Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.11.1996, Az.: 16 W 19/96
Gewährung von Prozesskostenhilfe mit einer Ratenzahlungsverpflichtung; Verstoß gegen die Aufgaben der Polizei bei Straßenverkehrsunfällen; Notierung der Personalien und des Kennzeichens des Fahrers; Drittbezogenheit einer Amtspflicht; Schutz privater Rechte
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 11.11.1996
- Aktenzeichen
- 16 W 19/96
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1996, 22804
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1996:1111.16W19.96.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Stade - 10.04.1996 - AZ: 4 O 82/96
Rechtsgrundlagen
- § 839 Abs. 1 BGB
- § 114 ZPO
- § 1 Abs. 3 NGefAG
Fundstellen
- NZV 1997, 354-355 (Volltext mit red. LS)
- zfs 1998, 47 (red. Leitsatz)
Der 16. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle hat
auf die Beschwerde des Antragstellers vom 24. April 1996
gegen den Beschluß der 4. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 10. April 1996
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... und
der Richter am Oberlandesgericht ... und ...
am 11. November 1996
beschlossen:
Tenor:
Der angefochtene Beschluß wird abgeändert:
Dem Antragsteller wird für die beabsichtigte Klage Prozeßkostenhilfe für den ersten Rechtszug bewilligt.
Ihm wird Rechtsanwalt ... in ... zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.
Gleichzeitig wird ihm aufgegeben, 150 DM monatlich, beginnend am 1. Januar 1997, an die Landeskasse zu zahlen, solange das Gericht nichts anderes bestimmt. Unabhängig vonder Zahl der Rechtszüge sind in einem Rechtsstreit jedoch nicht mehr als 48 Monatsraten zu zahlen.
Die Folgeraten sind jeweils bis zum 1. eines jeden Monats zu zahlen.
Eine Zahlungsaufforderung wird dem Zahlungspflichtigen in Kürze übersandt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg und führt dazu, daß ihm für die beabsichtigte Klage gegen den Antragsgegner Prozeßkostenhilfe mit einer Ratenzahlungsverpflichtung in Höhe von monatlich 150 DM zu gewähren ist.
Die vom Antragsteller beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 ZPO). Er trägt einen Sachverhalt schlüssig vor, der einen Amtshaftungsanspruch gegenüber dem Antragsgegner aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG begründet.
1.
Nach dem Vorbringen des Antragstellers haben die unfallaufnehmenden Polizeibeamten gegen ihre Amtspflicht aus § 1 Abs. 3 NGefAG in Verbindung mit dem Runderlaß des Niedersächsischen Innenministeriums vom 1. Juli 1981 (Nds.MBl. 1981, 662), der die Aufgaben der Polizei bei Straßenverkehrsunfällen regelt, verstoßen. Trotz des Hinweises des Fahrers des Kleinlastwagens ... auf die Frage des Beifahrers des hinter diesem Fahrzeug zum Stehen gekommenen holländischen Lkw "Wir sind aber an dem Unfall nicht schuld, oder?" haben es die Polizeibeamten nämlich unterlassen, die Personalien des Fahrers dieses Lkw oder auch nur das amtliche Kennzeichen des Fahrzeugs zu notieren. Damit haben sie in amtspflichtwidriger Weise gegen ihre Verpflichtung verstoßen, die Personalien der möglichen Beteiligten und Zeugen des Unfalls festzustellen, unverzüglich denUnfallhergang zu klären sowie das Beweismaterial für die Beurteilung der Schuldfrage sicherzustellen (s. 2.1.4 und 3.1 des o.g. Runderlasses). Diese vom Antragsteller schlüssig vorgetragene Amtspflichtverletzung indiziert auch ein Verschulden der unfallaufnehmenden Polizeibeamten.
2.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts oblag den Beamten die verletzte Amtspflicht jedenfalls auch dem Antragsteller gegenüber. Bei diesem handelt es sich unter den hier gegebenen Umständen um einen Dritten i.S.v. § 839 Abs. 1 BGB.
Der Kreis der nach § 839 BGB anspruchsberechtigten Dritten bestimmt sich nach dem Zweck, dem die verletzte Amtspflicht dient. Nur wenn sich aus den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie aus der Natur des Amtsgeschäfts ergibt, daß der Geschädigte zu dem Personenkreis gehört, dessen Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert sein sollen, besteht ihm gegenüber bei schuldhafter Pflichtverletzung eine Schadensersatzpflicht (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BGHZ 106, 323, 331) [BGH 26.01.1989 - III ZR 194/87].
Legt man diesen Prüfungsmaßstab zugrunde, so gehört der Antragsteller jedenfalls insoweit nicht zum Kreis der geschützten Dritten, als die Polizeibeamten bei der Unfallaufnahme als Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 163 StPO tätig wurden. Denn die in, dieser Bestimmung normierte Pflicht, Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten, dient nicht den Belangen des Einzelnen, sondern ausschließlich der Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruches, d.h. dem Allgemeininteresse (vgl. RGZ 172, 11, 13; OLG Hamburg MDR 1962, 130 [OLG Hamburg 08.09.1961 - 1 U 45/61]).
Die unfallaufnehmenden Polizeibeamten haben hier jedoch nicht nur als Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft gehandelt; sie sind vielmehr auch ordnungsbehördlich im Rahmen des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGefAG) tätig geworden. Nach § 1 Abs. 3 dieses Gesetzes obliegt der Polizei auch der Schutz privater Rechte, wenn ohne die polizeiliche Hilfe die Verwirklichung eines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. Diese Verpflichtung zum Einschreiten besteht nicht nur im Allgemeininteresse, sondern dient - zumindest auch - dem Schutz und dem Interesse des Einzelnen (vgl. RGZ 172, 11, 15 f.; Papier in MünchKomm. zum BGB, 2. Aufl., § 839 Rdnr. 199; Kreft in BGB-RGRK, 12. Aufl.; § 839 Rdnr. 242 m.w.N.). Daß dem so ist, wird insbesondere in Fällen wie dem vorliegenden deutlich, in dem der Fahrer des Pkw des Antragstellers infolge der bei dem Unfall erlittenen schweren Verletzungen gar nicht in der Lage war, selbst Feststellungen zum Unfallgeschehen und den daran Beteiligten zu treffen.
Der Antragsteller erweist sich jedoch noch unter einem anderen Gesichtspunkt als von § 839 Abs. 1 BGB geschützter Dritter. Die Polizei trifft nämlich auch die Verpflichtung, drohende strafbare Handlungen zu verhüten. Im vorliegenden Fall bedeutete dies, daß sie die Möglichkeit ausschließen mußte, daß sich ein Unfallbeteiligter unerlaubt vom Unfallort entfernte (vgl. § 142 StGB). Kommt die Polizei dieser Aufgabe nicht gehörig nach, so wird dadurch nicht allein eine der Allgemeinheit gegenüber, sondern auch eine dem gefährdeten Einzelnen gegenüber zu erfüllende Pflicht verletzt (vgl. RGZ 172, 11, 14; BGH LM BGB (Fg) § 839 Nr. 5). Auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt ist unter den hier gegebenen Umständen die Drittbezogenheit der verletzten Amtspflicht zu bejahen.
3.
Nach dem schlüssigen Vortrag des Antragstellers ist der notwendige Ursachenzusammenhang zwischen der Amtspflichtverletzung und dem ihm entstandenen Schaden ebenfalls gegeben. Nach der (mit entsprechenden Beweisantritten versehenen) Schilderung des Unfallhergangs in dem Entwurf der Klageschrift ist der Fahrer des holländischen Lkw, dessen Personalien festzustellen die unfallaufnehmenden Polizeibeamten unterlassen haben, für das Zustandekommen des Unfalls verantwortlich. Hätten die Polizeibeamten die notwendigen Feststellungen getroffen, so hätte der Antragsteller diesen bzw. den Halter und/oder die Haftpflichtversicherung des holländischen Lkw auf Schadensersatz in Anspruch nehmen können. Diese Möglichkeit ist ihm durch das Unterlassen der Polizeibeamten genommen worden, so daß sich sein Schadensersatzanspruch nunmehr gegen den Antragsgegner als der Anstellungskörperschaft richtet.
Sollte die vom Landgericht durchzuführende Beweisaufnahme ergeben, daß der Antragsgegner dem Grunde nach einstandspflichtig ist, so wird bei der Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs auch der Frage nachzugehen sein, ob den Fahrer des Pkw des Antragstellers ein Mitverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls trifft oder sich der Antragsteller jedenfalls die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs anrechnen lassen muß.
4.
Nach alledem war dem Antragsteller Prozeßkostenhilfe zu gewähren, weil die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Nach den Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ist er allerdings gemäß § 115 ZPO zur Zahlung monatlicher Raten in Höhe von 150 DM verpflichtet.