Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 20.01.2015, Az.: 11 B 454/15

subjektives Recht; Überstellung; Überstellungsfrist; Umdeutung; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
20.01.2015
Aktenzeichen
11 B 454/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45199
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Regelungen über die Überstellungsfristen in der Dublin-II-VO begründen im Ansatz keine subjektiven Rechte der Asylbewerber. Ausnahmen gelten, wenn das Bundesamt zumindest konkludent und hilfsweise mit einer inhaltlichen Prüfung des Asylbegehrens begonnen hat (hier: Umdeutung in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG), sich das Verfahren nach allgemeinen Grundsätzen als überlang erweist oder der andere Mitgliedstaat inzwischen die Aufnahme des Betroffenen verweigert.

Eine Umdeutung des Bescheides nach §§ 27a, 34a AsylVfG in eine Entscheidung über einen Zweitantrag (§ 71a AsylVfG) ist nicht zulässig.

Tenor:

Den Antragstellern wird für das Abänderungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. bewilligt.

Die Beschlüsse vom 20. Januar 2014 (5 B 28/14), 31. Januar 2014 (5 B 258/14), 10. März 2014 (5 B 685/14) und 14. April 2014 (5 B 1343/15) werden geändert:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller (11 A 453/15) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Dezember 2013 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Abänderungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert für das Abänderungsverfahren wird auf 4 000,-- € festgesetzt.

Gründe

Das nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zulässige Begehren der Antragsteller auf Abänderung der aus dem Tenor ersichtlichen Beschlüsse ist begründet.

Das öffentliche Interesse an der wirksamen und effektiven Durchsetzung der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems muss nunmehr gegenüber dem Interesse der Antragsteller an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens zurücktreten, weil die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes vom 20. Dezember 2013 wahrscheinlich rechtswidrig geworden ist.

Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend noch nach der Verordnung (EU) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags (ABl. L 50/1 vom 25. Februar 2003) - Dublin II-VO -. Die Zuständigkeitskriterien der Verordnung Nr. 604/2013 - Dublin III-VO - finden nach Art. 49 Abs. 2 dieser Verordnung nur auf Asylanträge, die nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind, Anwendung.

Es ist hier davon auszugehen, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 Dublin II-VO abgelaufen ist, so dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages der Antragsteller auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist. Die Frist begann - wie auch die Antragsgegnerin nicht in Zweifel zieht (vgl. Schriftsatz vom 28. Mai 2014) - jedenfalls mit der Zustellung des ablehnenden Beschlusses im ersten einstweiligen Rechtsschutzverfahren (vom 20. Januar 2014 - 5 B 28/14 -), welches gem. § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG eine Überstellung hinderte, zu laufen, mithin am 22. Januar 2014. Die Frist hat sich auch nicht auf 18 Monate verlängert, weil die Antragsteller nicht untergetaucht sind. Die am 15. April 2014 vorgesehene Überstellung nach Frankreich konnte wegen einer Erkrankung der Antragstellerin zu 2) nicht durchgeführt werden (vgl. Vermerk vom 16. Januar 2015).

Der Ablauf der Überstellungsfrist begründet allerdings im Ansatz keine subjektiven Rechte der Asylbewerber (§§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sondern es handelt sich um objektives Recht (vgl. ebenso OVG Lüneburg, Beschluss vom 6. November 2014 - 13 LA 66/14 - juris, Rn. 13; VGH Mannheim, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 - InfAuslR 2014, 293, 294; Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 - NVwZ 2015, 92, Rn. 59; VGH Kassel, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A - InfAuslR 2014, 457; VG Oldenburg, Beschluss vom 19. November 2014 - 12 B 3716/14 -; Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014, Anm. 3). Denn die Verfahrens- und Fristenregelungen der Dublin II-VO sollen eine zügige Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates ermöglichen. Die Fristen nach Art. 16 ff.  Dublin II-VO dienen allein dem Zweck, zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten zeitnah Klarheit zu schaffen, welcher von ihnen für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10. Dezember 2013 (- C-394/12-, NVwZ 2014, S. 208,  Rn. 51 ff.), in dem zu klären war, in welchem Umfang die Bestimmungen in Kapitel III der Dublin II-VO tatsächlich Rechte der Asylbewerber begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen, ausgeführt, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem darauf aufbaue, dass in allen beteiligten Staaten weitgehend die gleichen Rechtsvorschriften gelten und die Mitgliedsstaaten daher darauf vertrauen könnten, dass diese und die Grundrechte nach der GFK und der EMRK eingehalten werden. Das Dublin-Verfahren sei erlassen worden, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stocke, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Status zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen. Die Bestimmungen der Dublin-Verordnung legten für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedsstaats organisatorische Vorschriften fest, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten regelten. Darin bestehe der Hauptzweck der Dublin II-VO Es solle eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats geschaffen werden, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Habe der  Mitgliedsstaat der Aufnahme des Asylbewerbers zugestimmt, könne dieser nur einwenden, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat geltend mache, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass er tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der GR-Charta ausgesetzt zu werden.

Die Fristenregelungen in der Dublin II-VO begründen jedoch u.a. dann auch Ansprüche des Asylbewerbers, wenn die Bundesrepublik Deutschland bereits mit der inhaltlichen Prüfung seines Asylbegehrens begonnen hat. Das Bundesamt handelt nämlich widersprüchlich (§ 292 BGB), wenn es den Betroffenen einerseits auf den anderen Mitgliedstaat verweist, aber andererseits das Asylbegehren bereits materiell-rechtlich bearbeitet (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 16. April 2014 a.a.O.). Hier hat die Antragsgegnerin, nach Ablauf der von ihr angenommenen Überstellungsfrist am 22. Juli 2014, mit Schriftsatz vom 19. August 2014 mitgeteilt, dass der Bescheid vom 20. Dezember 2013 jedenfalls als Entscheidung über einen Zweitantrag aufrechterhalten bleiben könne. Dies ist nach § 71a Abs. 1 AsylVfG nur möglich, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Darüber hinaus können subjektive Rechte des Asylbewerbers bestehen, wenn sogar der allgemeine grundrechtliche Anspruch auf ein zügiges Verfahren verletzt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs C-4/11 - InfAuslR 2014, 68, Rn. 35); ferner wird im Hinblick auf § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG nach Ablauf der maßgeblichen Frist in jedem Einzelfall zu prüfen sein, ob eine Überstellung tatsächlich noch möglich ist oder der andere Mitgliedstaat nunmehr eine Übernahme verweigert.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kann der Bescheid des Bundesamtes vom 20. Dezember 2013 nicht als Entscheidung über einen Zweitantrag gem. § 71a AsylVfG mit Abschiebungsandrohung nach Montenegro umgedeutet werden (vgl. ebenso VG Würzburg, Urteil vom 27. November 2014 - W 3 K 13.30553 - juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. November 2014 - RN 5 K 14.30304 - juris; VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 12. November 2014 - Au 7 K 14.50047 - juris). Die Umdeutung setzt nach § 47 Abs. 1 VwVfG nämlich u.a. voraus, dass der Verwaltungsakt weiterhin auf das gleiche Ziel gerichtet ist. Außerdem dürfen die Rechtsfolgen für den Betroffenen nicht ungünstiger sein (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwVfG).

Die Entscheidung im Dublin-Verfahren betrifft indes lediglich die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dagegen muss im Rahmen der Prüfung eines Zweitantrages gem. § 71a Abs. 1 AsylVfG festgestellt werden, ob seit der Beendigung des Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat Gründe für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eingetreten sind, mithin bedarf es einer Beurteilung des inhaltlichen Vortrags des Asylbewerbers. Darüber hinaus müssen gem. § 71a Abs. 2, 24 Abs. 2 AsylVfG auch die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geprüft werden. Eine inhaltliche Ablehnung des Asylbegehrens ist zudem für den Antragsteller ungünstiger als der bloße Verweis auf das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat. Eine andere Zielrichtung hat offensichtlich zudem die Änderung der Abschiebungsanordnung in den Mitgliedstaat in eine Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat (§§ 71a Abs. 4, 34 AsylVfG; vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 19 C 7.13 - InfAuslR 2014, 400, Rn. 35).