Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.06.1992, Az.: 4 L 2234/91

Notwendiger Lebensunterhalt; Einmalige Leistung; Sozialhilfe; Fernsehgerät; Reparaturkosten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.06.1992
Aktenzeichen
4 L 2234/91
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1992, 13323
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1992:0610.4L2234.91.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 23.09.1991 - AZ: 4 A 4475/90
nachfolgend
BVerwG - 21.07.1994 - AZ: BVerwG 5 C 52.92

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer - vom 23. September 1991 geändert.

Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 1990 und der Widerspruchsbescheid vom 17. April 1991 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Hilfe zum Lebensunterhalt durch Übernahme der Kosten in Höhe von 176,30 DM für die Reparatur des Fernsehgerätes zu gewähren.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 250,-- DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Beklagte gewährt der Klägerin Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie lehnte durch Bescheid vom 29. November 1990 den Antrag der Klägerin, die Kosten für die Reparatur eines Fernsehgerätes zu übernehmen, mit der Begründung ab, Mittel für die Beschaffung oder Reparatur eines Fernsehgerätes gehörten nicht zum notwendigen Lebensunterhalt. Die Klägerin ließ das Fernsehgerät reparieren. Laut Rechnung vom 21. Dezember 1990 beliefen sich die Kosten auf 176,30 DM. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17. April 1991 zurück.

2

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23. September 1991 abgewiesen und sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 22. Mai 1975, BVerwGE 48, 237, und Urt. v. 3. Nov. 1988, BVerwGE 80, 349) gestützt.

3

Die Klägerin hat rechtzeitig Berufung eingelegt.

4

Sie beantragt,

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den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 29. November 1990 und den Widerspruchsbescheid vom 17. April 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr, der Klägerin, Hilfe zum Lebensunterhalt durch Übernahme der Kosten in Höhe von 176,30 DM für die Reparatur des Fernsehgerätes zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

9

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und auch begründet.

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Die Klägerin hat nach den §§ 11, 12 BSHG Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Reparatur ihres Fernsehgerätes in Höhe von 176,30 DM. Der Senat hat sich in dem Urteil vom 12. Juli 1989 (4 OVG A 200/88) mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts in dem genannten Urteil vom 3. November 1988, die Mittel für die Anschaffung eines (gebrauchten Schwarz-Weiß-)Fernsehgerätes gehörten nicht zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 12 Abs. 1 BSHG, kritisch auseinandergesetzt und dazu ausgeführt:

11

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats orientiert sich der Begriff des notwendigen Lebensunterhalts an dem in § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG festgelegten Grundsatz, daß dem Hilfesuchenden die Führung eines der Menschenwürde entsprechenden Lebens ermöglicht werden soll. Dies ist nicht schon dann gewährleistet, wenn das physiologisch Notwendige vorhanden ist; es ist vielmehr zugleich auf die jeweiligen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung, insbesondere der Bürger mit niedrigem Einkommen, abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22. 4. 1970, BVerwGE 35, 178 [BVerwG 22.04.1970 - V C 98/69] = FEVS 17, 321). Dem Hilfesuchenden soll es ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben (vgl. BVerwG, Urt. v. 11. 11. 1970, BVerwGE 36, 256 [BVerwG 11.11.1970 - V C 32/70] = FEVS 18, 86). Der Senat vermag sich nicht dem Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, FEVS 39, 89) anzuschließen, er habe bei den erstgenannten Urteilen "unter Außerachtlassung der den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte Sinn und Tragweite von aus ihrem Zusammenhang gelösten Ausführungen ... verkannt". Mag das Bundesverwaltungsgericht in den genannten Urteilen auch bestimmte Konstellationen beurteilt haben, so hat es doch über die Beurteilung des Einzelfalls hinausgehende Überlegungen niedergelegt (die der Senat nach wie vor für richtig hält), und es hat diese Überlegungen zudem noch in seinem Urteil vom 12. April 1984 (BVerwGE 69, 146 = FEVS 33, 441) erneut bekräftigt. In der letztgenannten Entscheidung, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 3. November 1988 nicht erwähnt hat, hat es nochmals ausgeführt, für die Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" i.S. von § 12 BSHG komme es auf die herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen der Bevölkerung an. Dabei hat es diese Auffassung noch durch die Wendung verstärkt, der "allgemeine Lebenszuschnitt" sei ein Bezugspunkt für die Leistungen der Sozialhilfe, von dem die Träger der Sozialhilfe nicht abweichen dürften. Auch diese Überlegungen, denen sich der Senat und andere Oberverwaltungsgerichte (vgl. Giese/Rademacker, Ausgewählte Fragen des Sozialhilferechts, NWVBl 1989, 163 m.w.N.) angeschlossen haben, hält der Senat nach wie vor für zutreffend.

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Für die Beantwortung der Frage, ob ein Gegenstand zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ist es also von erheblicher Bedeutung, ob Personen mit niedrigem Einkommen häufig oder gar durchweg mit solchen Gegenständen ausgestattet sind. Der Senat hebt an dieser Stelle hervor, daß er dabei in ständiger Rechtsprechung allein auf die Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen abgestellt hat, so daß der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes (Urt. v. 3. 11. 1988, aaO), der "Begriff 'Nichthilfeempfänger' umfasse einen überaus unbestimmten Kreis von Personen, deren Einkommen "zwischen dem durchschnittlichen Nettoarbeitseinkommen" unterer Lohngruppen (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 2 BSHG, § 4 Regelsatzverordnung) und dem Einkommen eines Millionärs" liege, dieser Rechtsprechung nicht entgegensteht. Die "Dichte" der Versorgung mit Gütern des Bedarfs ist als Indiz für die in der Bevölkerung herrschende Auffassung über deren Notwendigkeit sowie über die diesbezüglichen Lebensgewohnheiten und Erfahrungen anzusehen. Nur dieser Anknüpfungspunkt ist geeignet, den Strukturprinzipien des Bundessozialhilfegesetzes gerecht zu werden. Die Besonderheiten des Einzelfalles bzw. dieser Begriff lassen es nicht allein und durchweg zu, den Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" sachgerecht auszulegen. Was zum notwendigen Lebensunterhalt rechnet, steht nach allgemeiner Auffassung (vgl. BVerwG, Urt. v. 30. 11. 1966, BVerwGE 25, 357 = FEVS 14, 243; Schulte/Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, 2. Aufl., S. 11 f) nicht ein für allemal fest, sondern hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Nur die Betrachtung der Verhältnisse in der Gesellschaft führt dazu, daß auch der Mangel an höher bewerteten Gütern erfaßt wird, deren Besitz in der Gesellschaft "unabdingbar" geworden ist. Die Auslegung des Begriffes des "notwendigen Lebensunterhalts" hat keine soziale Adäquanz mehr, wenn sie auf einem bestimmten Niveau festgehalten wird, obwohl sich das Verhalten der Verbraucher grundlegend geändert hat (vgl. Galperin, Stand und Blockade der "Warenkorb-Reform", NDV 1983, 118). Da sich der Begriff des "notwendigen Lebensunterhaltes" nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der Gesellschaft bestimmen läßt, muß also auch auf die "Dichte" der Versorgung mit Verbrauchs- und anderen Gütern abgestellt werden. Jeder andere Ansatz führt zur Beliebigkeit dieser Begriffsbestimmung (vgl. Trenk-Hinterberger, Würde des Menschen und Sozialhilfe - Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG, ZfSH 1980, 46).

13

Allerdings ist mit der Bestimmung der "Versorgungsdichte" der "notwendige Lebensunterhalt" i.S. von § 12 BSHG nicht bereits abschließend beschrieben. Es läge ein Mißverständnis vor, wenn die Rechtsprechung des Senates dahin verstanden würde, es komme nur auf die "Dichte der Ausstattung" der Haushalte mit einem Gegenstand des Bedarfs an. Der Senat hat vielmehr in ständiger Rechtsprechung angenommen, daß ein bestimmter Gegenstand trotz einer hohen "Versorgungsdichte" dann nicht zum "notwendigen Lebensunterhalt" rechnet, wenn er nur eine Annehmlichkeit darstellt, etwa dann, wenn der Hilfeempfänger auf den Gegenstand nicht angewiesen ist, weil er einen anderen für denselben Zweck verwenden kann und ihm dies auch zuzumuten ist, weil dessen Gebrauch beispielsweise nur geringen zeitlichen und körperlichen (Mehr-)Aufwand erfordert. Insoweit hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bedacht, daß "es ... nicht Aufgabe der Sozialhilfe" ist, "eine höchstmögliche Ausweitung der Hilfen zu gewährleisten" (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. 1. 1966, BVerwGE 23, 149 = FEVS 14, 81). In ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urt. v. 8. 3. 1989 - 4 VG A 121/87 -) hat der Senat zudem bei der Bestimmung des "notwendigen Lebensunterhaltes" § 3 Abs. 1 BSHG angewandt und (aaO) beispielsweise ausgeführt, für einen Hilfesuchenden sei eine eigene Waschmaschine dann nicht notwendig, wenn er in einem Mehrfamilienhaus lebe, in dem der Vermieter eine Gemeinschaftswaschanlage eingerichtet habe, und es dem Hilfesuchenden zuzumuten sei, diese zu benutzen. Jedoch ist nur dann auf § 3 Abs. 1 BSHG einzugehen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles dazu Anlaß geben. Geht es darum, (sozial-)typische Sachverhalte zu betrachten, und weicht der vom Gericht zu beurteilende Fall nicht von einer typischen Fallkonstellation ab, so hilft § 3 Abs. 1 BSHG nicht weiter, also etwa dann, wenn zwischen dem Haushalt eines Hilfeempfängers und den Haushalten der Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen keine entscheidungserheblichen Unterschiede bestehen. Dementsprechend wird in dem "Statistikmodell", das in Zukunft der Bemessung der Regelsätze zugrunde liegen soll, auf das typische Verbraucherverhalten der Referenzgruppe abgestellt.

14

Daran hält der Senat fest. Das bedeutet hier: Da nahezu alle Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland, auch die mit geringem Einkommen, mit Fernsehgeräten ausgestattet sind (Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1991, S. 540), ist also auch Sozialhilfeempfängern, wenn sie es wünschen, zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse nach Information, Bildung und Unterhaltung über das Medium Fernsehen zu decken, zumal (gebrauchte) Schwarz-Weiß-Fernsehgeräte zu sehr niedrigen Preisen gehandelt werden und sicher nicht teurer als neue Rundfunkgeräte sind. Auf Wunsch des Hilfeempfängers sind auch die Kosten für die Reparatur eines Fernsehgerätes zu übernehmen, wenn die Reparatur - wie hier - sich noch lohnt und gegenüber den Kosten für die Anschaffung eines (gebrauchten) Schwarz-Weiß-Fernsehgerätes unverhältnismäßige Mehrkosten nicht verursacht (§ 3 Abs. 2 Sätze 1 und 3 BSHG). Reparaturkosten bis zur Höhe von 200,-- DM halten sich in diesem Rahmen (Beschl. d. Sen. v. 17. Mai 1990 - 4 M 45/90 -).

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.

17

Klay

18

Zeisler

19

Atzler