Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 10.06.2016, Az.: 2 B 149/16
Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei einer möglichen einer Entscheidung in einem Drittstaat über subsidiären internationalen Schutz
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.06.2016
- Aktenzeichen
- 2 B 149/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 19493
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2016:0610.2B149.16.0A
Rechtsgrundlagen
- § 4 AsylVfG
- § 13 AsylVfG
- § 71a Abs. 1 AsylVfG
Fundstelle
- AUAS 2016, 160-163
Amtlicher Leitsatz
Zu der Frage, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit der Begründung ablehnen darf, es handele sich um einen Zweitantrag, wenn unklar ist, ob im sicheren Drittstaat auch über einen subsidiären internationalen Schutz entschieden worden ist.
Gründe
I.
Der am xx.xx.1981 geborene Antragsteller ist russischer Staatsangehöriger aus Tschetschenien. Er reiste am 25.07.2011 aus seinem Heimatland nach Schweden aus, wo er einen Asylantrag stellte. Dieser Antrag wurde am 25.11.2011 abgelehnt. Eine dagegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers wurde zurückgewiesen. Um einer Abschiebung nach Russland zu entgehen, reiste der Antragsteller aus Schweden aus und stellte im Juni 2012 in Frankreich einen weiteren Asylantrag. Im Dezember 2012 reiste er nach Deutschland aus, wo er am 10.01.2013 erneut einen Asylantrag stellte. Im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 22.01.2013 trug er vor, ihm sei in seinem Heimatland Betrug im Zusammenhang mit dem Verkauf von zwei Wohnungen vorgeworfen worden. Er habe deshalb Probleme mit eigenen Familienangehörigen und mit der Familie der Käufer gehabt und sei strafrechtlich verfolgt worden. Weil er mit einer Verurteilung zu zehn bis zwölf Jahren Freiheitsstrafe gerechnet habe, sei er ausgereist.
Am 21.11.2013 ersuchte das Bundesamt Schweden um Wiederaufnahme des Antragstellers. Diesem Gesuch wurde am 22.11.2013 entsprochen. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt beschloss das Bundesamt, den Asylantrag im nationalen Verfahren zu behandeln (Beiakte 002, Bl. 73). Mit Bescheid vom 26.04.2016 lehnte es den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen, forderte den Antragsteller unter Androhung seiner Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot. Zur Begründung führte es aus, der Antragsteller habe bereits in dem sicheren Drittstaat Schweden ein Asylverfahren erfolglos betrieben, sodass es sich bei dem erneuten Asylantrag in Deutschland um einen Zweitantrag handele. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland lägen jedoch ebenso wenig vor wie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG.
Am 09.05.2016 hat der Antragsteller Klage erhoben (2 A 148/16) und zugleich um Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht. Er ist der Auffassung, der Klage komme entgegen der Auffassung des Bundesamts aufschiebende Wirkung zu.
Der Antragsteller beantragt,
festzustellen, dass seine Klage gegen die im Bescheid des Bundesamts vom 26.04.2016 enthaltene Abschiebungsandrohung aufschiebende Wirkung hat,
hilfsweise,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge des Bundesamts und des Landkreises Northeim Bezug genommen.
II.
Der als Hauptantrag gestellte Feststellungsantrag hat keinen Erfolg, denn die Klage des Antragstellers hat keine aufschiebende Wirkung. Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Bundesamts ist § 71a des Asylgesetzes (AsylG). Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt (§ 71a Abs. 1 AsylG). Wird ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt, so sind gemäß § 71a Abs. 4 AsylG die §§ 34 bis 36, 42 und 43 entsprechend anzuwenden. Dies hat zur Folge, dass die Klage keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 75, § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG). Die Auswertung der von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zitierten Entscheidungen (VG Kassel, Beschluss vom 23.03.2016 - 6 L 375/16.KS.A - und VG Münster, Beschluss vom 26.02.2016 - 6 L 142/16.A) führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Beide Beschlüsse betreffen nicht die Entscheidung über einen Zweitantrag, sondern die Ablehnung von Asylanträgen als offensichtlich unbegründet. Außerdem stützen sie sich zur Begründung ihres Ergebnisses auf Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie n.F.). Im Verfahren des Antragstellers ist diese Vorschrift jedoch gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 2 der vorgenannten Richtlinie nicht anwendbar, weil er seinen Asylantrag vor dem 20.07.2015 gestellt hat. Maßgeblich sind deshalb die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Asylverfahrensrichtlinie a.F.). Die Asylverfahrensrichtlinie a.F. enthält in Art. 39 Abs. 3 keine mit Art. 46 Abs. 5 der Asylverfahrensrichtlinie n.F. vergleichbare Regelung. Vielmehr räumen Art. 39 Abs. 3 Lit. a und b der Asylverfahrensrichtlinie a. F. den Mitgliedstaaten die Befugnis ein, gegebenenfalls Vorschriften festzulegen im Zusammenhang mit (a) der Frage, ob der Rechtsbehelf nach Absatz 1 zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen, und (b) der Möglichkeit eines Rechtsmittels oder von Sicherungsmaßnahmen, wenn der Rechtsbehelf nach Absatz 1 nicht zur Folge hat, dass sich Antragsteller bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen. Von dieser Möglichkeit hat der Bundesgesetzgeber durch den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung und durch die Regelungen zum Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO in § 75 und § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG Gebrauch gemacht. Auf die Frage, ob der Rechtsauffassung der vom Antragsteller benannten Gerichte für die dort entscheidungserhebliche Konstellation gefolgt werden kann, kommt es danach im vorliegenden Verfahren nicht an.
Der hilfsweise gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers ist fristgerecht eingereicht (71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG) und auch im Übrigen zulässig (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 AsylG). Der Antrag ist auch begründet.
Die in § 71a Abs. 1 AsylG beschriebene Konstellation eines Zweitantrags liegt hier vor, denn ein Asylverfahren des Antragstellers in Schweden - einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG - wurde mit einem Bescheid vom 25.11.2011 erfolglos abgeschlossen, der Antragsteller hat in Deutschland einen weiteren Asylantrag gestellt und die Bundesrepublik Deutschland hat sich gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO), für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig erklärt. Die Dublin II-VO ist anwendbar, weil der Antragsteller seinen Asylantrag vor dem 01.01.2014 gestellt hat (Art. 49 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist - Dublin III-VO -).
Gemäß § 71a AsylG kommt es somit für die Frage, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, darauf an, ob neue Umstände geltend gemacht werden, die eine andere Entscheidung zur Frage des internationalen Schutzes erfordern könnten. Dies entspricht in Fällen, für die noch die Asylverfahrensrichtlinie a.F. gilt, nicht in vollem Umfang den europarechtlichen Grenzen, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Gestaltung einer nur eingeschränkten Prüfung von Anträgen auf Gewährung internationalen Schutzes beachten müssen. Das Gericht folgt insoweit den Ausführungen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 02.03.2016 (3 B 29/16, ).
Gemäß Art. 25 Abs. 2 Lit. f der Asylverfahrensrichtlinie a.F. können die Mitgliedstaaten einen Asylantrag als unzulässig betrachten, wenn der Asylbewerber nach einer rechtskräftigen Entscheidung "einen identischen Antrag" gestellt hat (vergleiche hierzu den Erwägungsgrund 15 sowie die Befugnis zur Beschleunigung der Regelungen nach Art. 23 Abs. 4 Lit. h der Asylverfahrensrichtlinie a.F.). Damit werden nach der Richtlinie für diesen Fall sehr enge Grenzen für Regelungen gesetzt, die ein Absehen von einer inhaltlichen Prüfung eines erneuten Schutzantrags vorsehen. Diesen Anforderungen wird § 71a AsylG nicht im vollen Umfang gerecht, da nach dieser Vorschrift nicht nur bei identischen Anträgen eine Sachprüfung von Schutzanträgen unterbleibt. § 71a AsylG ist daher für Fälle, in denen die Asylverfahrensrichtlinie a.F. noch anwendbar ist, unionskonform dahingehend auszulegen, dass eine Sachprüfung nur im Fall eines identischen Antrags unterbleibt.
Ob mit dem hier streitbefangenen Asylantrag vom 10.01.2013 ein Antrag gestellt wurde, der mit dem in Schweden gestellten Asylantrag identisch ist, ist ungewiss, weil das bisher vorliegende Erkenntnismaterial keinen Vergleich beider Anträge erlaubt. Abgesehen von den Entscheidungsdaten der schwedischen Asylablehnung und der Entscheidung über eine hiergegen durch den Antragsteller geführten Beschwerde sind den Akten keinerlei Erkenntnisse zum Ablauf und zum Gegenstand des Asylverfahrens des Antragstellers in Schweden zu entnehmen. Es ist auch nicht geklärt, welchen Inhalt die in Schweden getroffene Entscheidung hat. Das Bundesamt hat die schwedischen Akten nicht beigezogen und auch nicht durch Einholung einer Auskunft die Vorgeschichte aufgeklärt.
Es kann aber für einen im Jahr 2011 in Schweden gestellten Asylantrag nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass er inhaltlich mit einem später in Deutschland gestellten Asylantrag identisch ist. Dies hängt vielmehr unter anderem von der bisher offenen Frage ab, ob das Prüfprogramm beider Asylanträge gleich ist. Das Bundesamt hat nicht geklärt, ob der im Jahr 2011 in Schweden gestellte Asylantrag auch einen Antrag auf subsidiären Schutz beinhaltete. Dies erscheint deshalb nicht selbstverständlich, weil auch in Deutschland ein Antrag auf subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG erst seit Inkrafttreten der geänderten Fassung des § 13 AsylG (Art. 1 Nr. 15 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl. I S. 3474) am 01.12.2013 Gegenstand des Asylantrags ist. Zuvor umfasste der Antrag auf Asylanerkennung nur das "echte" Asyl gemäß Art. 16a Abs. 1 GG und den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), während subsidiärer Schutz in Deutschland nur im Rahmen des Abschiebungsschutzes nach § 60 AufenthG geprüft wurde. Wenn die Entwicklung des Asylverfahrens in Schweden ähnlich gewesen sein sollte, könnte ein dort im Jahr 2011 gestellter Asylantrag wohl nicht als identisch mit dem der Entscheidung des Bundesamts im Fall des Antragstellers zugrundeliegenden Antrag angesehen werden. Obwohl dieser Antrag vor dem 01.12.2013 gestellt worden ist, umfasste er auch den Antrag auf subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG. Das Änderungsgesetz enthält keine Übergangsbestimmungen, sodass sich der Gegenstand des vom Bundesamt in diesem Zeitpunkt noch nicht beschiedenen Antrags nach der Neufassung richtete und somit auch den Antrag auf subsidiären Schutz im Sinne von § 4 AsylG umfasste.
Hiervon ausgehend wäre im Fall eines nicht identischen Antrags vorliegend eine vollständig neue Sachprüfung unter Einbeziehung des internationalen subsidiären Schutzes geboten. Ein anderes Ergebnis hätte zur Folge, dass unter Umständen über den Antrag des Antragstellers auf Gewährung subsidiären Schutzes weder durch die schwedischen Behörden noch durch das Bundesamt und damit überhaupt nicht entschieden würde.
Angesichts der Unsicherheit über die Frage, ob es sich bei dem am 10.01.2013 gestellten Antrag um einen identischen Asylantrag im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie a.F. handelt, nimmt das Gericht eine Abwägung der Interessen des Antragstellers mit den berührten öffentlichen Interessen vor. Im Hinblick auf die hohen Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vergleiche zuletzt Beschluss vom 21.04.2016 - 2 BvR 273/16 -, ) an ablehnende gerichtliche Entscheidungen im Asyl-Eilverfahren zu stellen sind, wird dem Interesse des Antragsstellers, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bis zum Abschluss des Klageverfahrens verschont zu bleiben, der Vorrang eingeräumt.
Bei der Interessenabwägung hat das Gericht berücksichtigt, dass der Antragsteller nach eigenem Vortrag Unterlagen zu seinem in Schweden betriebenen Asylverfahren vernichtet hat. Dieser Umstand führt jedoch letztlich nicht zu einem anderen Ergebnis. Angesichts der komplizierten rechtlichen Zusammenhänge, die der Antragsteller nicht überblickt haben kann, ist nicht davon auszugehen, dass das mehrere Jahre zurückliegende Verhalten darauf ausgerichtet war, das Gericht zu der nunmehr getroffenen Entscheidung zu veranlassen. Das Unvermögen des Antragstellers, die Unterlagen jetzt noch vorzulegen, tritt deshalb gegenüber der behördlichen Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts zurück. Dem Bundesamt stehen im Verlauf des Klageverfahrens Möglichkeiten offen, durch Kontaktaufnahme mit den schwedischen Asylbehörden Informationen darüber zu erhalten, ob es sich bei den beiden Asylanträgen um identische Anträge im oben genannten Sinn handelt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass der Antragsteller, obwohl sein Feststellungsantrag keinen Erfolg hat, sein Rechtsschutzziel der Gewährleistung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vollständig erreicht.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.