Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 08.11.2018, Az.: 2 A 676/17

Asyl; Bagdad; Baquba; Diyala; Irak; Rückkehrer; Sunnitische Stadtviertel; Zugangsbeschränkungen

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
08.11.2018
Aktenzeichen
2 A 676/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74289
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Sunnitischen Arabern droht in der Provinz Diyala (Irak) grundsätzlich keine Verfolgung; dies gilt auch für Binnenvertriebene und Rückkehrer aus dem Ausland.
2. In der Provinz Diyala herrscht gegenwärtig kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.
3. Sunniten verfügen mit den sunnitisch geprägten Stadtvierteln Bagdads grundsätzlich über eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Tatbestand:

Der 1991 geborene, ledige Kläger ist irakischer Staatsangehöriger, arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er am 21.08.2015 oder am 20.10.2015 aus seinem Heimatland aus und erreichte die Bundesrepublik Deutschland am 01. oder 02.11.2015 auf dem Landweg. Am 20.01.2016 stellte er einen Asylantrag.

Bei seinen Befragungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 20.01.2016 und am 01.08.2017 gab er an, er stamme aus dem irakischen Gouvernement Diyala, dort aus dessen Hauptstadt Baquba, wo er mit seinen Eltern und einem seiner Brüder in einem „Eigentumshaus“ gelebt habe. Zwischenzeitlich sei ein weiterer Bruder aus der Türkei zurückgekehrt, sodass in dem Haus momentan seine Eltern und zwei seiner Brüder lebten. In Baquba habe er zudem drei Schwestern. Eine weitere Schwester lebe in Bagdad. Zu seinen Eltern habe er ein gutes Verhältnis. Er habe an einer Universität in Baquba einen Studienabschluss in Informatik erworben. Als Informatiker habe er im Zentrum von Baquba als Freiberufler gearbeitet und so ca. 400 USD pro Monat verdient. Als Gründe für seine Ausreise gab er an, dass der sog. IS am 14.06.2014 im Gouvernement Diyala eingerückt sei. Seit diesem Tag hätten sich in Baquba viele schiitische Milizen gezeigt und dort weitgehend die Kontrolle übernommen. Insbesondere Sunniten seien kontrolliert und verschleppt worden. Es habe Anschläge gegen und Ermordungen von Sunniten gegeben. Insbesondere seien einmal eine Vielzahl sunnitischer Gefängnisinsassen getötet sowie eine sunnitische Moschee in die Luft gesprengt worden. Ihm selbst sei zunächst nichts geschehen. Eines Tages habe ihn jedoch ein ehemaliger Kommilitone angerufen und ihn danach in seinem Laden besucht. Der Bekannte habe ihn dort gefragt, ob er nicht der schiitischen Miliz beitreten wolle. Der Kläger habe Bedenkzeit erhalten und habe diese genutzt, um auf Anraten seiner Eltern sofort nach Bagdad zu seiner Schwester zu reisen. Dort habe ihn der Freund abermals angerufen und ihm auf unfreundliche Weise mitgeteilt, dass aufgrund seiner Flucht nach Bagdad nunmehr sein Leben – also das des Klägers – bedroht sei. In Bagdad habe es zudem sehr viele schiitische Milizen gegeben, sodass sich der Kläger zur Ausreise entschlossen habe. Insgesamt habe er die letzten zehn Tage vor seiner Ausreise bei seiner Schwester in Bagdad gewohnt. Auf die Frage des Bundesamtes, ob er die Bedrohungen nicht etwas überspitzt dargestellt habe und es nicht vielmehr wirtschaftliche Gründe gewesen seien, die ihn zur Ausreise bewegt hätten, bestätigte er wirtschaftliche Gründe als Hauptgrund seiner Ausreise. Die Bedrohungen seien lediglich als weiterer Grund hinzugekommen.

Mit Bescheid vom 07.08.2017 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Den subsidiären Schutzstatus gewährte sie ebenfalls nicht. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen. Sie forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss seines Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Irak androhte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Hiergegen hat der Kläger am 22.08.2017 Klage erhoben.

Zu deren Begründung trägt er vor, dass es eine asylrechtlich relevante Verfolgung von Sunniten durch Schiiten im Irak gebe. Es herrsche im Irak zudem ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Mit den Bedrohungen durch seinen Studienfreund lägen auch gefahrerhöhende Umstände vor, weil der Kläger konkret in den Blick genommen worden sei. Die Beklagte habe zu den Gründen der Ausreise unzulässige Suggestivfragen gestellt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 07.08.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

äußerst hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den Staat Irak zugunsten des Klägers vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu seinen Fluchtgründen angehört. Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Stadt Göttingen Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie Erkenntnismittel, die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste – nebst deren Ergänzung, die der Prozessbevollmächtigten des Klägers vor der mündlichen Verhandlung übermittelt worden ist – ersichtlich sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 07.08.2017 ist rechtmäßig und der Kläger hat den geltend gemachten Anspruch nicht (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie – (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.

Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Eine solche Gefahr kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 – 10 C 11/08, juris Rn. 14; VGH München, Beschl. v. 03.06.2016 – 9 ZB 12.30404, juris Rn. 5). Erforderlich ist demnach eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, die – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzt, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Diese Verfolgung muss landesweit drohen (VGH München, aaO, juris Rn. 5).

Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 – 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 – 9 C 109.84, zitiert nach juris).

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Gemessen hieran droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgung.

Soweit der Kläger für sein Begehren geltend macht, dass er von seinem ehemaligen Kommilitonen für die schiitische Miliz rekrutiert und nach seiner Flucht nach Bagdad von diesem mit dem Tod bedroht worden sei, fehlt es an einem verfolgungsrelevanten Anknüpfungsmerkmal, denn der Kläger ist nach eigenen Angaben gerade nicht aufgrund seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit von seinem – schiitischen – Studienfreund bedroht worden. Dieser wollte den Kläger vielmehr trotz des abweichenden Glaubens für sich und die schiitischen Milizen gewinnen. Zudem erreicht dieser Vorgang, seine Wahrheit zugunsten des Klägers unterstellt, auch nicht die von § 3a AsylG verlangte Verfolgungsintensität. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG verlangt für die Annahme einer Verfolgung die schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Eine vereinzelte Drohung, die ohne Folgen geblieben ist, erfüllt diese Voraussetzung nicht (vgl. nur VG Göttingen, Urt. v. 11.07.2018 – 2 A 378/16, V.n.b.). Auch hier handelt es sich bei dem Drohanruf um einen einmaligen Vorgang, der ohne Folgen geblieben ist. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zudem präzisiert, dass der Bekannte ihn nicht direkt mit dem Tod bedroht habe, sondern lediglich besonders unfreundlich gewesen sei. Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, dass seine in Baquba lebenden Eltern und Geschwister in der Folge bedroht worden seien. Er hat zudem auch in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass er primär aufgrund der wirtschaftlichen Lage ausgereist sei. Der Drohanruf sei lediglich als weiterer Grund hinzugekommen. Dies spricht ebenfalls gegen eine hinreichende Verfolgungsintensität, weil für den Kläger die wirtschaftlichen Gründe nach wie vor überwiegen und die Drohung dementsprechend nicht von hinreichender Intensität gewesen sein kann.

Auch eine staatliche oder nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Menschen sunnitischer Glaubenszugehörigkeit liegt nicht vor. Im Allgemeinen kann eine solche Gruppenverfolgung zwar insbesondere auch dann anzunehmen sein, wenn der Kläger gehindert würde, an seinen Heimatort zurückzukehren. In einer solchen Verfolgung läge eine neue Verfolgung, die nicht in einem inneren Zusammenhang mit der vom IS ausgehenden stünde. Nach der o.a. Rechtsprechung gilt infolgedessen nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie für den Kläger. Es müsste daher eine solche Verfolgung – einschließlich der erforderlichen Verfolgungsintensität – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dies ist nicht der Fall. Denn es fehlt jedenfalls an der erforderlichen Verfolgungsdichte:

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Auskunftsquellen gibt es zwar teilweise willkürliche Maßnahmen, um die Rückkehr von Flüchtlingen in die ehemals vom IS beherrschten Gebiete zu verhindern. So heißt es im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes (v. 12.02.2018, S. 11), auch nach der Befreiung der Gebiete vom IS werde die Rückkehr durch fehlenden Wiederaufbau, unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeit und die Anwesenheit schiitischer Milizen erschwert. Nach dem UNHCR-Positionspapier zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016 gibt es auch nach der Rückgewinnung etwa der Provinz Ninawa vielfache Zuzugsbeschränkungen. Genannt wird hierbei die Pflicht, einen Bürgen zu benennen. Diese Auskunftslage bezieht sich auch ausdrücklich und speziell auf Sunniten, weil diese häufig verdächtigt werden, mit dem IS zusammengearbeitet zu haben. Nach dem Menschenrechtsreport von amnesty international für das Jahr 2017 hätten zwar 10.000 Binnenvertriebene nach langwierigen Sicherheitsüberprüfungen in ihre Heimat zurückkehren können; dies sei jedoch Zehntausenden von Sunniten, die aus den Provinzen Babil, Diyala und Salah al Din stammten, unmöglich gemacht worden. Auch das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) berichtet in seinem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 24.08.2017 davon, dass die Bewegungsfreiheit vertriebener Sunniten und Turkmenen willkürlich eingeschränkt werde (vgl. dort S. 150).

Der Kläger kann hieraus jedoch für sich nichts ableiten: Zum einen ist von einer grundsätzlichen Schutzbereitschaft der irakischen Streitkräfte zugunsten von Sunniten auszugehen. Denn Hintergrund mancher der o.g. Beschränkungshandlungen ist den Berichten zufolge die Sorge vor yezidischen Racheakten an Sunniten. Hinzu kommt, dass das Gouvernement Diyala, aus dem der Kläger stammt, nach wie vor vorwiegend sunnitisch geprägt ist. Der Anteil der sunnitischen Araber, zu denen der Kläger zählt, liegt in Diyala bei 65-70 Prozent. Diese prozentuale Verteilung lässt sich auf die Stadt Baquba übertragen (BFA, Anfragebeantwortung vom 29.08.2018, Volksgruppen in der Stadt Baquba, S. 2). Mit etwaigen Zugangsbeschränkungen zulasten von nach Diyala zurückkehrenden Sunniten, die die nötige Verfolgungsdichte erreichen, ist daher nicht mit der nötigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Dementsprechend konnte nach der Ausreise des Klägers dessen Bruder, aus der Türkei kommend, zum Elternhaus in Baquba zurückkehren, ohne dass der Kläger von Zugangsbeschränkungen zulasten des Bruders berichtet hätte.

Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auch aus dem –selbständig tragenden – Grund nicht zu, dass ihm inländischer Schutz i.S.v. § 3e AsylG zur Verfügung steht. Zum einen kann er in der 500.000 Einwohnerstadt Baquba selbst Schutz finden. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Bekannte oder die schiitische Miliz ihn dort nach dem vollständigen Zurückdrängen des sog. IS ausfindig machen können, wenn er beispielsweise in einen anderen Stadtteil von Baquba zieht. Nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung leben seine Eltern, seine Brüder und Schwestern in Baquba im Wesentlichen unbehelligt.

Der Kläger kann ferner bei seiner Schwester in Bagdad Schutz finden. Dort hätte er 10 Tage vor seiner Ausreise ohne Zwischenfälle leben können, wenn er die seinem ehemaligen Kommilitonen bekannte Telefonnummer gewechselt hätte. Wechselt er bei seiner Rückkehr seine Telefonnummer, ist er für den Kommilitonen auch in Bagdad nicht erreich- und auffindbar. Dass die Schwester des Klägers in Bagdad nicht mehr über ihre Unterkunft verfügt, hat der Kläger nicht vorgetragen, so dass davon auszugehen ist, dass er dort eine Unterkunft erhalten kann. Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, dass er bei dieser Schwester nicht wieder unterkommen könnte. Er hat lediglich angegeben, dass er der Ansicht sei, seine Schwester könne nicht bis an sein Lebensende für ihn zu sorgen haben. Rechtlich gesehen ist dies jedoch kein Grund, der diese Zufluchtsmöglichkeit für ihn unzumutbar erscheinen lässt.

Auch gänzlich unabhängig von der familiären Anbindung steht dem Kläger mit Bagdad eine inländische Fluchtalternative i.S.v. § 3e AsylG zur Verfügung. Die Kammer hat entschieden, dass Sunniten jedenfalls in den sunnitisch geprägten Stadtvierteln Bagdads keine asylrechtlich relevante Verfolgung durch Schiiten droht, weil dort separate sunnitische und schiitische Stadtviertel entstanden sind (VG Göttingen, Urt. v. 22.03.2018 – 2 A 485/16, V.n.b.). Daher könnte der Kläger bei seiner Einreise, etwa über den Flughafen Bagdad, auch ohne familiäre Anbindung dort Schutz finden.

Auch andere Gründe, die es dem Kläger unzumutbar erscheinen lassen könnten, die aufgezeigten inländischen Schutzmöglichkeiten in Baquba oder Bagdad in Anspruch zu nehmen (vgl. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG), sind nicht ersichtlich. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es dem Kläger trotz der angespannten wirtschaftlichen Lage im Irak nicht möglich wäre, seinen Lebensunterhalt in Bagdad oder Baquba zumindest so weit zu sichern, dass er einen unmenschlichen oder erniedrigenden Zustand vermeiden könnte. Der Kläger wäre – auch ohne verwandtschaftliche Unterstützung – darauf zu verweisen, sein Existenzminimum durch eigene Arbeit zu sichern. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht einmal Zugang zu Gelegenheitsarbeiten hätte, die ihm zumindest ein bescheidenes, aber insoweit ausreichendes Einkommen einbringen würden. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger 27 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter ist. Derzeitig bestehende körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, solche sind auch sonst nicht erkennbar. Ferner ist er arabischer Volkszugehörigkeit und spricht fließend Arabisch, so dass weder ethnische noch sprachliche Hindernisse naheliegen. Nach seinen Angaben hat er zudem bereits mehrere Jahre in Baquba als Informatiker freiberuflich gearbeitet. Insoweit ist er mit einem Universitätsabschluss hoch qualifiziert, diese Tätigkeiten auszuüben. Er verfügt über besondere berufliche Erfahrungen selbständig tätiger Informatiker, für die auch in Baquba und Bagdad eine Nachfrage bestehen wird. Es ist weiter zu berücksichtigen, dass jedenfalls die berichteten Arbeitslosenquoten für Männer – selbst unter Berücksichtigung einer Abweichung von der tatsächlichen Arbeitslosenquote – im internationalen Vergleich nicht als außergewöhnlich hoch zu bewerten sind. Unabhängig hiervon ergibt sich aus den Erkenntnismitteln kein Anhaltspunkt dafür, dass die Grundbedürfnisse des Klägers – etwa wegen einer völlig unzureichenden Versorgungs- und Angebotslage – ungeachtet seiner voraussichtlich verfügbaren Erwerbsmöglichkeiten nicht zu befriedigen wären. Selbst wenn man es als wahr unterstellte, dass es entsprechend den Worten des Klägers in der mündlichen Verhandlung schwierig sei, als alleinstehender „Fremder“ in Bagdad eine Wohnung zu finden, so erreichten solche allgemeinen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche nicht die Schwelle einer Unzumutbarkeit i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Träfe es ferner zu, dass der Ehemann seiner Schwester in Bagdad Schiit sei, so hat er daraus resultierende Probleme nicht angegeben. Solche sind auch nicht ersichtlich, weil er von seiner Schwester und deren Ehemann in Bagdad aufgenommen wurde und dort für 10 Tage gelebt hat, ohne dass er von Konflikten mit dem Ehemann oder anderen Schiiten berichtet hätte.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG bzw. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Soweit der Kläger sich vor Handlungen schiitischer Milizen fürchtet, gilt das oben zu der Gefahr einer Verfolgung Ausgeführte entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt. Auch ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt nicht vor. Weder für Bagdad noch für das Gouvernement Diyala, aus dem der Kläger stammt, liegen nach dem Zurückdrängen des sog. IS Erkenntnisse vor, die sich zur Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verdichten ließen (vgl. VG Augsburg, Urt. v. 24.09.2018 – Au 5 K 18.30807, juris Rn. 66 f.; VG Greifswald, Beschl. v. 30.07.2018 – 6 B 1023/18 HGW, juris Rn. 13 f.).

Zudem ist der subsidiäre Schutzstatus – abermals selbständig die Entscheidung tragend – ausgeschlossen, weil dem Kläger inländischer Schutz zur Verfügung steht. Insoweit gelten die zur Flüchtlingseigenschaft getätigten Ausführungen entsprechend (vgl. 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG).

Schließlich vermag sich der Kläger nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berufen. Insoweit wird auf die überzeugenden Gründe aus dem Bescheid umfassend Bezug genommen (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG).

Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG und ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenserwägungen des Bundesamts sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal der Kläger diesbezüglich keine Einwendungen vorgebracht und insbesondere keine fehlerhafte Ermessensausübung gerügt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.