Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 27.01.2015, Az.: 12 B 245/15
Abschiebungsanordnung; Bulgarien; Sicherer Drittstaat
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 27.01.2015
- Aktenzeichen
- 12 B 245/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 45207
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26a AsylVfG
- § 34a AsylVfG
- Art 3 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die in der Aufnahmerichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie genannten Anforderungen erweitern den allgmeinen - eher niedrigen - völkervertraglichen Schutzstandard in Bulgarien des Art. 3 EMRK.
2. Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus in Bulgarien geraten derzeit wegen fehlenden Integrationsprogramms im Hinblick auf Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, fehlender Bildungsmöglichkeit und Armut in eine nahezu ausweglose Lage.
Gründe
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (12 A 243/15) gegen die Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Oktober 29014 ist gem. § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zulässig. Er ist insbesondere fristgerecht gestellt worden.
Der Antrag ist auch begründet.
Für eine nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung ist maßgebend, ob das private Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsaktes überwiegt. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs vorrangig zu berücksichtigen. Hat der Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg, weil der angegriffene Verwaltungsakt offenbar fehlerhaft ist, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist dagegen in aller Regel unbegründet, wenn der Antragsteller im Verfahren zur Hauptsache keinen Erfolg haben wird, insbesondere, wenn die angegriffene Verfügung rechtmäßig ist. Bei offenem Ausgang der Hauptsache sind die Folgen, die einträten, wenn die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet würde, die Klage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfG in ständiger Rechtsprechung, u.a. Beschluss vom 12. Januar 2014 - 1 BvR 3606/13 -, NVwZ 2014, S. 329 und juris). In einem solchen Fall geht die Interessenabwägung regelmäßig zu Gunsten der Antragstellerseite aus. Dem öffentlichen Interesse an der wirksamen und effektiven Durchsetzung der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, insbesondere der Regelungen zu den sicheren Drittstaaten, steht die mögliche Verletzung der grundrechtlich geschützten Positionen des Schutzsuchenden, wie sie insbesondere in Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta niedergelegt sind, gegenüber. Diese nicht wieder rückgängig zu machenden Beeinträchtigungen sind vorrangig zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, S. 318 und juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach der sich dem Gericht derzeit darbietenden Sach- und Rechtslage ist die angefochtene Abschiebungsanordnung rechtswidrig, so dass die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird und dass Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt.
Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34 a Abs. 1 AsylVfG. Danach ordnet das Bundesamt dann, wenn ein Ausländer – wie hier - in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 26 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG kann sich ein Ausländer, der aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, nicht auf Art. 16 Abs. 1 GG berufen. Er wird nicht als Asylberechtigter anerkannt (§ 26 a Abs. 1 S. 2 AsylVfG). Satz 1 dieser Regelung gilt gemäß § 26 a Abs. 1 S. 3 AsylVfG nicht, wenn 1. der Ausländer bei Einreise in den sicheren Drittstaat im Besitz eines Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland war, 2. die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von europa- oder völkerrechtlichen Vorschriften für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder 3. der Ausländer infolge einer Anordnung des Innenministeriums der Bundesrepublik Deutschland nicht zurückgewiesen oder -geschoben worden ist.
Die Anordnung der Abschiebung beruht vorliegend auf der Feststellung im Bescheid des Bundesamtes, dass dem Antragsteller gem. § 26 a AsylVfG kein Asylrecht zusteht, weil er über Bulgarien, das als Mitgliedstaat der Europäischen Union „sicherer Drittstatt“ i. S. des § 26 a AsylVfG ist, eingereist ist.
Eine Ausnahme gemäß § 26 a Abs. 1 S. 3 AsylVfG liegt nicht vor. Insbesondere ist die Bundesrepublik Deutschland nicht aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31) - Dublin III-VO -, zur Aufnahme verpflichtet. Diese Verordnung findet für Ausländer, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, nachdem ihnen in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union - hier in Bulgarien - die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 – Qualifikationsrichtlinie -) zuerkannt wurde, keine Anwendung (vgl. Art. 2 lit c und f Dublin III-VO).
Die Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien ist auch grundsätzlich durchführbar. Die zuständige oberste Grenzpolizeibehörde Bulgariens hat mit Schreiben vom 25. September 2014 mitgeteilt, dass der Antragsteller als Flüchtling anerkannt wurde und eine Rückführung akzeptiert werde.
Die Abschiebungsanordnung ist aber dennoch nach derzeitigem Erkenntnisstand voraussichtlich rechtswidrig, weil Bulgarien zurzeit nicht als sicherer Drittstaat i.S. von Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG, § 26 a AsylVfG anzusehen ist.
Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass der Regelung in Art. 16 a Abs. 2 GG das „Konzept der normativen Vergewisserung“ über die Sicherheit im Drittstaat zugrunde liegt (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93 u. 2315/93 -, BVerGE 94, S. 49 = NJW 1996, S. 1665 u. juris), das heißt die Vermutung, dass jeder Flüchtling in jedem Mitgliedstaat gemäß den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 83/389 vom 30. März 2010), des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559) sowie der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198) behandelt wird. Es gilt daher die Vermutung, dass Flüchtlingen in jedem Mitgliedstaat eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen der Charta - GR-Charta -, der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - zukommt. Dieses nationale Konzept steht im Einklang mit dem dem gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liegenden „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u. C-493/10 -, NVwZ 2012, S. 417 [EuGH 21.12.2011 - Rs. C-411/10; C-493/10] und juris; ders.: Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, S. 129 und juris). Die beiden Systemen innewohnende Vermutung ist jedoch dann als widerlegt zu betrachten, wenn den Mitgliedsstaaten „nicht unbekannt sein kann“, sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, also ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem zuständigen Mitgliedsstaat derart grundlegende, systemische Mängel anhaften, dass für dorthin überstellte Asylbewerber die Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, a.a.O.; ders.: Urteil vom 14. November 2013, a.a.O.). Hat der Ausländer bereits einen Schutzstatus erhalten, ist maßgebend, ob der Inhalt dieses Schutzstatus hinreichend eingehalten wird, insbesondere ob eine tatsächliche Gefahr besteht, dass der Ausländer im betreffenden Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 GR-Charta bzw. dem inhaltsgleichen Artikel 3 EMRK ausgesetzt sein wird. In einem solchen Fall greift die Regelung über die sicheren Drittstaaten nicht ein. Eine Abschiebungsanordnung auf ihrer Grundlage wäre dann nicht gerechtfertigt, weil die Bundesrepublik Deutschland in diesem Fall dem Ausländer Schutz zu gewähren hat (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, a.a.O.).
Den Ausländer trifft für seine Behauptung, dass er von einem Fall betroffen ist, der außerhalb der Grenze des Konzepts der normativen Vergewisserung liegt, eine erhöhte Darlegungslast (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 1996, a.a.O.). Allerdings müssen auch die Behörden und Gerichte wegen der Bedeutung der von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK geschützten Rechtsgüter die allgemeine und ihnen zugängliche Auskunftslage berücksichtigen (vgl. auch § 36 Abs. 4 S. 2 AsylvfG).
Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 4 GR-Charta ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta einschließlich der Erläuterungen hierzu (ABL. C 303/17 vom 14. Dezember 207) i. V.m. Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV vom 7. Februar 1992 (ABl. C 191, S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Vertrages von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (ABl. C 306, S. 1, ber. ABl. 2008 C 111 S. 56 u. ABl. 2009 C 290 S. 1) an Art. 3 EMRK auszurichten. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243) ist eine Behandlung dann unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
Der Schutzbereich des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kann auch bei unzureichenden Lebensbedingungen im betreffenden Mitgliedsstaat betroffen sein:
Das gilt aber nicht in dem Sinne, dass die Vertragsparteien verpflichtet sind, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, a.a.O.; ders.: Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 - Mohammed Hussein u.a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, S. 336 u. juris). Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK schützen aber davor, monatelang und ohne Perspektive in extremer Armut leben zu müssen und außerstande zu sein, für die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Hygieneartikel und Unterkunft aufzukommen. Die maßgeblichen Kriterien für relevante Menschenrechtsverstöße sind den den jeweiligen Mitgliedstaat bindenden rechtlichen Vorgaben zu entnehmen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 -, juris). Das sind zum einen die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96 – Aufnahmerichtlinie - [ARL]) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden für die Mitgliedsstaaten und zum anderen die in der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 – Qualifikationsrichtlinie [QRL] -) genannten Kriterien zur Bestimmung der Person, die tatsächlich Schutz benötigt, und zur Sicherstellung, dass diesen Personen in allen Mitgliedsstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. Nach der hier maßgeblich heranzuziehenden Qualifikationsrichtlinie müssen Statusinhabern insbesondere die notwendigen Hilfen zu teil werden, mit denen sie die Befriedigung ihrer elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsbeschaffung und Sicherstellung von Hygiene) in zumutbarer Weise erreichen können. Als Maßstab sind insbesondere Art. 26 QRL (Zugang zum Arbeitsmarkt), Art. 29 QRL (Erhalt von Sozialhilfe), Art. 30 QRL (Zugang zu medizinischer Versorgung) und Art. 32 QRL (Zugang zu Wohnraum) anzusehen. Die Richtlinien geben für alle Mitgliedstaaten verbindlich vor, was sie den Flüchtlingen zu leisten haben. Sie erweitern den zu berücksichtigenden Schutzbereich des Art. 3 EMRK. Zutreffend heißt es im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 10. November 2014: „Diese unionsrechtlichen normativen Vorgaben überlagern darüber hinaus gewissermaßen die allgemeinen – eher niedrigeren – völkervertraglichen Schutzstandards des Art. 3 EMRK und konkretisieren nach dem Verständnis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte diese näher mit der Folge, dass die konkreten Anforderungen an die immer kumulativ festzustellende Schwere der Schlechtbehandlung niedriger anzusetzen sind, aber gleichwohl die typischerweise für die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung geltenden Standards nicht völlig aus den Augen verlieren dürfen.“ (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014, a.a.O.).
Prognosemaßstab für das Vorliegen derart relevanter Mängel ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat müssen aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sein, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Schutzinhaber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss ihnen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014, a.a.O., OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7. März 2014, a.a.O.; OVG Sachsen Anhalt, Beschluss vom 14. November 2013 - 4 L 44/13 -, juris; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23/12 -, BVerwGE 146, S. 67 und juris; OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O., juris).
Gemessen an diesen Maßgaben spricht bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, dass die Abschiebungsanordnung bezüglich Bulgariens rechtswidrig ist, weil erhebliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in Bulgarien nach wie vor systemische Mängel im Umgang mit Inhabern eines Schutzstatus vorliegen.
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln lagen wegen des erheblichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen ab 2009 erhebliche Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Bulgarien bis Ende 2013 vor (Bericht des UNHCR vom 2. Januar 2014 „Bulgaria as a country of asylum - UNHCR observations on the current situation of asylum in Bulgaria“; amnesty international, Stellungnahme vom 6. Januar 2014 „Urgent action - Flüchtlinge weiter in Notlage – Bulgarien“; European Council on Refugees an Exiles - ECRE - ,Bericht vom 8. Januar 2014). Die Mängel betrafen den Zugang zum Asylverfahren, die Inhaftierung von Personen, die die Grenze unerlaubt übertreten hatten, die Unterbringung in überfüllten Aufnahmeeinrichtungen, die mangelnde Verpflegung und unzureichende medizinische Versorgung.
Der UNHCR hatte infolge der Analyse der Gesamtsituation für Asylbewerber und Inhaber eines Bleiberechts in dem genannten Bericht ausdrücklich die Empfehlung ausgesprochen, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen.
Bulgarien hat seit Anfang des Jahres 2014 mit massiver Unterstützung des UNHCR und anderer Organisationen eine Reihe von erheblichen Verbesserungen in vielen Bereichen für Asylbewerber erzielen können. Der UNHCR hält infolge von Verbesserungen im Asyl- und Aufnahmesystem im Bereich der Registrierung, der Verfahrensabwicklung und der Lebensbedingungen in einigen Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber und Statusinhaber seine Forderung eines allgemeinen Überstellungsstopps nicht mehr aufrecht. Im Bericht vom 15. April 2014 („Bulgaria as a country of asylum - UNHCR observations on the current situation of asylum in Bulgaria“) schildert er für die Situation von Inhabern eines Bleiberechtsstatus aber nach wie vor eine ganze Reihe von erheblichen Missständen und Lücken, in einigen Bereichen sogar eine Verschlechterung der Situation. Maßgeblich ist vorliegend auf die Situation der Antragsteller abzustellen, denen in Bulgarien – wie vorliegend – bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Für diese Personengruppe führt der UNHCR in dem genannten Bericht vom April 2014 unter Ziffer. 2.7 aus:
Es gebe derzeit kein laufendes Integrationsprogramm mehr; die Finanzierung des neu entworfenen Programms sei bisher nicht genehmigt.
Die bis zu zwei Monate dauernde Lücke im Zugang zur Gesundheitsversorgung bleibe bestehen, solange die Statusinhaber als unversichert registriert seien. Zusätzlich müssten sie monatlich (umgerechnet) 8,70 Euro für den Zugang zu den Angeboten der nationalen Krankenversicherung zahlen. Davon seien Medikamente und psychologische Versorgung nicht erfasst (vgl. zur prekären medizinischen Versorgung auch den Bericht des UNHCR vom April 2014, S. 8; aida, National Country Report Bulgaria vom 18. April 2014, S. 34; Bordermonitoring, Gefangen in Europas Morast: Die Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Bulgarien, 2014 S. 16; Ärzte ohne Grenzen vom 12. Juni 2014). Während dem bulgarischen Staatsangehörigen der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung nach für ihn obligatorischer Krankenversicherung zusteht, haben die Flüchtlinge mit bloß subsidiärem Schutzstatus diese Zugangsmöglichkeiten nicht. Das Problem der unzureichenden medizinischen Versorgung betrifft jedermann und nicht nur „ernsthaft und schwer Erkrankte“, für die eine Sonderregelung zu treffen ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014, a.a.O.). Nach Art. 30 QRL haben die Mitgliedstaaten für Flüchtlinge mit Schutzstatus dafür Sorge zu tragen, dass sie zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörige des diesen Schutz gewährenden Mitgliedstaats Zugang zu medizinischer Versorgung haben.
Im Bericht des UNHCR vom April 2014 heißt es weiter, dass Statusinhaber wegen der ungünstigen ökonomischen Situation und struktureller Probleme – wie der mangelnden Anerkennung von Qualifikationen, der fehlenden Hilfe, eine gesicherte Unterkunft zu finden, der fehlenden sprachlichen Hilfen – weiterhin Schwierigkeiten hätten, einen sicheren und dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Weiterhin erschwere der Mangel an adäquaten und erschwinglichen Wohnungsmöglichen die Integration der Statusinhaber. Diese blieben daher länger in den Aufnahmezentren ohne die Möglichkeit der gesellschaftlichen Integration. Die bulgarischen Behörden kommen damit der Anforderung nach Art. 32 QRL nicht nach, dafür zu sorgen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Zugang zu Wohnraum unter Bedingungen erhalten, die den Bedingungen gleichwertig sind, die für andere Drittstaatsangehörige gelten, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.
Auch die für eine erfolgreiche Integration erforderliche Bildung werde nach dem Bericht des UNHCR vom April 2014 nicht gewährleistet. Den gesetzlichen Regelungen in Bulgarien, die Personen mit internationalem Schutz unter den gleichen Bedingungen wie bulgarische Bürger Zugang zu Bildung zuzuerkennen, stünden in der Praxis erhebliche Zugangsschwierigkeiten entgegen. So gebe es nur Sprachkurse in einer Aufnahmeeinrichtung. Um zur Schule zugelassen zu werden, müssten Kinder einen Sprachkurs komplett absolvieren. In der Praxis gebe es nur in der Aufnahmeeinrichtung in Sofia diese Möglichkeit. Auch insoweit verstößt die bulgarische Praxis gegen die sich aus Art. 27 QRL ergebenden Rechte der Statusflüchtlinge auf Zugang zu Bildung.
Trotz der im Bericht angeführten Verbesserungen der Situation für Asylsuchende und für Flüchtlinge mit Schutzstatus durch die bulgarischen Behörden kann deshalb von einer generellen Wende der Flüchtlingspolitik nicht ausgegangen werden. In Ziffer 4 des Berichts vom April 2014 führt der UNHCR deshalb auch an, dass Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der bisher erreichten Verbesserungen im gesamten Migrationsbereich bestünden. Viele Initiativen beruhten auf einer ad hoc-Basis zur Krisenbewältigung und ohne die Sicherstellung der Übernahmen durch die bulgarischen Behörden bzw. SAR. Insbesondere bestünden Bedenken bezüglich einer soliden Strategie und eines nachhaltigen Programms zur Sicherstellung eines Existenzminimums, adäquater Unterbringung, sprachlicher Abschlüsse und eines effektiven Zuganges zu einer regelrechten Ausbildung für Kinder. Inhaber eines internationalen Schutzstatus hätten keinen effektiven Zugang zum Erwerb einer Eigenständigkeit. Für sie bestehe das Risiko von Obdachlosigkeit und Verarmung.
Dies bestätigen neue dem Gericht vorliegende Erkenntnisse, aus denen sich ergibt, dass sich die Situation in Bulgarien auch im weiteren Verlauf des Jahres 2014 nicht in die vom UNHCR erhoffte und angemahnte Richtung entwickelt hat und auch 2015 vorerst nicht in diese Richtung entwickeln wird:
Angesichts der krisenhaften sozio-ökonomischen Situation in Bulgarien (vgl. die statistischen Werte zum pro Kopf BIP, zur Arbeitslosigkeit und zur Inflationsrate für das Jahr 2014 bei: Das Statistikportal, http://de.statista.com; WKO, Wirtschaftskammer Österreich (Werte der EU-Kommission)) besteht für Flüchtlinge mit Schutzstatus weiterhin ein sehr hohes Risiko der Obdach- und Arbeitslosigkeit sowie der Verarmung. Dies beruht in erster Linie auf dem Fehlen eines zwar zum 25. Juni 2014 entworfenen und veröffentlichten Integrationsprogramms (vgl. bordermonitoring, a.a.O.), welches jedoch von der im Herbst 2014 ausgeschiedenen bulgarischen Regierung abgelehnt (bordermonitoring: Kurzmitteilung vom 1. August 2014) und von der neuen Regierung bisher nicht genehmigt bzw. umgesetzt wurde. Regierungsmitglieder der seit November 2014 im Amt befindlichen neuen bulgarischen Regierung haben zwar die Absicht geäußert, sich in der Flüchtlingsfrage an die EU-Vorgaben zu halten und die Migrationspolitik in Richtung Integration voranzutreiben (vgl. news/ORF.at vom 29. Dezember 2014; RTL.de vom 29. Dezember 2014; Radio Bulgaria http://bnr.bg vom 10. Januar 2015). Konkretere Beschlüsse, Hinweise zur Genehmigung und Finanzierung eines Integrationsprogramms oder gar Anzeichen für eine praktische Umsetzung eines solchen Programms sind aber nicht bekannt. Dass die bereitgestellten finanziellen Mittel für die Erweiterung des Grenzzauns an der bulgarisch-türkischen Grenze eingesetzt werden (vgl. Radio Bulgaria, a.a.O., DW vom 16.1.2015 „Flüchtlinge in Bulgarien nicht willkommen“) lässt eher den Schluss zu, dass die neue Regierung bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems eher auf die europarechtswidrige Verhinderung von Grenzübertritten setzt als auf Integration.
Die angeführten Menschenrechtsverletzungen betreffen nicht lediglich einen einzelnen Standard der Qualifikationsrichtlinie, sondern Mängel der medizinischen Versorgung und die eingeschränkten Zugänge zu Wohnraum, zur Beschäftigung und zur Bildung. Hiervon ist der Ausländer auch nicht nur vereinzelt und aufgrund unglücklicher Umstände oder wegen einer besonderen Sachverhaltskonstellation betroffen. Er ist vielmehr regelhaft und vorhersehbar als jemand, der zur Gruppe der Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz gehört, betroffen.
Angesichts der auch bulgarische Staatsangehörige treffenden schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und dem Wohnungsmarkt sowie der geringen Sozialhilfeleistungen ist weiter zu berücksichtigen, dass die geforderte Einhaltung der Standards in den Richtlinien zu einer Besserstellung der Flüchtlinge mit Schutzstatus gegenüber den eigenen Staatsangehörigen führen könnte. Der normativen Vergewisserung entspricht es, dass grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Eine Besserstellung von Flüchtlingen gegenüber den eigenen Staatsangehörigen ist aber grundsätzlich nicht gefordert. Auch ist nicht zu prüfen, ob der Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährten Grundrechte tatsächlich beachtet. Gleichwohl sind aber auch bei Berücksichtigung des typischerweise für die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung geltenden Standards die an ein menschenwürdiges Leben zu stellenden Mindestanforderungen, wie sie in der Qualifikationsrichtlinie genannt werden und die die Basis des Aufnahmesystems darstellen, zu beachten. Die Flüchtlinge müssen - wie ausgeführt - in der Lage sein, für ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, medizinische Versorgung, Hygiene und Unterkunft aufzukommen. Wegen des fehlenden Integrationsprogramms in Bulgarien gerät aber der Flüchtling in eine nahezu ausweglose Lage im Hinblick auf Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut verbunden mit fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten insbesondere für Kinder und Jugendliche. Die Betroffenen haben keine reelle Chance, sich ein Existenzminimum in Bulgarien zu schaffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.