oktober 2012 erhobenen Klage verfolgte die Klägerin zum Aktenzeichen S 14 U 156/12 ihr Begehren weiter. Die Klägerin hat die Übersendung der Unfallakte beantragt. Der Versicherte hat der Akteneinsicht mit Schreiben vom 03. Dezember 2012 nicht zugestimmt. In der Annahme, dass BSG würde eine ähnliche Konstellation zum Aktenzeichen B 2 U 21/11 R entscheiden, hat die 14. Kammer das Verfahren mit Beschluss vom 14. Dezember 2012 ruhend gestellt.

Das Verfahren ist am 11. September 2013 zum Aktenzeichen S 14 U 125/13 WA wiederaufgenommen worden. Am 20. September 2013 hat die Klägerin erneut die Einsichtnahme in die Unfallakte des Versicherten beantragt. Mit Beschluss vom 24. Oktober 2013 hat die 14. Kammer den Versicherten einfach beigeladen. Der Versicherte hat daraufhin erneut mitgeteilt, der Akteneinsicht zu widersprechen (Schriftsatz vom 29. Oktober 2013).

Mit Beschluss vom 06. November 2013 hat die 14. Kammer den Antrag auf Akteneinsicht abgelehnt. Dagegen hat die Klägerin Beschwerde eingelegte. Das Verfahren hat die Kammer mit Beschluss vom 22. November 2013 wiederum ruhend gestellt.

Am 25. Januar 2014 ist der Versicherte verstorben.

Die Beschwerde der Klägerin wies das Landessozialgericht mit Beschluss vom 16. Oktober 2014 zurück (L 3 U 196/13 B). Eine isolierte Entscheidung über das Recht auf Akteneinsicht sei im SGG nicht vorgesehen. Es sei auch keine analoge Anwendung von § 99 Abs. 2 VwGO möglich.

Das Verfahren ist daraufhin am 06. November 2014 zum Aktenzeichen S 14 U 155/14 WA wiederaufgenommen worden. Zum 19. September 2016 ist das Verfahren auf die 29. Kammer übergegangen.

Die Klägerin beantragt:

der Bescheid der Beklagten über den Beitragszuschlag 2011 vom 24. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2012 wird aufgehoben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Neben der Gerichtsakte lag die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten zur Beitragspflicht vor. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten und die Sitzungsniederschrift vom 19. März 2018 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klägerin ist nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), da der angefochtene Bescheid vom 24. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Oktober 2012 rechtmäßig ist.

Rechtsgrundlage der Zuschlagserhebung ist § 28 der Satzung der Beklagten. Die Norm lautet auszugsweise:

"(1) Jedem Unternehmer mit Pflichtversicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII und jedem nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII freiwillig versicherten Unternehmer (im folgenden: Beitragspflichtige) werden unter Berücksichtigung der Zahl und Schwere der anzuzeigenden Arbeitsunfälle Zuschläge zum Beitrag auferlegt (§ 162 Abs. 1 SGB VII). Wegeunfälle und Berufskrankheiten bleiben hierbei unberücksichtigt, ebenso Arbeitsunfälle, die durch höhere Gewalt oder durch alleiniges Verschulden nicht zum Unternehmen gehörender Personen verursacht worden sind.

(...)

(3) Die Berechnung der Zuschläge wird nach folgenden Grundsätzen vorgenommen:

1. Beobachtungszeitraum

Das Beitragszuschlagsverfahren wird jährlich nachträglich für das abgelaufene Geschäftsjahr (im folgenden: Beitragsjahr) durchgeführt unter Berücksichtigung der im Beitragsjahr bekannt gewordenen meldepflichtigen Arbeitsunfälle (im folgenden: Arbeitsunfall), der im Beitragsjahr festgestellten neuen Unfallrenten und der Todesfälle (gemeint sind nur Todesfälle, die innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfalltag eingetreten sind), die sich im Beitragsjahr ereignet haben.

2. Zuschlagspflichtig sind nur

Beitragspflichtige, deren Belastung wesentlich von der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen ihrer Tarifstelle abweicht. Wesentlich ist die Abweichung, wenn die Einzelbelastung um mehr als 100 v. H. über der Durchschnittsbelastung der Tarifstelle liegt. Beitragspflichtige, deren tatsächlich errechneter Beitrag unter dem jeweils geltenden Mindestbeitrag liegt, und gemeinnützige Unternehmen sind vom Beitragszuschlagsverfahren ausgenommen.

3. Berechnung der Belastung: In das Zuschlagsverfahren werden grundsätzlich alle Unfälle gemäß Nr. 1 einbezogen.

Jedes Unternehmen wird wie folgt belastet:

- für jeden im Beitragsjahr bekannt gewordenen Arbeitsunfall: mit Kosten (Sach- und Geldleistungen) des Unfalles bis 10.000 Euro: Null Punkte mit Kosten (Sach- und Geldleistungen) des Unfalles über 10.000 Euro: 1 Punkt

- für jede im Beitragsjahr festgestellte neue Arbeitsunfallrente: mit Kosten (Sach- und Geldleistungen) des Unfalles bis 10.000 Euro: Null Punkte mit Kosten (Sach- und Geldleistungen) des Unfalles über 10.000 Euro: 50 Punkte

- für jeden im Beitragsjahr bekannt gewordenen Todesfall (siehe Absatz 3 Ziff. 1): 100 Punkte

Für einen Unfall können mehrere Punktwerte anfallen; ein Unfall kann ferner in zwei verschiedenen Beitragsjahren bepunktet werden, wenn die Meldung des Arbeitsunfalls und die Feststellung der Unfallrente bzw. der Eintritt des Todesfalles in verschiedenen Beitragsjahren erfolgen.

3.1 Berechnung der Einzelbelastung

Zur Berechnung der Einzelbelastung werden die Punkte jedes Unternehmens addiert (Belastungspunkte) und auf je 10.000 Euro Beitrag des Unternehmers für das Beitragsjahr bezogen.

(...)

3.2 Berechnung der Durchschnittsbelastung

Zur Berechnung der Durchschnittsbelastung werden die Punkte aller Unternehmen einer Gefahrtarifstelle (siehe Ziffer 2.1) bzw. der Gruppe VI oder VII (siehe Ziffer 2.2 - im folgenden Gruppe -) addiert (Gesamtbelastungspunkte) und auf je 10.000 Euro Beitrag der Unternehmer einer Gefahrtarifstelle/der jeweiligen Gruppe für das Beitragsjahr bezogen.

(...)

4. Höhe des Beitragszuschlages

Der Zuschlag zum Beitrag beiträgt

- 5 v.H. des für das Beitragsjahr zu zahlenden Betrages, wenn die Einzelbelastung um mehr als 25 v.H. bis einschließlich 100 v.H. über der Durchschnittsbelastung der Gefahrtarifstelle bzw. Gruppe liegt,

- 7,5 v.H., wenn die Einzelbelastung um mehr als 100 v.H. bis einschließlich 200 v.H. über der Durchschnittsbelastung der Gefahrtarifstelle bzw. Gruppe liegt und

- 10 v.H., wenn die Einzelbelastung um mehr als 200 v.H. über der Durchschnittsbelastung der Gefahrtarifstelle bzw. Gruppe liegt und

(...)

(4) Der Vorstand kann Übergangs- und Durchführungsbestimmungen erlassen."

Der hierauf gestützte angefochtene Bescheid ist rechtmäßig. Die Feststellung der Zuschlagspflicht und die Ermittlung der Höhe des Zuschlages anhand der Vorgaben in § 28 der Satzung sind nicht zu beanstanden.

Dabei war die Kammer vorliegend auf den Inhalt der Akte zu den Beitragsvorgängen der Klägerin beschränkt. Ein Einblick in die Unfallakte der Beklagten über den Versicherten, die die Beklagte übersandt hatte, wurde nicht genommen. Denn der Versicherte hatte der Akteneinsicht der Klägerin nicht zugestimmt. Ein Recht der Klägerin auf Akteneinsicht in die Unfallakten der Beklagten betreffend den Versicherten besteht somit nicht. Das postmortale Persönlichkeitsrecht überwiegt den berechtigten Interessen der Klägerin an der Akteneinsicht. Das postmortale Persönlichkeitsrecht ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz und schützt den allgemeinen Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, zum anderen der sittliche, personale und sozial Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat (st. Rspr. d. BVerfG, z.B. Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 1533/07). Die Akteneinsicht in die Unfallakten der Beklagten, in denen höchstpersönliche Informationen betreffend den Versicherten enthalten sind, würde einen unmittelbaren Eingriff in dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG darstellen. Dieser überwiegt die mögliche Verletzung grundrechtsgleicher Rechte der Klägerin.

Ist der Klägerin die Einsicht in die Unfallakte des Versicherten verwehrt, so hindert § 128 Abs. 2 SGG die Kammer daran, in die Akte Einblick zu nehmen. Denn das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Kammer hat sich deshalb bei ihrer Entscheidungsfindung auf die Unterlagen beschränkt, die zur Gerichtsakte gereicht wurden und die sich aus der Verwaltungsakte der Beklagten betreffend die Beitragspflicht der Klägerin ergeben.

Die Kammer konnte dennoch die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides prüfen. Denn allein die Bewilligung der Rente für das Jahr 2011 (Bescheid vom 24. März 2011) führte bereits zu Kosten von über 10.000,00 €. Denn dem Versicherten wurde eine Rente mit einer MdE von 100 von Hundert in Höhe von monatlich 1.020,24 € gewährt. Allein durch die Rentenbewilligung wurden damit nach § 28 Abs. 3 Nr. 3, 2. Spiegelstrich der Satzung bereits 50 Punkte erreicht.

Nicht geprüft werden mussten damit die Schlüssigkeit der darüber hinaus behaupteten Kosten der Heilbehandlungen, der ergänzenden Leistungen zur Heilbehandlung sowie der Kosten für Verletztengeld und Sozialversicherungsbeiträge.

Der Rentenbescheid vom 24. März 2011 war bestandskräftig und nicht offensichtlich nichtig. Die Verpflichtung zur Rentenzahlung ergibt sich unmittelbar aus dem Bescheid und musste daher durch die Beklagte erfolgen. An den Rentenbescheid war die Kammer aufgrund der Bestandskraft gebunden.

Mit dem Bescheid sind der Beklagten Kosten für eine im Jahr 2011 erstmalig festgestellte Arbeitsunfallrente von über 10.000,00 € entstanden. Die Voraussetzungen zur Erhebung eines Zuschlags lagen damit vor. Dieser wurde auch in der korrekten Höhe festgesetzt.

Der angefochtene Bescheid ist damit rechtmäßig. Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm. § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Streitwert war in Höhe des geltend gemachten Zuschlages festzusetzen (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG).