Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 15.11.2006, Az.: 2 A 68/06

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
15.11.2006
Aktenzeichen
2 A 68/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44224
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2006:1115.2A68.06.0A

Fundstelle

  • NuR 2007, 290-291 (Volltext mit amtl. LS)

In der Verwaltungsrechtssache

A.,

Klägers,

gegen

das Staatl. Gewerbeaufsichtsamt,

Beklagter,

Beigeladen:

D.,

Streitgegenstand: Festsetzung von Immissionswerten

hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 2. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 15. November 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Hirschmann, den Richter am Verwaltungsgericht Meyer, den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Struß sowie die ehrenamtlichen Richterinnen F. und G.

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Der Bescheid des Beklagten vom 23.07.2004 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 07.12.2005 werden insoweit aufgehoben, als darin ein Zwischenwert nach Nr. 6.7 TA Lärm für das Grundstück "H. festgesetzt wird.

    Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

    Die Verfahrenskosten tragen der Kläger zur Hälfte sowie der Beklagte und die Beigeladene zu je einem Viertel. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

    Hinsichtlich der Kostenentscheidung ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

    Die Beteiligten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht zuvor der vollstreckende Beteiligte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger möchte mit der Klage eine Reduzierung der auf sein Grundstück "H. einwirkenden Lärmimmissionen erreichen.

2

Eine wesentliche Ursache des Lärms vermutet er im Volkswagenwerk, das ca. 700 m südwestlich liegt. Zwischen Werk und Grundstück befinden sich die I. (B 188), ein Waldstück und eine Freifläche. Das klägerische Grundstück ist mit einer 1958 errichteten Doppelhaushälfte bebaut, die der Kläger seit Mitte der siebziger Jahre wieder bewohnt. Der seit dem 28.04.1970 rechtsverbindliche Bebauungsplan "J." der Stadt Wolfsburg setzt für das Grundstück ein "Reines Wohngebiet" fest. Für das ca. 6 km2 große VW-Werksgelände gibt es mit Ausnahme von Erweiterungsflächen keine Bebauungspläne. Der Flächennutzungsplan stellt ganz überwiegend ein "Industriegebiet" dar, was der tatsächlichen Nutzung, auch im nordöstlichen Bereich, entspricht.

3

Mit Schreiben vom 14.05.2001 wandte sich der Kläger an die Beigeladene. Er wies auf einen seit 1- 2 Jahren zunehmenden Lärmpegel hin. Ein ständiges, langanhaltendes Grollen sowie diverse heftige metallene Schläge wie von aneinander prallenden Güterwagen seien störend. Der Lärm sei an unterschiedlichen Tagen, vor allem innerhalb der Woche, manchmal aber auch an Samstagen zu hören.

4

Die Beigeladene ging dem Problem nach. Sie veranlasste Lärmminderungsmaßnahmen. Dauermessungen des von ihr beauftragten Ingenieurbüros K. ergaben jeweils nachts einen Beurteilungspegel von weniger als bzw. genau 42 dB(A) (Gutachten v. 07.11.2002 u.11.03.2004, vgl. auch TÜV-Bericht v. 7/02: 43 dB(A) am Immissionsort "L. M.").

5

Das beklagte Amt ermittelte in eigenen Messungen nachts 41,6 und 43,3 dB(A). Auf nicht unerhebliche Fremdgeräusche wurde jeweils hingewiesen.

6

Mit Schreiben vom 23.07.2004 teilte das beklagte Amt dem Kläger mit, unter Berücksichtigung der lärmtechnischen Gutachten sowie gutachterlicher Beurteilungen der schalltechnischen Immissionssituation und bei Beachtung des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme erscheine die Festsetzung eines Zwischenwertes nach Nr. 6.7 TA Lärm bzgl. des Nacht-Immissionsrichtwerts für "Gewerbelärm" am Immissionsort "N." in Höhe von 43 dB(A) geeignet. Die Messungen hätten einschließlich eines Fremdgeräuschanteils einen Wert unterhalb von 43 dB(A) ergeben, weshalb seitens des beklagten Amtes kein weitergehender Handlungsbedarf bestehe. Das Schreiben war nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen.

7

Nachdem das beklagte Amt mit Schreiben vom 08.03.2005 auf Nachfrage des Klägers erneut mitteilte, er gehe von einem Zwischenwert in Höhe von 43 dB(A) aus, erhob der Kläger am 22.07.2005 Widerspruch gegen die Zwischenwertfestsetzung vom 23.07.2004. Er legte dar, eine Gemengelage i.S.d. Nr. 6.7 TA Lärm bestehe wegen der zwischen VW-Werk und seinem Grundstück liegenden Hauptverkehrsstraße und wegen des Waldstücks nicht. Beide Gebiete grenzten nicht aneinander. Das VW-Werk wirke deshalb nicht prägend auf sein Wohngebiet ein.

8

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2005 wies das beklagte Amt den Widerspruch als unbegründet zurück. Eine Gemengelage bestehe angesichts der flächenmäßigen Ausdehnung des "Industriegebiets" VW-Werk wegen der geringen Nähe des Wohngebiets J.. Der Zwischenwert sei unter Berücksichtigung der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme vor allem wegen der historischen Entwicklung der Stadt Wolfsburg als Wohnsiedlung für die VW-Arbeitskräfte auch in der Höhe richtig festgesetzt worden.

9

Der Kläger hat am 12.01.2006 Klage erhoben. Er beruft sich auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend hat er zunächst schriftsätzlich vorgetragen, wegen der Lärmbelästigung sei es ihm und seinen Angehörigen nicht mehr möglich, bei gekipptem Fenster und heruntergelassenen Rollläden zu schlafen. Er lebe in einem von dem VW-Werk getrennten - jahrzehntelang - ruhigen Wohngebiet mit dem Charakter einer "verträumten Schlafsiedlung". Nach den spezifischen örtlichen Gegebenheiten habe das Wohngebiet "J." nichts mit dem Werk zu tun, zumal dessen Zu- und Abgangsverkehr woanders verlaufe. Die Größe des "Gewerbegebiets" VW-Werk dürfe keine Maßstab für die Prägung i.S.d. Nr. 6.7 TA Lärm sein. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dann erklärt, die Geräuschsituation habe sich seit ca. ein bis eineinhalb Jahren, also "längerfristig" (s. das Sitzungsprotokoll) verbessert. Der Lärm sei derzeit erträglich. Die von ihm als nicht hinnehmbar bezeichneten Lärmpegel, die früher zwei bis drei Mal in der Woche aufgetreten seien, hätten sich auf jetzt zwei bis vier Mal im Monat erheblich reduziert.

10

Der Kläger beantragt,

die durch Bescheid vom 23.07.2005 getroffene Zwischenwertfestsetzung von 43 dB(A) für den Nachtimmissionswert nach Nr. 6.7 TA Lärm für das Grundstück "H. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, gegenüber der Beigeladenen den für "Reines Wohngebiet" geltenden Immissionswert von 35 dB(A) durchzusetzen.

11

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Er vertieft seine Argumentation in dem Schreiben vom 23.07.2004 und dem Widerspruchsbescheid vom 07.12.2005. Die Begriffe "aneinandergrenzen" und "Gemengelage" in Nr. 6.7 TA Lärm seien immissionsschutzrechtlich und nicht städtebaulich (als kleinräumige Durchmischung von Wohnen und Gewerbe) zu verstehen. Ein Zwischenwert sei festzulegen, wo die nach § 50 BImSchG notwendige Trennung unterschiedlicher Nutzungen nicht erreicht werden könne. Es komme also auf die Einwirkung des Lärms aus dem Werk auf die Wohnsiedlung an. Diese stehe nach den Lärmgutachten fest. Eine erhebliche Zunahme der Lärmimmissionen sei in den letzten Jahren aber nicht zu verzeichnen. Ein Einschreiten gegenüber der Beigeladenen sei unverhältnismäßig. Einen Richtwert von 35 dB(A) könne der Kläger nicht beanspruchen.

13

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Sie führt an, die Voraussetzungen für eine Zwischenwertbildung nach Nr. 6.7 TA Lärm lägen vor. Ein Nachtwert von 43 dB(A) liege erheblich unter dem arithmetischen Mittel zwischen den Werten für ein Industriegebiet und ein Reines Wohngebiet. Für den Beklagten bestehe kein Grund zum Erlass einer nachträglichen Anordnung, da der Zwischenwert verlässlich einhalten werde und der Kläger keinen schädlichen Umwelteinwirkungen ausgesetzt sei.

15

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Nur die Klage gegen die Zwischenwertfestsetzung hat Erfolg (I.). Die Klage auf Einschreiten gegenüber der Beigeladenen war hingegen abzuweisen (II.).

17

I.

Soweit sich der Kläger gegen die Festsetzung eines Zwischenwertes von 43 dB(A) für sein Grundstück wendet, handelt es sich um eine Anfechtungsklage, für die auch eine Klagebefugnis besteht (§ 42 VwGO). Das Schreiben des beklagten Amtes vom 23.07.2004 musste vom Empfängerhorizont nach seinem objektiven Erklärungswert, auf den es für die rechtliche Bewertung ankommt (Kopp/Ramsauer, VwVfG, Komm., 9. Aufl., § 35 Rn. 18 - 20) als eine Regelung i.S.d. § 35 VwVfG und damit als Verwaltungsakt ("Bescheid") verstanden werden. Aus der Sicht des Klägers durfte angenommen werden, für die Zukunft werde ein Richtwert festgelegt, der die gegenwärtige Lärmbelastung festschreibe. Das gilt erst recht, wenn der Widerspruchsbescheid in die Betrachtung einbezogen wird, denn dieser spricht von einem "Bescheid vom 23.07.2004" und nennt als Rechtsgrundlage § 5 BImSchG i.V.m. Nr. 6.7 TA Lärm.

18

Der Bescheid des Beklagten vom 23.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

19

Dem angefochtenen Bescheid ist der Inhalt beizumessen, der ihm nach dem Verwaltungsverfahren und seinem Wortlaut zukommt. Es handelt sich um die Festsetzung eines Zwischenwertes nach Nr. 6.7 TA Lärm (6. VV zum BImSchG, Technische Anleitung Lärm v. 26.08.1998 - GMBl S. 503 - gegenüber dem Kläger. Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.

20

Ein in Anwendung der TA Lärm festgesetzter Zwischenwert kann Bestandteil einer Anlagengenehmigung sein. Er kann als Nebenbestimmung im Sinne eines Grenzwertes von vornherein oder nachträglich die von einer Anlage auf ein bestimmtes Gebiet einwirkenden Immissionen begrenzen. Die isolierte Festsetzung eines Zwischenwertes für ein betroffenes Grundstück gegen den Grundstückseigentümer ist immissionsrechtlich aber nicht vorgesehen. Eine Ermächtigungsgrundlage für das Handeln des Beklagten ist den Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes, den danach ergangenen Rechtsverordnungen, insbesondere der 4. BImSchV und der TA Lärm, nicht zu entnehmen.

21

Die TA Lärm ist eine auf § 48 BImSchG beruhende Verwaltungsvorschrift, der nur eine die Verwaltungsanwendung bindende Wirkung zukommt (vgl. Jarass, BImSchG, Komm., 5. Aufl., § 48, Rn. 29 -32, str., ob auch normkonkretisierende Wirkung). Die Rechtsqualität als Verwaltungsvorschrift spricht gegen eine Zwischenwertfestsetzung für ein betroffenes Grundstück. Nr. 5.1 TA Lärm enthält zudem Vorgaben für nachträgliche Anordnungen und richtet sich an den Anlagenbetreiber. Ferner nennt Nr. 6.7 TA Lärm als Bezugsgröße das von Immissionen betroffene "Gebiet" und nicht ein einzelnes Grundstück.

22

Adressat des § 5 BImSchG ist ebenfalls der Anlagenbetreiber. An die Beigeladene als Anlagenbetreiber ist der angefochtene Bescheid jedoch nicht gerichtet. Er ist der Beigeladenen auch nicht bekannt gegeben worden, so dass auch nicht von einem dem Kläger als Drittbetroffenen zusätzlich bekannt gegebenen Verwaltungsakt auszugehen ist.

23

Die Zwischenwertfestsetzung beschränkt den Kläger in der Nutzung seines Grundstücks, weil der Beklagte infolgedessen keine lärmmindernden Maßnahmen gegenüber der Beigeladenen ergreift. Der Kläger hat einen Anspruch auf Aufhebung des rechtswidrigen Bescheides.

24

II.

Soweit der Kläger ein Einschreiten des beklagten Amtes gegenüber der Beigeladenen zur Durchsetzung eines Immissionswertes von 35 dB(A) verlangt, ist die Klage als Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO zulässig. Die Kammer sieht in dem letzten Satz des Bescheides vom 23.07.2004, es werde kein weiter gehender Handlungsbedarf gesehen, keine Regelung des Inhalts, das beklagte Amt lehne den Erlass einer nachträglichen Anordnung nach § 17 BImSchG ab. Vielmehr ist der in seiner mehrfach vorgetragenen "Lärmbeschwerde" liegende Antrag des Klägers auf Tätigwerden noch nicht förmlich beschieden worden. Die Voraussetzungen des § 75 VwGO liegen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vor.

25

Die Kammer hat Zweifel, ob dem Kläger - noch - ein Rechtsschutzinteresse zur Seite steht, da er in der mündlichen Verhandlung geäußert hat, derzeit störe ihn der von dem VW-Werk ausgehende Lärm nicht. Anhaltspunkte für eine absehbare Erhöhung der Immissionsbelastung liegen nicht vor, so dass ein vorbeugender Rechtsschutz ausscheidet. Der Kläger ist insofern darauf zu verweisen, immissionsmindernde Anordnungen bei dem beklagten Amt zu beantragen, wenn der Lärm wieder als unzumutbar empfunden wird. Ein Rechtsschutzinteresse nimmt die Kammer aber aufgrund des letztlich von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers gestellten Antrags an, die Einhaltung eines Nacht-Immissionswertes von 35 dB(A) durchzusetzen. Damit fordert der Kläger eine weitere Senkung der Lärmeinwirkung, denn 35 dB(A) werden nach den vorliegenden Messergebnissen auch angesichts der von dem Kläger festgestellten, bereits eingetretenen Verbesserung der Lärmsituation nicht erreicht (s. aktuell Schallplan 11.05.2006, S. 20 zu Grundstück O.: Beurteilungspegel 43 dB(A)).

26

Das beklagte Amt ist nicht antragsgemäß zu verpflichten, weil der Kläger keinen Anspruch auf ein Einschreiten zur Durchsetzung des Immissionsrichtwertes von nachts 35 dB(A) für Reine Wohngebiete nach Nr. 6.1 c) TA Lärm bezüglich seines Grundstücks "N." hat.

27

Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch ist § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG. Nach dieser Vorschrift soll die zuständige Behörde nachträgliche Anordnungen treffen, wenn nach Erteilung der Genehmigung festgestellt wird, dass die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist. Dem Dritten steht ein Rechtsanspruch auf Erlass einer Anordnung bei einer Verletzung der Betreiberpflichten des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zu, da die Behörde im Regelfall des § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG eine nachträgliche Anordnung erlassen muss, wobei die Auswahl des Mittels und des Adressaten im behördlichen Ermessen liegen (Jarass, a.a.O., § 17 Rn. 60).

28

Schädliche Umwelteinwirkungen, sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG liegen im Hinblick auf das Grundstück des Klägers bei einer Überschreitung des Immissionsrichtwertes der Nr. 6.7 e) TA Lärm von nachts 35 dB(A) nicht vor. Die Immissionsrichtwerte der TA Lärm bilden einen geeigneten Anhaltspunkt für die Bewertung eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG (NdsOVG , Urt. v. 21.01.2004 - 7 LB 54/02 -, BauR 2004, 1419: "Werte indikatorischen Charakters für den Regelfall" Landmann/Rohmer-Dretlein, Umweltrecht, Band I, Stand: 01.10.2006, § 5 Rn.: 18, 100). Die Beigeladene verletzt im Falle einer von ihr verursachten Geräuschimmission, die den Richtwert für Reine Wohngebiete überschreitet, nicht ihre immissionsrechtlichen Pflichten zum Schutz der Bewohner des Wohngebiets J., in dem das klägerische Grundstück liegt.

29

Der Kläger kann eine Beachtung der Richtwerte für ein Reines Wohngebiet nicht verlangen. Er muss eine höhere Lärmbelästigung hinnehmen, da das Wohngebiet J. und das Volkswagenwerk in einer Gemengelage nach Nr. 6.7 TA Lärm liegen.

30

Unter einer Gemengelage versteht die TA Lärm das Aneinandergrenzen von gewerblich, industriell oder hinsichtlich der Geräuschauswirkungen vergleichbar genutzten Gebieten und zum Wohnen dienenden Gebieten. Ein unmittelbares Aneinandergrenzen ist nicht erforderlich. Die Nutzung eines Gewerbe- oder Industriegebietes muss sich aber noch prägend auf ein Wohngebiet auswirken (Landmann/Rohmer-Hansmann, Umweltrecht, Bd. II, Stand: 01.04.2006, TA Lärm, Rn. 25). Ungeachtet etwaiger Fremdgeräusche (Verkehrslärm) wirken sich jedenfalls auch die von dem Betrieb des Volkswagenwerks ausgehenden Lärmemissionen in dem Wohngebiet J. aus und prägen diesen Stadtteil als ein werksnahes Wohnquartier. Das ergibt sich nicht nur aus einer Beschreibung der von dem Kläger wahrgenommenen Geräusche, die das beklagte Amt auch bei einem Ortstermin feststellte (s. Vermerk v. 10.12.2003 zum Termin vom 08.12.2003, BA A). Auch die Schalltechnische Standortbewertung des VW-Werkes Wolfsburg des TÜV Rheinland/Berlin-Brandenburg vom 26.11.2003, der Bericht des Ingenieurbüros K. vom 07.11.2002 und der Bericht des beklagten Amtes vom 24.03.2004 (s. zu Ziff. 3.8. wahrgenommene Geräusche) sprechen für eine Einwirkung. Eine wesentliche Ursache für Immissionen in der Umgebung des Werks sind Lüftungsanlagen (s. Schallplan 29.11.2002, S. 16; Schallplan 11.05.2006, S. 21, s. auch S. 15).

31

Bei einer Gemengelage ist nach Nr. 6.7 1. Abs. Satz 1 TA Lärm ein "geeigneter Zwischenwert" entsprechend der "gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme" festzulegen. Für die Höhe des Zwischenwertes ist die "konkrete Schutzwürdigkeit des betroffenen Gebietes" maßgeblich (Nr. 6.7 2. Abs. TA Lärm). Dazu nennt die TA Lärm explizit "wesentliche Kriterien" (Nr. 6.7 2. Abs. TA Lärm). Diesen Kriterien folgend ist zwar zugunsten des Klägers von einer Prägung des Wohngebiets J. ausschließlich durch Wohngrundstücke auszugehen. Zugunsten der Beigeladenen fällt aber ins Gewicht, dass das VW-Werk bei Errichtung des klägerischen Wohnhauses 1958 schon vorhanden war, die industrielle Nutzung also i.S.d. Nr. 6.7 TA Lärm "zuerst verwirklicht" wurde. Seit Jahrzehnten wird das Stadtgebiet Wolfsburgs durch das Werk geprägt, weshalb typische Anlagengeräusche und beispielsweise Lärm von den Werksparkplätzen in angrenzenden Wohnlagen sogar als ortsüblich i.S.d. Nr. 6.7 TA Lärm bezeichnet werden können, was an den Betreiberpflichten der Beigeladenen nach § 5 BImSchG indessen nichts ändert. Das Wohngebiet J. hat zudem situationsgebunden wegen der Nähe zum Werk eine höhere Lärmbelastung als entfernter liegende Wohngebiete hinzunehmen, denn diese Lage bringt für die Bewohner auch Vorteile wie die schnelle Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes und der Innenstadt mit sich. Die Größe des Industriegebietes VW-Werk ist im Übrigen nicht zu berücksichtigen.

32

Die Immissionsrichtwerte eines Kern-, Dorf- und Mischgebietes sollen nach Nr. 6.7. 1. Abs. Satz 2 TA Lärm nicht überschritten werden. Damit liegt der regelmäßig zu beachtende Nacht-Höchstwert erst bei 45 dB(A). Nach den vorgelegten Unterlagen, hier dem Gutachten des TÜV Rheinland/Berlin/Brandenburg vom 27.11.2002, wurde der Stand der Lärmminderungstechnik eingehalten (Nr. 6.7 1. Abs. Satz 3 TA Lärm). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beigeladene bis heute von den gesetzlichen Vorgaben, den Stand der Technik in der Immissionsminderung zu wahren (s. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG), abgewichen ist (s. etwa Schallplan 2006, S. 18 - 20, 21 f.).

33

Nach einer Würdigung der gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme ist das beklagte Amt mithin nicht verpflichtet, die Beigeladene im Wege einer nachträglichen Anordnung gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 BImSchG zu verpflichten, einen Immissionsrichtwert von 35 dB(A) nachts, bezogen auf das klägerische Grundstück, einzuhalten.

34

Erst wenn der Richtwert für ein Kern-, Dorf- und Mischgebiet von 45 dB(A) überschritten wird, könnte sich zukünftig eine entsprechende Verpflichtung der Beigeladenen ergeben. Gegenwärtig ist das nicht der Fall.

35

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren nach § 162 Abs. 3 VwGO für erstattungsfähig zu erklären, weil sie das mit der Antragstellung verbundene Kostenrisiko auf sich genommen hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr.11, 711 ZPO.