Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 04.06.2019, Az.: 8 B 105/19

Bestandskraft; Überstellungsfrist; Verlängerung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
04.06.2019
Aktenzeichen
8 B 105/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69953
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Schutzsuchender im sog. Kirchenasyl, der den Behörden seinen Aufenthalt mitgeteilt hat, ist grundsätzlich nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.

Gründe

I.

Der Asylantrag des Antragstellers, der bereits im Jahr 2015 in Schweden erfolglos einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 17. Oktober 2018 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Antragstellers nach Schweden angeordnet, mit der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Gegen diesen Bescheid, den der Antragsteller am 23. Oktober 2018 erhalten hat, hat er weder Klage erhoben noch einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.

Die Evangelische Kirchengemeinde C. informierte am 27. November 2018 das Bundesamt, dass dem Antragsteller mit Wirkung vom selbigen Tag Kirchenasyl in ihren Räumlichkeiten am D. gewährt worden sei. Das Bundesamt teilte daraufhin der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen mit Schreiben vom 28. November 2018 mit, dass sich der Antragsteller seit dem 27. November 2018 im Kirchenasyl der Evangelischen Kirchengemeinde C., E., F. befände und die Kirchengemeinde aufgefordert worden sei, bis zum 27. Dezember 2018 ein begründetes Härtefalldossier einzureichen. Ferner wurde in dem Schreiben ausgeführt, dass die Länder sich im Rahmen der Innenministerkonferenz vom 6. bis 8. Juni 2018 verständigt hätten, während der Prüfung des Dossiers durch das Bundesamt von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.

Am 27. Dezember 2018 übersandte die Kirchengemeinde das Dossier. Nach dessen Prüfung stellte das Bundesamt in einem Vermerk vom 11. Januar 2019 fest, dass keine besonderen Umstände des Einzelfalls und daraus resultierende Vollzugshindernisse zur Vermeidung von besonderen humanitären Härten zu Gunsten des Antragstellers festgestellt werden konnten und die Prüfung auf individuelle Härten im Sinne der Vereinbarung zwischen den Kirchen und dem Bundesamt daher als abgeschlossen angesehen werde. Dies teilte das Bundesamt noch am gleichen Tag der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen mit. In dem Schreiben wird weiter ausgeführt, dass die Kirchengemeinde gebeten worden sei, bis zum 14. Januar 2019 mitzuteilen, ob der Antragsteller das Kirchenasyl verlassen habe. Werde das Kirchenasyl nicht beendet, gelte die 18-monatige Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO. Für den Vollzug der Überstellung und die Entscheidung über die Art und Weise, wie diese tatsächlich erfolgt, seien die Ausländerbehörden originär zuständig.

Die Kirchengemeinde teilte dem Bundesamt noch am 11. Januar 2019 mit, dass der Antragsteller im Kirchenasyl verbleiben und weiterhin unter der dem Bundesamt bereits bekannten Adresse wohnen werde.

Mit an die schwedischen Behörden gerichtetem Schreiben vom 16. Januar 2019 erklärte das Bundesamt, dass der Antragsteller flüchtig sei und deshalb die 18-monatige Überstellungsfrist gelte. Hierüber informierte es auch die Landesaufnahmebehörde.

Die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers wandte sich mit Schreiben vom 17. April 2019 an das Bundesamt mit der Bitte, wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist über den Asylantrag des Antragstellers im nationalen Verfahren zu entscheiden. Das Bundesamt teilte daraufhin der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit, dass die 18-monatige Überstellungsfrist gelte, weil der Antragsteller weiter im Kirchenasyl verblieben sei.

Der Antragsteller erhob am 21. Mai 2019 Klage (Az. 8 A 283/18) mit dem Antrag, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. Oktober 2018 aufzuheben und sie zu verpflichten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben und das Asylbegehren des Klägers im nationalen Verfahren zu prüfen. Zur Begründung führt er aus, dass sich die sechsmonatige Überstellungsfrist nicht verlängert habe, da die Ausländerbehörde trotz des Kirchenasyls nicht gehindert gewesen sei, ihn abzuschieben.

Am 24. Mai 2019 hat der Antragsteller zudem beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die zuständige Ausländerbehörde der Kreisstadt A-Stadt anzuweisen, von der Überstellung des Antragstellers nach Schweden abzusehen, bis über die Klage vom 20. Mai 2019 entschieden wurde.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass die Klage verfristet und der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen sei.

II.

Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Zwar ist vorläufiger Rechtsschutz gegen eine sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung grundsätzlich gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren (vgl. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG), sodass ein Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht statthaft und damit unzulässig wäre (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO). Ist die Abschiebungsanordnung aber - wie vorliegend - bestandskräftig geworden, muss der Betroffene, wenn er eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) geltend machen will, zur Sicherung seines Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO beantragen, der Bundesrepublik als Rechtsträgerin des Bundesamtes aufzugeben, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 21.04.2015 - 10 CE 15.810 -, juris Rn. 5; VG München, Beschl. v. 27.02.2019 - M 11 E 19.50096 -, juris Rn. 14; VG Regensburg, Beschl. v. 13.03.2019 - RO 9 E 19.50172 -, juris Rn. 18 f.; vgl. auch VG Berlin, Beschl. v. 18.04.2019 - 28 L 88.19 A -, juris Rn. 15).

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Hierbei hat der Antragsteller gem. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen des zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen im Sinne des § 294 ZPO (vgl. etwa Nds. OVG, Beschl. v. 12.3.2009 - 5 ME 425/08 -, juris Rn. 7; VG München, Beschl. v. 27.02.2019 - M 11 E 19.50096 -, juris Rn. 16).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Ein Anordnungsgrund liegt vor, weil der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, dass er jederzeit mit seiner Abschiebung nach Schweden rechnen muss, ohne dass zuvor der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens geprüft worden wäre (vgl. dazu auch VG Berlin, Beschl. v. 18.04.2019 - 28 L 88.19 A -, juris Rn. 46; VG Gießen, Beschl. v. 18.12.2018 - 8 L 5528/18.GI.A -, juris Rn. 13). Entgegenstehende Umstände sind weder von der Antragsgegnerin vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Auch besteht ein Anordnungsanspruch. Denn der Antragsteller hat gegenüber dem Bundesamt eine nachträgliche Veränderung der Sach- und Rechtslage zu seinen Gunsten geltend gemacht, so dass das Bundesamt nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (ggf. über § 71 Abs. 1 AsylG, vgl. VG München, Beschl. v. 27.02.2019 - M 11 E 19.50096 -, juris Rn. 19) auf seinen Antrag hin über die Aufhebung oder Änderung des Bescheides vom 17. Oktober 2018 zu entscheiden hat. Denn der Bescheid ist nachträglich infolge des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist, infolge dessen die Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zuständig wurde (§ 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO; vgl. auch EuGH, Urt. v. 25.10.2017 - C-201/16 -, juris Rn. 34), rechtswidrig geworden. Die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Überstellungsfrist lagen entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht vor. Der Antragsteller war nicht allein deshalb flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG, weil ihm Kirchenasyl gewährt worden war (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 16.05.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2 m.w.N.; VG Aachen, Urt. v. 15.05.2019 - 2 K 3160/18.A -, juris Rn. 22; VG Düsseldorf, Beschl. v. 13.05.2019 - 15 L 1184/19.A -, juris Rn. 21 m.w.N.; VG Gießen, Beschl. v. 18.12.2018 - 8 L 5528/18.GI.A -, juris Rn. 11; a.A. VG Regensburg, Beschl. v. 02.04.2019 - RO 5 S 19.50123 -, juris Rn. 22 ff.; VG Bayreuth, Beschl. v. 30.01.2019 - B 8 S 19.50007 -, juris S. 8).

Ausnahmsweise gestattet Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO eine Verlängerung der sechsmonatigen Überstellungsfrist, um zu berücksichtigen, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund der Inhaftierung oder Flucht der betreffenden Person tatsächlich unmöglich ist, die Überstellung durchzuführen (EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 60). Ein Antragsteller ist „flüchtig“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln (EuGH, Urt. v. 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 70).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Zwar befand sich der Antragsteller seit dem 27. November 2018 im Kirchenasyl, jedoch hat er den deutschen Behörden seinen Aufenthaltsort mitgeteilt und sich damit ihnen nicht entzogen (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 16.05.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2; VG Aachen, Urt. v. 15.05.2019 - 2 K 3160/18.A -, juris Rn. 25, 27 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 13.05.2019 - 15 L 1184/19.A -, juris Rn. 23). Der zuständigen Ausländerbehörde war eine Abschiebung aus dem Kirchenasyl heraus möglich, sie hat diese jedoch aufgrund einer autonomen Entscheidung nicht durchgeführt (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 16.05.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 23.03.2018 - 1 LA 7/18 -, juris Rn. 18; VG Aachen, Urt. v. 15.05.2019 - 2 K 3160/18.A -, juris Rn. 31, 36; VG Düsseldorf, Beschl. v. 13.05.2019 - 15 L 1184/19.A -, juris Rn. 24, 26; VG Berlin, Beschl. v. 08.05.2019 - 3 L 177.19 A -, juris Rn. 13 ff.; VG Gießen, Beschl. v. 18.12.2018 - 8 L 5528/18.GI.A -, juris Rn. 11). Eine tatsächliche Unmöglichkeit folgt auch nicht daraus, dass „faktisch keine zwangsweisen Durchsetzungen von Abschiebungen bzw. Überstellungen, oder jedenfalls nicht in nennenswertem Maße, aus dem Kirchenasyl heraus bekannt sind“ (so VG Regensburg, Beschl. v. 02.04.2019 - RO 5 S 19.50123 -, juris Rn. 24). Denn allein aus dem Unterlassen einer Maßnahme durch eine Behörde folgt nicht, dass ihr diese Maßnahme auch unmöglich wäre. Auch der Umstand, dass Schutzsuchende durch den Gang ins Kirchenasyl ihre Überstellung verhindern wollen würden (so VG Regensburg, Beschl. v. 02.04.2019 - RO 5 S 19.50123 -, juris Rn. 24), ändert nichts an der Beurteilung des Vorliegens der objektiven Voraussetzung des Flüchtigseins im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und führt insbesondere nicht zu einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Durchführung der Überstellung (so VG Regensburg, Beschl. v. 02.04.2019 - RO 5 S 19.50123 -, juris Rn. 24; in diesem Sinne auch VG Bayreuth, Beschl. v. 30.01.2019 - B 8 S 19.50007 -, juris S. 9 f.).

Unabhängig davon, ob es hierauf überhaupt ankommt, hatte das Bundesamt, das von einem Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist am 15. April 2019 ausging, der Landesaufnahmebehörde zwar zunächst mitgeteilt, dass während der Prüfung des Dossiers der Kirchengemeinde von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen sei. Jedoch erklärte das Bundesamt die Prüfung gegenüber der Landesaufnahmebehörde am 11. Januar 2019 für beendet und wies darauf hin, dass für den Vollzug der Überstellung die Ausländerbehörden originär zuständig seien. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt war die Landesaufnahmebehörde an einer Abschiebung des Antragstellers nach Schweden nicht gehindert (vgl. dazu auch VG Berlin, Beschl. v. 08.05.2019 - 3 L 177.19 A -, juris Rn. 21).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.