Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 14.06.2016, Az.: 1 A 185/14
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 14.06.2016
- Aktenzeichen
- 1 A 185/14
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 35071
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2016:0614.1A185.14.0A
Fundstelle
- InfAuslR 2016, 375-376
In der Verwaltungsrechtssache
1. des Herrn, XXX,
2. der Frau XXX,
3. des XXX, vertr. d.d. XXX und XXX
4. des XXX, vertr. d.d. XXX und XXX
Staatsangehörigkeit: türkisch,
Kläger,
Proz.-Bev.
zu 1-4: Rechtsanwälte Freckmann und andere,
Dormannstraße 28, 30459 Hannover, - 202/2014F -
gegen
den Landkreis Göttingen, vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen, - 03 (2014-5168) -
Beklagter
Streitgegenstand: Aufenthaltserlaubnis (Türkei)
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 1. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2016 durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Dr. Smollich als Einzelrichter für Recht erkannt:
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28.08.2014 verpflichtet, den Klägern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25b AufenthG.
Die Kläger zu 1. und 2. reisten im Oktober 1991 ohne das erforderliche Visum unter einem Alias-Namen in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Asylantrag des Klägers zu 1. wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.01.1998 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Das Asylverfahren der Klägerin zu 2. war ebenfalls erfolglos. Die Kläger zu 3. und 4. sind in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Die Kläger werden seit dem rechtskräftigen Abschluss der Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland geduldet.
Auf Anträge aus den Jahren 2002 und 2005 lehnte der Beklagte die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG mit bestandskräftigem Bescheid vom 13.03.2006 ab, da neben einer fehlenden rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, insbesondere die Erfüllung der Passpflicht und die Sicherung des Lebensunterhalts, nicht vorlagen.
Den Antrag auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen vom 22.08.2008 nach § 104a AufenthG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 26.08.2009 ab. Das anschließende Klageverfahren wurde vergleichsweise beendet und führte zu der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen weiterer Kinder der Kläger zu 1. und 2. sowie zur Erteilung von Duldungen für die Kläger zu 1. - 4.
Mit Schreiben vom 11.11.2013 beantragten die Kläger erneut die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG, Der Beklagte deutete dies in einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens um, lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 28.08.2014 aber ab. Zur Begründung führte der Beklagte an, dass die Kläger zwar einen Wiederaufnahmegrund vorgetragen hätten, da sie nunmehr im Besitz von Nationalpässen seien und ihren Lebensunterhalt seit August 2013 eigenständig durch Erwerbstätigkeit sicherstellen würden/Aber trotz der nachträglichen Änderung der Sachlage käme die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht in Betracht. Dies wäre nur dann möglich, wenn sich die Kläger in die deutschen Lebensverhältnisse integriert hätten (Art. 8 EMRK). Dies sei jedoch nicht der Fall, weil sich die Kläger nicht auf Art. 8 EMRK berufen könnten, da sie sich aufgrund der Duldungen nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten hätten. Dies sei aber Voraussetzung.
Am 29.09.2014 haben die Kläger rechtzeitig Klage erhoben. Ursprünglich begehrten sie die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25/Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK. Nach Inkrafttreten des § 25b AufenthG zum 0108.2015 begehren die Kläger nunmehr Aufenthaltserlaubnisse nach dieser Vorschrift. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Voraussetzungen des § 25b AufenthG bis auf die Sicherung des Lebensunterhalts vorliegen. Dazu tragen die Kläger vor, die Kläger zu 1. und 2. seien im XXX unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt und schwer verletzt worden. Aus diesem Grund seien sie derzeit noch arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Klägerin zu 2. leide unter folgenden Erkrankungen: XXX
Sehr wahrscheinlich bestehe für sie dauernde Arbeitsunfähigkeit (ärztliche Bescheinigung vom XXX). Der Kläger zu 1. habe durch den Unfall folgende Verletzungen davongetragen: XXX. Er sei zurzeit 100 % arbeitsunfähig, Die Arbeitsfähigkeit könne erst erneut beurteilt werden, wenn eine Prothese im Knie implantiert worden sei, Eine körperliche Vollbelastung sei auch dann sicherlich nicht möglich. Eine Resteinschränkung der körperlichen Belastung werde für immer bleiben (ärztliches Attest vom 28.09.2015). Dem Kläger zu 1. sei im April 2016ejne Knieprothese transplantiert worden. Die OP sei gut verlaufen, er befinde sich zurzeit in der Rehabilitation. Ausweislich einer Bescheinigung seines früheren Arbeitgebers würde der Kläger zu 1. nach einer Heilung wieder eingestellt werden.
Die Kläger beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung des angegriffenen Bescheids vom 28.08.2014 zu verpflichten, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse nach § 25b AufenthG zu erteilen,
hilfsweise, den Beklagten unter Aufhebung des angegriffenen Bescheids vom 28.08.2014 zu verpflichten, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach seiner Auffassung haben die Kläger ihre Arbeitsunfähigkeit nicht ausreichend dargelegt. Sie hätten sich einer amtsärztlichen Untersuchung stellen müssen. Eine Prüfung, ob die Kläger wegen ihrer körperlichen Krankheiten ihren Lebensunterhalt nicht überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern können, sei deshalb nicht möglich.
Mit Beschluss vom 14.09.2015 hat das Gericht den Klägern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten bewilligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Kläger haben einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens sowie auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25b AufenthG. Der ablehnende Bescheid vom 28.08.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Anspruch auf Wiederaufgreifen des mit Bescheid vom 29.08.2009 beendeten Verfahrens ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr.1, Abs. 2 und 3 VwVfG. Es liegt eine neue Sachlage darin, dass die Kläger im Besitz von Nationalpässen sind und (wenigstens zwischenzeitlich) ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit gesichert haben. Darüber hinaus ist durch Inkrafttreten des § 25b AufenthG inzwischen eine neue Rechtslage eingetreten. Die Kläger konnten die Wiederaufgreifensgründe nicht im früheren Verfahren vortragen, weil sie erst danach eingetreten sind. Den (konkludenten) Antrag auf Wiederaufgreifen haben die Kläger innerhalb der Dreimonatsfrist (§ 51 Abs. 3 VwVfG) gestellt.
Der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse ergibt sich aus § 25b Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG für die Kläger zu 1. und 2. und aus § 25b Abs. 4 für die Kläger zu 3. und 4.
Die Kläger zu 1. und 2. erfüllen unstreitig die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Nrn. 1,2, 3 und 5 AufenthG.
Die Kläger zu 1. und 2. leben in einer häuslichen Gemeinschaft mit ihren minderjährigen ledigen Kindern und halten sich seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet im Bundesgebiet auf. Sie haben mit einem Einbürgerungstest nachgewiesen, dass sie über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügen und sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. Sie verfügen über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse und ihre Kinder, die Kläger zu 3. und 4., besuchen regelmäßig die Schule.
Streitig ist allein, ob die Kläger ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern können. Zurzeit ist dies nicht der Fall. Die Kläger zu 1. und 2. sind beide aufgrund der schweren Verletzungen aus einem unverschuldeten Verkehrsunfall arbeitsunfähig. Die. Klägerin zu 2. wird ihre Arbeitsfähigkeit auch nicht wieder erlangen, wie nach Überzeugung des Gerichts durch die ärztliche Bescheinigung von Dr. XXX vom XXX ausreichend dargelegt ist. Von der Voraussetzung der überwiegenden Lebensunterhaltssicherung wird nach § 25b Abs. 3 AufenthG dann abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen Krankheit nicht erfüllen kann. Diese Voraussetzung liegt bei der Klägerin zu 2. ausweislich der oben genannten ärztlichen Bescheinigung vor.
Der Kläger zu 1. ist zurzeit auch wegen der schweren Verletzungen aus dem unverschuldeten Verkehrsunfall arbeitsunfähig erkrankt. Er befindet sich in einer Rehabilitationsmaßnahme. Danach erst kann seine Erwerbsfähigkeit wieder neu beurteilt werden. Das Vorliegen der Sicherung des Lebensunterhalts liegt auch dann vor, wenn aufgrund der Lebenssituation zu erwarten ist, dass er zukünftig gesichert wird (Prognoseentscheidung). Eine positive Prognose ist u.a. dann gerechtfertigt, wenn ein belastbares Arbeitsplatzangebot vorliegt (s. Allgemeine Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, Nr. E). So liegt es hier. Der Kläger zu 1. hat mehrfach aktuelle Wiedereinstellungszusagen seines früheren Arbeitgebers vorgelegt (Arbeitgeberbescheinigung vom XXX, vom XXX und XXX). Dass die Wiedereinstellung des Klägers von seiner vollständigen Genesung abhängig gemacht wird, ist angesichts der schweren Verletzung des Klägers nachvollziehbar. Trotz der Verletzung des Klägers hat sein Arbeitgeber mehrfach, zuletzt vor zwei Monaten, eine Wiedereinstellung in Aussicht gestellt. Dies reicht in der konkreten Situation für die Annahme eines belastbaren Arbeitsplatzangebots aus. Die Vorlage eines Arbeitsvertrags ist nicht erforderlich und wäre hier unrealistisch. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger zu 1. bei einer vollständigen Genesung bei seinem früheren Arbeitgeber eine Beschäftigung aufnehmen kann.
Sollte dies nicht der Fall sein, weil seine Erwerbstätigkeit trotz der zurzeit positiven Prognose nicht wiederhergestellt werden kann, liegen bei ihm ebenfalls nach Überzeugung des Gerichts unzweifelhaft die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG vor. Die Kläger werden entweder durch die Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1. ihren Lebensunterhalt sichern können oder von dieser Voraussetzung wird abzusehen sein, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung dazu nicht in der Lage sind. In jedem Fall steht ihnen ein Anspruch nach § 25b Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG zu.
Die beiden minderjährigen Kläger zu 3. und 4. haben einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 AufenthG. Die Voraussetzungen liegen unbestritten vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.