Sozialgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.10.2002, Az.: S 6 KR 144/02 ER
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 25.10.2002
- Aktenzeichen
- S 6 KR 144/02 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 35569
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2002:1025.S6KR144.02ER.0A
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache weiter als freiwilliges Mitglied zu führen, wenn die Antragstellerin die seit 15. Februar 2002 angefallenen Mitgliedsbeiträge bis zum 29. November 2002 entrichtet. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen Kosten dieses Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um das Weiterbestehen eines freiwilligen Krankenversicherungsverhältnisses.
Die 1953 geborene Antragstellerin war bis 30. Juni 2001 wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenpflichtversichert. Ihr Antrag beim Arbeitsamt Braunschweig, nach Ende des Arbeitslosengeldbezuges weiterhin Arbeitslosenhilfe zu zahlen, war von dort zunächst nicht zeitnah beschieden worden. In der Folgezeit erging vom Arbeitsamt am 23. Mai 2001 ein Ablehnungsbescheid und ein Widerspruchsbescheid vom 22. November 2001, gegen den unter dem Aktenzeichen S 7 AL 506/01 Klage beim Sozialgericht Braunschweig anhängig ist. Eine Weiterführung der Krankenversicherung als Pflichtversicherung kam deshalb nicht Betracht. Am 2. August 2001 hatte die Antragstellerin deshalb bei der Antragsgegnerin ihr Wahlrecht im Hinblick auf die Weiterführung als freiwilliges Mitglied ausgeübt. Die Antragsgegnerin führte daraufhin ab 1 Juli 2001 die Mitgliedschaft als freiwillige Versicherung weiter. Mit Schreiben vom 17.August 2001 an die Antragstellerin teilte die Antragsgegnerin mit, wegen des ungeklärten Leistungsantrags beim Arbeitsamt die freiwilligen Mitgliedsbeiträge zunächst bis zu drei Monaten zu stunden. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2001 wies sie auf das Ende der Stundung am 30. September 2001 hin und bat um Angaben zum Einkommen, damit die freiwilligen Beiträge errechnet werden könnten Die Antragstellerin gab an, kein Einkommen zu haben Mit Bescheid vom 13. November 2001 stufte die Antragsgegnerin sie daraufhin ab 1. Juli 2001 in die niedrigste Beitragsstufe (Mindestbeitragsbemessungsgrundlage) ein. Mit Beitragsbescheid vom 27. Dezember 2001 wurden Beiträge für die Zeit vom 1. Juli bis 30. November 2001 in Höhe von insgesamt 1 106,60 DM (einschließlich Säumniszuschlag und Mahngebühr) angefordert. Zahlungen der Antragstellerin erfolgten nicht.
Mit Schreiben vom 30 Januar 2002 wies die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf den bestehenden Beitragsrückstand von mehr als zwei Monaten, nämlich für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2001 hin und darauf, dass kraft Gesetzes (§ 191 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V -) die Mitgliedschaft freiwillig Versicherter in der Krankenversicherung mit Ablauf des nächsten Zahltages endet, wenn die fälligen Beiträge für zwei Monate trotz Hinweises auf die Folgen nicht entrichtet wurden. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, den gesamten Beitragsrückstand bis zum 15. Februar 2002 zu begleichen.
Dieses Schreiben wurde der Antragstellerin mit Postzustellungsurkunde durch Niederlegung am 4. Februar 2002 zugestellt. Mit Schreiben vom 8. Februar 2002 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin das Ende der Mitgliedschaft zum 15. Februar 2002 mit, da die rückständigen Beiträge nicht gezahlt worden seien. Am 25. Februar 2002 meldete sich die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin telefonisch und teilte mit, die Mitteilung über das Ende der Mitgliedschaft erst am 21. Februar 2002 erhalten zu haben. Sie bat um Weiterführung des Versicherungsverhältnisses. Dies wurde von der Antragsgegnerin abgelehnt.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2002 bat die Antragstellerin erneut um Überprüfung des Krankenversicherungsverhältnisses. Die Rechtsfolge des § 191 Nr. 3 SGB V könnte nicht eingetreten sein, da die Antragstellerin nicht auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden sei. Zwar sei das entsprechende Hinweisschreiben formal ordnungsgemäß zugestellt worden. Da die Klägerin dieses jedoch tatsächlich erst am 21. Februar 2002 erhalten habe, sei die Hinweis- und Warnfunktion erst zu diesem Zeitpunkt zum Tragen gekommen. Die von der Antragsgegnerin gesetzten Fristen seien verstrichen gewesen. Die Antragstellerin habe die Beitragszahlung nicht mehr fristgerecht bewerkstelligen können. Durch Scheckzahlung sei dann aber zum 7. März 2002 der gesamte Beitragsrückstand beglichen worden. Von der Antragstellerin wurde der Antragsgegnerin eine Frist bis zum 15. August 2002 zur Entscheidung über die Weiterführung des Krankenversicherungsverhältnisses gesetzt.
Am 22. August 2002 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Braunschweig den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Wegen des ungeklärten Krankenversicherungsverhältnisses sei die Antragstellerin derzeit faktisch ohne Krankenversicherungsschutz. In einer privaten Krankenversicherung sei solcher Schutz wegen des Alters und der Vorerkrankungen der Antragstellerin nicht zu erhalten. Ob die Sozialhilfe im Krankheitsfall einspringe, sei völlig ungewiss. Die Feststellung der Antragsgegnerin über das Ende der freiwilligen Mitgliedschaft sei falsch, da die Voraussetzungen des § 191 Nr. 3 SGB V nicht vorgelegen hätten. Die Antragstellerin sei nicht rechtzeitig im Sinne dieser Vorschrift auf das Ende der Mitgliedschaft hingewiesen worden. Das Hinweisschreiben habe die Antragstellerin nie erreicht. Es sei zwar gemäß Postzustellungsurkunde ordnungsgemäß niedergelegt worden, jedoch nach Ende der Niederlegungsfrist an die Antragsgegnerin von der Post zurückgesandt worden.
Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Weg des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, die Antragstellern bis zu rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache weiter als freiwilliges Mitglied zu führen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Voraussetzungen des § 191 Nr. 3 SGB V seien erfüllt. Die Antragstellerin sei ausweislich der in der Verwaltungsakte befindlichen Postzustellungsurkunde durch Niederlegung des Hinweisschreibens vom 30. Januar 2002 am 4. Februar 2002 auf das drohende Ende der Mitgliedschaft hingewiesen worden. Sollte die Zustellung durch Niederlegung per Postzustellungsurkunde hierzu nicht ausreichen, könnte ein Empfänger durch beabsichtigte Verzögerung der Annahme des Schriftstückes die Rechtsfolge des § 191 Nr. 3 SGB V ins Leere laufen lassen.
Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts hat die Antragsgegnerin die Behauptung der Antragstellerin, das niedergelegte Schriftstück sei nach Ende der Niederlegungsfrist wieder von der Post an die Antragsgegnerin zurückgesandt worden, nicht bestritten. Aus der Verwaltungsakte lässt sich die Rücksendung allerdings nicht erkennen.
Die Antragsgegnerin hat gegenüber dem Gericht erklärt, das Schreiben der Antragstellerin vom 22. Juni 2002 als Widerspruch zu werten und ein entsprechendes Vorverfahren durchzuführen.
Wegen näheren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin sowie auf die Gerichtsakten und auf die beigezogenen Gerichtsakten S 7 AL 506/01 nebst Verwaltungsakten des Arbeitsamtes Braunschweig, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, verwiesen.
II.
Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Im Streit ist das Bestehen des (freiwilligen) Krankenversicherungsschutzes der Antragstellerin auch über den 15. Februar 2002 hinaus. Dies ist ein streitiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG Im Rahmen eines bisher noch nicht anhängigen Hauptsachestreites wird zu klären sein, ob die Rechtsfolge des § 191 Nr. 3 SGB V eingetreten ist. Danach endet die freiwillige Mitgliedschaft mit Ablauf des nächsten Zahltages, wenn für zwei Monate die fälligen Beiträge trotz Hinweises auf die Folgen nicht entrichtet wurden. Die Rechtsfolge ergibt sich aus dem Gesetz und bedarf keines feststellenden Verwaltungsaktes. Zwar hat die Antragsgegnerin - und daran wird sie sich im weiteren Verlauf auch festhalten lassen müssen -angekündigt, das Schreiben der Antragstellerin vom 22. Juni 2002 als Widerspruch zu werten und ein Vorverfahren durchzuführen. Eines solchen Vorverfahrens hätte es allerdings nicht bedurft in der Hauptsache hätte sogleich Feststellungsklage erhoben werden können. In beiden Varianten ist das Sozialgericht Braunschweig das Gericht der Hauptsache im Sinne des § 86 b Abs. 2 SGG.
Der Antrag ist auch begründet. Die getroffene Regelung scheint zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin nötig.
Das Ergebnis beruht auf einer Abwägung der Interessen der Antragstellerin (wobei insbesondere die ohne die vorläufige Regelung zu erwartenden Nachteile zu berücksichtigen sind) mit den Interessen der Antragsgegnerin, also der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung. Hierbei kommt es im Regelfall entscheidend auf die Aussichten im Hauptverfahren an. Die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren untunlich sein (vgl. Bundesverfassungsgericht) K65/01, Beschluss vom 4. Juli 2001) oder zumindest auf eine oberflächliche Wäsche Prüfung beschränkt bleiben. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz folgt, dass die Gerichte wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln müssen und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Folgenabwagung treffen können (Bundesverfassungsgericht aaO mwN). Einer Interessenabwägung bedarf es normalerweise nicht, wenn die Hauptsacheklage entweder offensichtlich begründet oder offensichtlich unbegründet ist. Weder der eine noch der andere Fall liegt hier vor.
Es lässt sich bei summarischer Prüfung nicht abschließend feststellen, ob die Klage erfolgreich sein wird oder nicht. Es sprechen nicht unerhebliche Gründe sowohl für die Antragstellerin als auch für die Antragsgegnerin.
Für die Antragstellerin spricht zum einen der Wortlaut des Gesetzes. In § 191 Nr. 3 SGB V ist nicht die Rede von der Zustellung eines Hinweisschreibens, sondern davon, dass die betroffenen Versicherten auf die Rechtsfolge des drohenden Endes der freiwilligen Versicherung hingewiesen wurden Ein Hinweis setzt aber die tatsächliche (und nicht die durch das Verwaltungszustellungsgesetz fingierte) Kenntnis von einem Hinweisschreiben voraus Ebenfalls für die Antragstellerin spricht, dass deren Klagbegehren, nämlich weitere Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung über den 15. Februar 2002 hinaus bereits dann erfolgreich sein wird, wenn die Klage gegen das Arbeitsamt Braunschweig Erfolg hat. Dann nämlich besteht rückwirkend ab 1. Juli 2001 sogar eine Pflichtversicherung.
Für die Antragsgegnerin spricht, dass es möglicherweise gegen Sinn und Zweck der Zustellungsvorschriften verstoßen würde, diese im Falle des § 191 Nr. 3 SGB V nicht anzuwenden. Wie die Antragsgegnerin richtig vorträgt, hatte es dann ein säumiger Beitragszahler in der Hand, das Ende der freiwilligen Mitgliedschaft allein dadurch zu verhindern, dass er die Entgegennahme von entsprechenden Hinweisen der Krankenkasse verweigert bzw. vereitelt.
Die demnach hier vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus.
Sollte sich nach Abschluss des Rechtsstreits in der Hauptsache herausstellen, dass die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin richtig ist, hätte die Versichertengemeinschaft (deren Interessen die Antragsgegnerin einzig wahrzunehmen hat; eigene Interessen der Antragsgegnerin, die in die Güteabwägung einzubeziehen wären, gibt es nicht) nur dann einen -finanziellen - Schaden, wenn die auf die Antragstellerin entfallenen Kosten (z.B. für ärztliche Behandlungen) deren Beitragszahlungen überschreiten. Ob dann von der Antragstellerin Schadenersatz gefordert und ein möglicher Anspruch vollstreckt werden kann, ist äußerst fraglich.
Sollte die einstweilige Anordnung nicht erlassen werden, so müsste sich die Antragstellerin entweder einen teuren privaten Krankenversicherungsschutz suchen (sofern ein Versicherungsunternehmen mit ihr überhaupt einen Vertrag abschließt) oder aber mit der Ungewissheit leben, im Bedarfsfall alle ärztlichen Leistungen privat zahlen zu müssen. Auf die Absicherung über die Sozialhilfe kann sie sich nicht verlassen. Das dabei bestehende finanzielle Risiko ist unüberschaubar und soll ja gerade durch die gesetzliche Sozialversicherung aufgefangen werden. Wenn die Hauptsacheklage dann Erfolg hat (mit dem Ergebnis, dass entweder ab 1. Juli 2001 Pflichtversicherung oder über den 15. Februar 2002 hinaus eine freiwillige Versicherung bei der Antragsgegnerin bestand) dürfte die prozessuale Durchsetzung eines Anspruchs der Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin in Höhe der verauslagten privatärztlichen Behandlungskosten etc. schwierig werden.
Bei Gegenüberstellung der wechselseitigen Risiken liegt auf der Hand, dass es der Versichertengemeinschaft wesentlich leichter fällt mit dem dargestellten Risiko umzugehen als der Antragstellerin.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.