Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.10.2021, Az.: 2 A 312/18

Bundesverfassungsgericht; BVerfG; Erledigung der Hauptsache; Erledigung; Erledigendes Ereignis; Erledigungsfeststellung; Fortgeltungsanordnung; Nachzahlungszinsen; Weitergeltungsanordnung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
28.10.2021
Aktenzeichen
2 A 312/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 71036
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 31.01.2024 - AZ: 9 LC 266/21

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ordnet das Bundesverfassungsgericht die vorübergehende Weitergeltung einer als verfassungswidrig festgestellten Norm an, die Rechtsgrundlage eines mit dem Ar-gument der Verfassungswidrigkeit angefochtenen Bescheids war, so handelt es sich dabei um ein erledigendes Ereignis (hier: BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 -, zu Nachzahlungszinsen gem. §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO).

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Nachgang zu einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung um die Erledigung einer Anfechtungsklage gegen Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer für Verzinsungszeiträume zwischen 2014 und 2018.

Die Klägerin ist ein im Zuständigkeitsbereich der Beklagten ansässiges gewerbesteuerpflichtiges Unternehmen. Mit Bescheid vom 13.07.2018 setzte die Beklagte ihr gegenüber für das Veranlagungsjahr 2013 und den Verzinsungszeitraum 01.04.2015 bis 16.07.2018 Zinsnachforderungen zur Gewerbesteuer in Höhe von 448,00 Euro fest. Dabei legte sie eine Zinshöhe von 0,5 % pro Monat zu Grunde.

Gegen die in dem Bescheid enthaltene Zinsfestsetzung hat die Klägerin am 17.07.2018 Klage erhoben, zu deren Begründung sie Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Zinssatzes vorgetragen hat. Als Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17), demzufolge der Zinssatz nach §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 verfassungswidrig, aber weiter anwendbar ist, hat die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagte hat der Erledigungserklärung widersprochen.

Die Klägerin beantragt nunmehr sinngemäß,

festzustellen, dass die Hauptsache erledigt ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sei kein erledigendes Ereignis.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die die Kammer im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

I. Der Übergang von der Anfechtungs- zur Erledigungsfeststellungsklage ist zulässig.

Erklärt allein der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und widerspricht die Beklagte der Erledigung, ist über das Vorliegen einer Erledigung zu entscheiden und das Verfahren als Streit über die Erledigung fortzusetzen. Bei Erfolg wird die Erledigung der Hauptsache festgestellt. An die Stelle des durch den ursprünglichen Klageantrag bestimmten bisherigen Streitgegenstandes tritt der Streit über die Behauptung des Klägers, seinem Klagebegehren sei durch ein nachträgliches Ereignis die Grundlage entzogen worden (stRspr, vgl. BVerwG, Urt. v. 27.2.1969 - 8 C 37.67 -, BVerwGE 31, 318 = juris, Rn. 12; Nds. OVG, Beschl. v. 25.3.2010 - 11 LA 237/09 -, juris Rn. 2 m.w.N.).

Für die Umstellung vom ursprünglichen Klageantrag auf den Antrag, die Erledigung der Hauptsache auszusprechen, müssen nicht die für Klageänderungen geltenden einschränkenden Voraussetzungen des § 91 VwGO vorliegen (BVerwG, Urt. v. 22.1.1993 - 8 C 40.91 -, NVwZ 1993, 979 = juris Rn. 11; Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 28 mit zahlreichen w. N.).

II. Die Erledigungsfeststellungsklage ist begründet.

Das ursprüngliche Klagebegehren (Aufhebung der Zinsfestsetzung) hat sich durch ein nach Klageerhebung eingetretenes Ereignis tatsächlich erledigt (zu diesem Maßstab: BVerwG, Urt. v. 22.1.1993 - 8 C 40.91 -, NVwZ 1993, 979 = juris Rn. 11; Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 28-33). Zur Erledigung der Hauptsache geführt hat der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, juris), der die zwischen den Verfahrensbeteiligten streitbefangene Rechtsfrage um die Verfassungsgemäßheit der Zinsfestsetzung nach §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO geklärt und angeordnet hat, dass die verfassungswidrigen Normen vorübergehend weiter anzuwenden sind.

Eine Erledigung der Hauptsache tritt ein, wenn ein nach Klageerhebung eingetretenes außerprozessuales Ereignis dem Klagebegehren die Grundlage entzogen hat und die Klage deshalb für den Kläger gegenstandslos geworden ist. Dieser Erledigungsbegriff ist freizuhalten von Erwägungen, die sich auf die Zulässigkeit oder Begründetheit der ursprünglichen Klage beziehen (Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 9 f. mit zahlreichen w. N.). Das erledigende Ereignis kann auch in der Änderung der Rechtslage liegen, wobei die höchstrichterliche Klärung einer Rechtsfrage einer solchen nicht gleichzusetzen ist (BVerwG, Beschl. v. 2.5.2007 - 4 A 2000/07 -, juris Rn. 11; Zimmermann-Kreher, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 5).

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass der Kläger nicht nur dann zum Begehren auf Feststellung der Hauptsacheerledigung übergehen kann, wenn sich ein Verwaltungsakt etwa durch Untergang der in Anspruch genommenen Sache im engeren Sinne erledigt hat, sondern auch dann, wenn das Verfahren infolge einer Rechtsänderung oder einer anderen wesentlichen Änderung eine derartige Wendung zuungunsten des Klägers genommen hat, dass eine bis dahin aussichtsreiche Klage unbegründet geworden oder ihre Erfolgsaussicht entscheidend geschmälert worden ist. Insbesondere wenn der angefochtene Verwaltungsakt rückwirkend eine ordnungsgemäße Rechtsgrundlage erhält, kann der Kläger die Hauptsache für erledigt erklären (BVerwG, Urt. v. 22.1.1993 - 8 C 40.91 -, NVwZ 1993, 979 = juris Rn. 13; Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 10), weil tatsächlich Erledigung eingetreten ist (OVG NRW, Urt. v. 6.12.1974 - II A 468/74 -, juris Kurztext). Von Teilen der Rechtsprechung wird die Erledigung der Hauptsache durch den nachträglichen Erlass einer ausreichenden Rechtsgrundlage unabhängig davon angenommen, ob der Kläger sich gerade auf die fehlende Rechtsgrundlage berufen hat oder den streitigen Bescheid mit weiteren Rügen angegriffen hat (Nds. OVG, Urt. v. 3.8.1988 - 9 A 203 - 205/86 -, NVwZ-RR 1989, 447; VGH BaWü, Urt. v. 11.2.1988 - 2 S 657/86 -, NVwZ-RR 1989, 445 (446) [VGH Baden-Württemberg 11.02.1988 - 2 S 657/86]; s.a. HessVGH, Beschl. v. 29.3.1993 - 5 UE 512/92 -, juris Rn. 4; a.A. Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 161 Rn. 10).

In Anwendung dieser Maßstäbe handelt es sich bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, juris) um ein erledigendes Ereignis. Nach der Entscheidung steht fest, dass die Erhebung von Nachzahlungszinsen im Umfang von monatlich 0,5% für die Zeit ab dem 01.01.2014 verfassungswidrig war. Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch nicht auf die Klärung der Rechtsfrage in diesem Sinne beschränkt, sondern auch eine rückwirkende Rechtsgestaltung vorgenommen, indem es im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung die weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen bis zum 31.12.2018 für gerechtfertigt erklärt hat (Rn. 249 ff. des Beschlusses). Regelfolge des festgestellten Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG wäre die Unanwendbarkeit von §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO gewesen (vgl. Rn. 253 des Beschlusses). Die als Abwägungsentscheidung getroffene Fortgeltungsanordnung führt jedoch dazu, dass die Klage für Zeiträume zwischen 2014 und 2018, um die es hier ausschließlich geht, keinen Erfolg hat. Die Anordnung der Weitergeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes als besondere Rechtsfolge eines Verfassungsverstoßes geht nach Überzeugung der Kammer über die bloße - nicht zur Erledigung des Rechtsstreits führende - Klärung der Rechtslage hinaus (a.A. BFH, Beschl. v. 18.3.1994 - III B 543/90 -, BFHE 173, 506 = juris Rn. 13, 18; dazu: Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand: August 2021, Kommentierung Verfassungsrechtsschutz, W.T. leer, IV. Entscheidung des BVerfG und seine Wirkung, Rn. 67). Sie ist eher mit der nachträglichen Schaffung einer tauglichen Rechtsgrundlage vergleichbar als mit der Bestätigung der ursprünglichen Rechtsgrundlage. Sie hat die bis dahin aussichtsreiche Klage unbegründet gemacht.

Die Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung (gem. § 31 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) stellt die Kammer nicht infrage (s. dazu den von der Beklagten wohl in Bezug genommenen Beschl. d. BFH v. 28.4.2010 - II B 178/09 -, juris Rn. 6). Da die Klägerin ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage für die Erhebung von Nachzahlungszinsen beanstandet hat, ergibt es für sie keinen Sinn, das Verfahren fortzusetzen, nachdem diese Streitfrage vollständig geklärt und die übergangsweise Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts angeordnet ist. Es haben sich die objektiven Umstände des Rechtsstreits geändert und nicht lediglich das (subjektive) Motiv der Klägerin für die Prozessführung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Kammer lässt die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zu.

Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dann zu, wenn sie in rechtlicher Hinsicht eine Grundsatzfrage (Nds. OVG, Beschl. v. 22.1.2008 - 5 LA 19/07 -, juris) aufwirft, die im Rechtsmittelzug entscheidungserheblich und fallübergreifender Klärung zugänglich ist sowie im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss (Nds. OVG, Beschl. v. 24.3.2003, - 12 LA 19/03 -, juris, Rn. 12). Es muss zu erwarten sein, dass die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts dazu führen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterbildung des Rechts zu fördern (Rudisile, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 124 Rn. 30). Diese Voraussetzung liegt vor, da es grundsätzlicher Klärung bedarf, ob eine Fortgeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich einer als verfassungswidrig festgestellten Norm eine Rechtsänderung oder eine wesentliche Änderung darstellt, die - anders als eine Rechtsklärung - zur Erledigung der Hauptsache führt.