Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 12.08.2003, Az.: 4 A 2051/02

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
12.08.2003
Aktenzeichen
4 A 2051/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 40810
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2003:0812.4A2051.02.0A

Amtlicher Leitsatz

Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der im Bundesgebiet geboren worden ist und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, aus spezial- und generalpräventiven Gründen unter Berücksichtigung völkerrechtlicher und europarechtlicher Regelungen.

Tenor:

  1. ...

Tatbestand:

1

Aus dem Entscheidungstext:

2

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung des Beklagten.

3

Der Kläger wurde am 7. September 1976 in Hamburg als Sohn türkischer Eltern geboren. Seine Mutter, die zuletzt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten in der Gemeinde D. gelebt hatte, ist Ende 2002 verstorben. Zu seinem leiblichen Vater und dessen Kindern, seinen Halbgeschwistern, besteht kein Kontakt. Der Kläger verließ die Hauptschule nach der 9. Klasse ohne Abschluss. Er hat keinen Beruf erlernt und ist nach der Schulentlassung auch keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgegangen. Seit dem 9. Oktober 1992 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

4

Strafrechtlich ist der Kläger wie folgt in Erscheinung getreten:

5

1. Ein Verfahren wegen des Vorwurfs des fortgesetzten Diebstahls wurde am 1. April 1992 durch die Staatsanwaltschaft Hamburg nach § 45 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) eingestellt.

6

2. Von der Verfolgung eines weiteren dem Kläger vorgeworfenen Diebstahls sah die Staatsanwaltschaft Hamburg am 21. April 1992 ebenfalls gemäß § 45 Abs. 1 JGG ab.

7

3. Durch Urteil des Amtsgerichts Schwarzenbek vom 16. April 1993 wurde er wegen Diebstahls verwarnt und ihm wurde eine Arbeitsauflage erteilt.

8

4. Ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurf des Diebstahls wurde am 19. Mai 1993 durch die Staatsanwaltschaft Lübeck gemäß § 45 Abs. 1 JGG eingestellt.

9

5. Das Amtsgericht Trittau verwarnte den Kläger durch Urteil vom 12. August 1994 und erteilte ihm die Weisung, sich für ein halbes Jahr der Betreuung durch die Jugendgerichtshilfe zu unterstellen.

10

6. Am 23. Februar 1995 verurteilte ihn das Amtsgericht Schwarzenbek in vier Fällen wegen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall und in drei Fällen wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls in einem besonders schweren Fall. Er wurde wiederum verwarnt und ihm wurde erneut die Auflage erteilt, sich ab März 1995 für sechs Monate der Betreuung durch die Jugendgerichtshilfe zu unterstellen.

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7. Am 8. Juni 1995 verurteilte ihn das Amtsgericht Schwarzenbek wegen gemeinschaftlichen Raubes unter Einbeziehung des Urteils vom 23. Februar 1995 zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde.

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8. Am 17. April 1996 erfolgte durch das Amtsgericht Hamburg eine Verurteilung des Klägers wegen Diebstahls in vier besonders schweren Fällen, davon in zwei Fällen gemeinschaftlich handelnd und in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, sowie wegen Diebstahls unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil zu Ziffer 7. zu einer zehnmonatigen Jugendstrafe, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt und am 12. März 1997 widerrufen wurde (vgl. unter Ziffer 9.).

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9. Durch Urteil des Amtsgerichtes Hamburg vom 7. August 1997 erhielt der Kläger unter Einbeziehung der Strafen aus den Entscheidungen vom 8. Juni 1995 und vom 17. April 1996 wegen schweren Raubes, schwerer räuberischer Erpressung, räuberischer Erpressung und Diebstahls in vier Fällen eine Jugendstrafe von einem Jahr und elf Monaten, wobei die Entscheidung über die Aussetzung dieser Jugendstrafe zur Bewährung für die Dauer von sechs Monaten vorbehalten wurde.

14

Wegen dieser Strafsache befand sich der Kläger zunächst aufgrund eines Haftbefehles vom 23. Oktober 1996 bis zum 21. Januar 1997 in Untersuchungshaft. An diesem Tag wurde der Vollzug des Haftbefehles mit der Weisung, Wohnung bei seiner Mutter zu nehmen, ausgesetzt. Dieser Weisung kam er allerdings nicht nach, so dass der Verschonungsbeschluss im Februar 1997 aufgehoben und der Haftbefehl erneut vollstreckt wurde. Aufgrund des Widerrufes der Bewährung aus dem Urteil vom 17. April 1996 (vgl. oben Ziffer 8.) befand sich der Kläger bis zum 14. August 1997 zur teilweisen Verbüßung der Jugendstrafe in der geschlossene Abteilung der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand.

15

10. Am 15. Oktober 1998 verurteilte ihn das Amtsgericht Rotenburg wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu vier Monaten Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zunächst für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt und am 27. Juni 2000 widerrufen wurde.

16

11. Durch Urteil vom 15. Februar 2000 erhielt der Kläger durch das Landgericht Hamburg wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in sechs Fällen sowie wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung in fünf Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren. Die dieser Verurteilung zugrunde liegenden Taten hatte er in der Zeit vom 17. Mai 1999 bis zum 16. Oktober 1999 begangen.

17

Wegen dieser Strafsache wurde der Kläger, nachdem er sich freiwillig gestellt hatte, am 18. Oktober 1999 in Untersuchungshaft genommen und befindet sich seit dem 23. Februar 2000 zur Verbüßung der Rest-Jugendstrafe aus dem Urteil vom 7. August 1997 (vgl. oben Ziffer 9.) und der Strafen aus den Urteilen vom 15. Oktober 1998 (vgl. oben Ziffer 10.) und vom 15. Februar 2000 in Strafhaft, und zwar zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen. Eine vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft wird frühestens im Januar 2005 möglich sein. Das reguläre Strafende ist der 3. März 2007.

18

Nachdem der Beklagte den Kläger bereits durch Schreiben vom 1. Juli 1998 auf die möglichen ausländerrechtlichen Konsequenzen seines strafbaren Verhaltens aufmerksam gemacht hatte, wies er den Kläger nach erfolgter Anhörung durch Verfügung vom 17. Oktober 2000 auf unbestimmte Zeit aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Gleichzeitig wurde die Abschiebung des Klägers in die Türkei aus der Strafhaft abgeordnet und für den Fall, dass dies nicht möglich sein sollte, ihm die Abschiebung in sein Heimatland angedroht, falls er nicht innerhalb von einer Woche nach der Haftentlassung freiwillig ausreise. Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus: Der Kläger werde aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, weil er wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt worden sei. Da er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitze und im Bundesgebiet geboren sei, genieße er zwar einen erhöhten Ausweisungsschutz, es lägen aber - auch wenn bei der Entscheidung sowohl die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes als auch die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig hier aufhielten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebten, sowie die in § 55 Abs. 2 Ausländergesetz (AuslG) genannten Duldungsgründe berücksichtigt würden - keine Gründe vor, von der in seinem Fall gesetzlich vorgeschriebenen Regelausweisung ausnahmsweise abzusehen. Hinsichtlich der begangenen Straftaten habe sich der Kläger in keiner Ausnahmesituation befunden, sondern er sei über Jahre hinweg durch Straftaten aufgefallen und auch die Ermahnungen, Verwarnungen und Verurteilungen hätten ihn nicht dazu bewegen können, auf Straftaten zu verzichten. Darüber hinaus stünden aber auch weder seine persönlichen Verhältnisse noch seine familiäre Situation der Ausweisung entgegen. Bisher habe der Kläger seinen Lebensunterhalt kaum einmal aus eigener Erwerbstätigkeit gesichert. Alle Versuche, einen Schulabschluss bzw. eine Ausbildung zu absolvieren, seien gescheitert. Es müsse ihm daher vorgehalten werden, dass er sich - absehen von den permanenten Verstößen gegen die Rechtsordnung - hinsichtlich der Schaffung einer wirtschaftlichen Existenz nicht in die hiesigen Verhältnisse integriert habe. Die Ausweisung sei auch nicht unverhältnismäßig, weil der Kläger den Anlass hierfür selbst gesetzt habe und es ihm angesichts der Menge und Schwere seiner Straftaten zuzumuten sei, seine im Bundesgebiet aufgebauten sozialen Bindungen aufzugeben. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen den Schutz von Ehe und Familie. Zu seinem Vater und seinen Halbgeschwistern unterhalte der Kläger keinen Kontakt. Für den Fall, dass die Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter nicht in der Türkei fortgesetzt werden könne, müsse er eine Trennung in Kauf nehmen und die Beziehungen durch briefliche, telefonische und Besuchskontakte aufrechtzuerhalten. Der Kläger sei keinem Familienmitglied unterhaltspflichtig und habe keine Kinder. Schließlich lägen auch Gründe, seinen Aufenthalt gemäß § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden, offensichtlich nicht vor.

19

Gegen die Ausweisungsverfügung des Beklagten legte der Kläger am15. November 2001 Widerspruch ein und begründete diesen im Wesentlichen wie folgt: Bei der Frage, ob er zukünftig wegen der von ihm begangenen Straftaten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, sei zu berücksichtigen, dass er seit längerem innerhalb des Vollzuges resozialisiert werde und auch selbst dazu beitragen wolle, sein Leben in Zukunft in den Griff zu bekommen. In der Vergangenheit habe er deutliche psychosoziale Defizite auszuweisen gehabt, die immer wieder in strafbarem Verhalten gemündet hätten. Hintergrund sei seine Veranlagung bzw. Neigung zu spielen. Diese Problematik habe er erkannt und arbeite in der Strafanstalt in einer Gesprächsgruppe mit. Darüber hinaus wolle er die Zeit nutzen, um eine Ausbildung bzw. seinen Schulabschluss zu machen. Es komme hinzu, dass er trotz der Inhaftierung festen und regelmäßigen Kontakt zu seiner Mutter und seinem Stiefvater habe. Hinzuweisen sei auch noch darauf, dass er sich freiwillig der Polizei gestellt und sein Verhalten vor sowie während der Verhandlung gezeigt habe, dass er in vollem Umfang zu seinem Fehlverhalten stehe. Im Übrigen sei zu würdigen, dass die Türkei für ihn ein völlig fremdes Land sei. Er habe seinen Lebensmittelpunkt seit seiner Geburt im Bundesgebiet gehabt, ihm sei die türkische Sprache nicht vertraut und er habe dort keinerlei soziale und familiäre Bindungen. Schließlich sei er der Auffassung, dass es sich im Hinblick auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsvertrag EWG/Türkei verbiete, bei einem im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen die Regeln der §§ 47, 48 AuslG anzuwenden.

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Den Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Lüneburg durch Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2001 zurück, in dem es zur Begründung unter anderem hieß: Zwar genieße der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG, doch bedeute dies nicht, dass generell auf die Ausweisung zu verzichten sei. Vielmehr bestimme diese Vorschrift, dass eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgen könne. Die von dem Kläger begangenen Straftaten (gemeinschaftlicher schwerer Raub, gemeinschaftliche räuberische Erpressung) stellten einen solchen schwerwiegenden Grund dar. Darüber hinaus werde bei einem Ausländer, der einen erhöhten Ausweisungsschutz genieße, die strenge Regelung des § 47 Abs. 1 AuslG, die eine Ausweisung zwingend vorschreibe, gemildert, indem gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG die Ausweisung in der Regel erfolge, also Ausnahmen zugelassen würden. Ein Regelfall der Ausweisung liege vor, wenn nicht außergewöhnliche Umstände gegeben seien, die es geböten, den staatlichen Anspruch auf Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet hinter den persönlichen Interessen des Ausländers zurücktreten zu lassen. Die Regelausweisung dürfe nur unterblieben, wenn ein Sachverhalt so erheblich von der gesetzlich vorausgesetzten Normalsituation abweiche, dass eine Ausweisung ungerecht und insbesondere unverhältnismäßig erscheine. Eine derartige Ausnahme könne mit Rücksicht auf besondere Umstände der Tat oder besondere persönliche Verhältnisse des Ausländers angenommen werden. Besondere Umstände bezüglich der Tat, die den Kläger in ausländerrechtlicher Hinsicht entlasten könnten, seien nicht ersichtlich. Eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation habe nicht vorgelegen. Das Landgericht Hamburg habe in seinem Urteil vielmehr festgestellt, dass bei ihm keine Spielsucht gegeben gewesen sei, sondern er die Taten einzig und allein begangen habe, um seine finanzielle Lage zu verbessern und Schulden zu begleichen. Obwohl der Kläger bereits seit seiner Geburt in der Bundesrepublik Deutschland lebe, sei eine wirtschaftliche Integration in die hiesigen Verhältnisse nicht erfolgt. Einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung habe er nicht absolviert. Ein Verlassen des Bundesgebietes werde daher nicht den Verlust einer beruflichen Existenz bedeuten. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen Art. 6 Grundgesetz (GG). Zwar bewirke sie einen tiefen Einschnitt in die jetzigen Lebensverhältnisse des Klägers und eine mögliche Trennung von seiner Familie. Andererseits habe er im Wissen um das Unrecht seines Handelns in gravierender Weise gegen die Belange der Bundesrepublik Deutschland verstoßen. Der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie gebiete es nicht schlechthin, jegliche Belastung von der Familie fernzuhalten. Es sei dem Kläger daher zuzumuten, sich von seiner Familie zu trennen, zumal dies bei einem Volljährigen auch nicht ungewöhnlich sei. Volljährige benötigten in der Regel die familiäre Lebensgemeinschaft nicht mehr, auch wenn sie oft aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen noch mit ihren Eltern zusammen wohnten. Gegen den Kläger spreche ferner die besondere Schwere der Straftaten, die durch die verhängte Höhe der Haftstrafe zum Ausdruck kommen. Zudem sei er auch bereits vor dieser Verurteilung strafrechtlich in Erscheinung getreten. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass er bereit sei, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beachten und sich hier einzufügen. Der Kläger sei vor seiner letzten Verurteilung durch den Beklagten sogar darauf hingewiesen worden, dass er bei weiteren Verfehlungen mit ausländerrechtlichen Konsequenzen rechnen müsse. Auch in den vorangegangenen Verurteilungen sei zum Ausdruck gekommen, dass alle bisherigen Einwirkungsversuche ohne Erfolg geblieben seien. All dies habe ihn nicht davon abgehalten, weitere Straftaten zu begehen. Die Einschätzung, dass der Kläger selbst dazu beitragen wolle, sein Leben zukünftig in den Griff zu bekommen, werde nicht geteilt. Vielmehr sei konkret damit zu rechnen, dass er auch nach Verbüßung der Haftstrafe weiterhin Straftaten begehen werde. Sein bisheriger Werdegang lasse keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass er sein Verhalten zukünftig ändern werde. Die aus der Liste der Vorstrafen ersichtlich gesteigerte kriminelle Energie lasse eine weitere Intensität der Straftaten befürchten. Die Ausweisung sei daher aus spezialpräventiven Gründen erforderlich und bezwecke im Übrigen auch die Abschreckung anderer Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten im Sinne der Generalprävention. Schließlich stünden auch keine europarechtlichen Vorschriften der Ausweisung entgegen. Der Kläger könne sich insbesondere nicht auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu dem Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation berufen. Das Verschlechterungsverbot des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls gelte für die Niederlassungsfreiheit, also die selbständige Erwerbstätigkeit, und den freien Dienstleistungsverkehr. Die Anwendung der seit 1990 verschärften Ausweisungsvorschriften des § 47 AuslG sei daher nur bei türkischen Staatsangehörigen ausgeschlossen, die selbständig erwerbstätig seien, Dienstleistungen erbrächten oder Dienstleistungsempfänger seien. Dies treffe auf den Kläger nicht zu.

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Der Kläger hat am 10. März 2001 Klage erhoben und macht ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen im Wesentlichen geltend:

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Er habe während des Vollzugs seiner mehrjährigen Freiheitsstrafe nunmehr erfolgreich den Hauptschulabschluss gemacht und sei in dieser Zeit innerhalb der jeweiligen Anstalten durchgehend erwerbstätig gewesen. Aufgrund der ergangenen Ausweisungsverfügung sei es ihm aber nicht möglich gewesen, eine Berufsausbildung zu beginnen. Derzeit werde von der Justizvollzugsanstalt erwogen, ihm Vollzugslockerungen zu gewähren.

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Es widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sämtliche Gefährdungspotentiale auf die in der Vergangenheit begangenen Straftaten bzw. erfolgten Verurteilungen zu beziehen, zumal seit seinen Taten ein längerer Zeitraum verstrichen sei. Vielmehr seien auch die Veränderungen eines Menschen im Rahmen des Vollzuges, insbesondere nach einer Verurteilung und unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung zu beachten. Hinzu komme, dass er geständig gewesen sei und sich selbst dem Verfahren gestellt habe. Damit habe er ein hohes Maß an Einsicht gezeigt und Verantwortungsbereitschaft übernommen, was auch in die Zukunft ausstrahle.

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Schließlich handele es sich bei ihm um einen sogenannten De-facto-Inländer. Er sei nur deshalb "Ausländer", weil er einen türkischen Pass und die entsprechende Staatsangehörigkeit habe. Das Land selbst kenne er nicht. Er spreche nicht die Landessprache und habe keinerlei Bezug zur Türkei. Ein Leben in einem Staat, von dem er nur seine Staatsangehörigkeit ableite, verletze ihn in seinen Rechten aus Art. 1 und 2 GG und habe zusätzlichen Sanktionscharakter. Im Übrigen verstoße die Ausweisungsverfügung aber auch gegen Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), weil ein familiäres Zusammenleben mit seinem hier lebenden Vater faktisch unmöglich gemacht werde.

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Der Kläger beantragt,

die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 17. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 19. Februar 2001 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Er nimmt zur Begründung Bezug auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakten A und K) und der Bezirksregierung Lüneburg (Beiakte B) Bezug genommen. Ferner sind die Strafakten nebst Vollstreckungs- und Gnadenakte der Staatsanwaltschaft Hamburg zum Aktenzeichen 3101 Js 537/99 611 Kls 28/99 (Beiakten C bis J) Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Gründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.

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Die Ausweisung und die Abschiebungsanordnung/Abschiebungsandrohung in der Verfügung des Beklagten vom 17. Oktober 2000 und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 19. Februar 2001 erweisen sich als rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).

31

Maßgebend für die Entscheidung der Kammer ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23. 5. 2001 - 1 B 125.00 -, InfAuslR 2001, 312; Urt. v. 29. 9. 1998 - 1 C 8.96 -, InfAuslR 1999, 54). Dies hat zur Folge, dass nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides, also nach dem 19. Februar 2001, eingetretene Umstände außer Betracht zu bleiben haben und gegebenenfalls als Gründe für eine - nach vorheriger Ausreise des Ausländers - zu beantragende nachträgliche Befristung der Wirkung der Ausweisung (vgl. § 8 Abs. 2 AuslG) vorgetragen werden müssen.

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1. Die Ausweisung des Klägers ist nach innerstaatlichem Ausländerrecht nicht zu beanstanden, weil in seinem Fall die Voraussetzungen der §§ 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AuslG für eine Regelausweisung erfüllt sind.

33

Soweit der Kläger unter Hinweis auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 (im Folgenden: Zusatzprotokoll) zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation vom 12. September 1963 (im Folgenden: Assoziationsabkommen) bereits die Anwendbarkeit der §§ 47, 48 AuslG auf ihn als türkischem Staatsangehörigen in Frage stellt, greift dieser Einwand nicht durch. Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll bezieht sich nach seinem eindeutigen Wortlauf mit der Anknüpfung an die Art. 13 und 14 Assoziationsabkommen ausschließlich auf die Niederlassungsfreiheit, das heißt, auf das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, zur Gründung und Leitung von Unternehmen und zur Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet der jeweiligen Vertragsstaaten, und den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne des Art. 12 Assoziationsabkommen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 23. 1. 2002 - 11 MA 4254/01 - m. w. N., AuAS 2002, 51, 128; BVerwG, Urt. v. 26. 2. 2002 - 1 C 21.00 -, BVerwGE 116, 55 = InfAuslR 2002, 338). Da der Kläger in der Vergangenheit im Bundesgebiet - wenn überhaupt - lediglich einer Beschäftigung als Arbeitnehmer nachgegangen ist, sich also zu keiner Zeit als Selbständiger oder im Dienstleistungsbereich betätigt hat, und auch nicht, insbesondere unter Zuverlässigkeitsgesichtspunkten wegen seiner vielfältigen Vorstrafen zu erwarten ist, dass er sich nach der Entlassung aus der Strafhaft im Bundesgebiet als Selbständiger niederlassen oder als Dienstleister betätigen könnte, liegen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll nicht vor. Auf die Frage der Reichweite des Verschlechterungsverbots ("Stillhalteklausel") in dieser Vorschrift (vgl. dazu im einzelnen: BVerwG, Urt. v. 26. 2. 2002, a. a. O.) kommt es daher für den vorliegenden Fall nicht mehr an.

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Der Kläger ist von dem Landgericht Hamburg durch Urteil vom 15. Februar 2000, das am 22. Februar 2000 Rechtskraft erlangt hat, wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in sechs Fällen sowie wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden und hat damit den Tatbestand einer zwingenden Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (rechtskräftige Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren) erfüllt. Wegen der ihm im Oktober 1992 erteilten unbefristeten Aufenthaltsbefugnis und wegen seiner Geburt im Bundesgebiet war in seinem Fall aber der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG zu berücksichtigen, das heißt, seine Ausweisung durfte nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angeordnet werden (a). Zudem musste wegen dieses erhöhten Ausweisungsschutzes beachtet werden, dass durch § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG die gegebene Ist-Ausweisung zu einer Regelausweisung herabgestuft wird und damit zu prüfen war, ob der Kläger dieser Regelausweisung unterfiel oder ob ein Ausnahmefall vorlag, der ein Ausweisungsermessen eröffnete (b). Diesen gesetzlichen Vorgaben werden die angefochtenen Bescheide in vollem Umfang gerecht. Dazu im Einzelnen:

35

a) Zutreffend haben sowohl der Beklagte als auch die Widerspruchsbehörde schwerwiegende Gründe im Sinne des § 48 Abs. 1 AuslG für gegeben erachtet.

36

Derartige Gründe liegen vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem von dem Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers vor der Ausweisung ein deutliches Übergewicht hat. Dabei stellt § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG, der im Jahre 1997 eingefügt worden ist, klar, dass auch die den besonderen Ausweisungsschutz genießenden Ausländer bei Vorliegen eines Ist-Ausweisungsgrundes nach § 47 Abs. 1 AuslG in der Regel diesen Schutz verlieren und mit einer Ausweisung zu rechnen haben. Die Formulierung "in der Regel" bezieht sich auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden. Den Gegensatz bilden die Ausnahmefälle, die durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er das sonst ausschlaggebende Gewicht der Regel beseitigt, wobei die Prüfung, ob eine Ausnahmefall vorliegt, der vollen Nachprüfung durch die Gerichte unterliegt. Die Abgrenzung zwischen Regel- und Ausnahmefall knüpft an die für die gesetzliche Regel maßgeblichen Gründe an. Daher ist hier für das nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich den Vorrang einzuräumende öffentliche Interesse an einer Ausweisung das besondere Gewicht der in § 47 Abs. 1 AuslG genannten Straftaten ausschlaggebend. Diese Vorschrift betrifft Fälle schwerer und besonders schwerer Kriminalität, für die regelmäßig ein generalpräventives Bedürfnis bejaht wird, über die strafrechtliche Sanktion hinaus andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Straftaten abzuhalten. Darüber hinaus weist die Begehung der in § 47 Abs. 1 AuslG aufgezählten Straftaten im Allgemeinen auf eine erhebliche kriminelle Energie hin, aufgrund derer die erneute Begehung vergleichbarer Straftaten in Betracht zu ziehen ist, zumal die Anforderungen an das Maß der Wiederholungswahrscheinlichkeit mit zunehmender Schwere der zu erwartenden Straftaten geringer werden und daher nach schweren strafrechtlichen Verfehlungen im Regelfall eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für erneute erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung besteht. Liegen danach § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG im Rahmen des nationalen Rechts sowohl spezial- als auch generalpräventive Überlegungen zugrunde, tritt die Regelrechtsfolge nur dann nicht ein, wenn für beide Ausweisungszwecke ein Ausnahmefall vorliegt. Bezüglich der Spezialprävention sind dabei besondere Umstände erforderlich, aufgrund derer entweder die der Ausweisung zugrunde liegende Straftat als weniger gewichtig anzusehen ist oder keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gefahr erneuter Verfehlungen des Ausländers gegeben sind. Hinsichtlich der Generalprävention liegt ein Ausnahmefall vor, wenn besondere Umstände ausnahmsweise dazu führen, den Gedanken der Generalprävention als nicht zutreffend anzusehen (vgl. zum Vorstehenden: Nds. OVG, Beschl. v. 6. 2. 2001 - 11 MA 415/01 - m. w. N.).

37

Gemessen an diesen Grundsätzen greifen die dem § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG zugrunde liegenden generalpräventiven Erwägungen auch in dem Fall des Klägers, das heißt, es gibt insoweit hier keine Anhaltspunkte für die Annahme eines Ausnahmefalles. Bei schweren Eigentums- und Gewaltdelikten (hier: schwere Raub und schwere räuberische Erpressung) besteht schon wegen der von derartigen Delikten ausgehenden Gefährdung der geschützten Rechtsgüter ein dringendes sicherheitspolitisches Bedürfnis dafür, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch die Ausweisung des Betroffenen andere Ausländer von derartigen Straftaten abzuhalten.

38

Darüber hinaus ist aber auch unter spezialpräventiven Gesichtspunkten keine Ausnahme von der Regel des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG zu machen. Die zu der Verurteilung vom 15. Februar 2000 und damit auch zu der hier zu beurteilenden Ausweisung führenden Straftaten des Klägers (gemeinschaftlicher schwerer Raub in sechs Fällen, gemeinschaftliche schwere räuberische Erpressung in fünf Fällen, resultierend aus Überfällen auf Tankstellen, Videotheken und Spielhallen) sind weder als weniger gewichtig einzustufen, noch lässt sich in Falle des Klägers eine Wiederholungsgefahr hinreichend sicher ausschließen. Ausgangspunkt ist dabei, dass der Kläger seit April 1992, als er etwa 15 ? Jahre alt war, bis zu seiner letzten Festnahme am 18. Oktober 1999 im Alter von 23 Jahren in erheblicher Weise strafrechtlich in Erscheinung getreten ist (vgl. wegen der Einzelheiten Ziffern 1. bis 11. im Tatbestand) und dass die in ca. 7 ? Jahren begangenen Straftaten sich durch eine sich ständig steigernde kriminelle Energie auszeichnen. Waren es zu Beginn seiner "kriminellen" Laufbahn nur "einfache" Diebstähle, folgten ab 1993 Einbruchsdiebstähle und Raub und schließlich ab 1996 schwerer Raub und schwere räuberische Erpressung sowie Verkehrstraftaten (Fahren ohne Fahrerlaubnis). Hinzu kommt, dass weder die vielfältigen (jugend-) strafrechtlichen Ahndungen (zunächst Verwarnungen und Weisungen, später Jugend- und Freiheitsstrafen auf Bewährung) noch die Teilverbüßung einer Jugendstrafe den Kläger von der Begehung weiterer Straftaten, die dann schließlich zu der Verurteilung vom 15. Februar 2000 führten, abzuhalten vermochten, was seine Gefährlichkeit verdeutlicht und die Gefahr für neue Verfehlungen nicht lediglich als entfernte Möglichkeit erscheinen lässt. Trotz der wiederholten strafrechtlichen Sanktionen und noch laufender Bewährungsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichtes Hamburg vom 7. August 1997 und des Amtsgerichtes Rotenburg vom 15. Oktober 1998 hat dies den Kläger - ebenso wenig wie der Hinweis des Beklagten vom Juli 1998 auf die ausländerrechtlichen Folgen weiterer Straftaten - offensichtlich überhaupt nicht beeindruckt und ihn auch nicht ansatzweise dazu bewegen können, seine Einstellung gegenüber der Rechtsordnung und den Belangen seiner Mitbürger zu ändern. Ferner bieten auch die persönlichen, wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse des Klägers ebenso wenig wie sein Verhalten im Zusammenhang mit bzw. seit seiner Festnahme im Oktober 1999 keine ausreichenden Anhaltspunkte, um eine Wiederholungsgefahr ausschließen zu können. Bei dem Kläger, der in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides weder einen Schulabschluss erworben noch eine Berufsausbildung durchlaufen hatte und in der Vergangenheit auch keiner geregelten Erwerbstätigkeit über einen längeren Zeitraum nachgegangen war, ist im Hinblick auf seine gänzlich fehlende Integration in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ernsthaft zu befürchten, dass er auch zukünftig seinen Lebensunterhalt durch die Begehung von Straftaten sicherzustellen versucht. Darüber hinaus sind auch seine familiären Bindungen zu seiner Mutter und seinem Stiefvater offenbar nicht in der Lage gewesen, auf ihn stabilisierend zu wirken, insbesondere haben sie nicht verhindern können, dass er straffällig wurde, so dass auch nicht angenommen werden kann, dass seine familiären Bezüge ihn zukünftig tatsächlich von erneuten Straftaten abhalten werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass soziales Wohlverhalten und einwandfreie Führung - zunächst unter dem Eindruck des Strafverfahrens und der Untersuchungshaft, dann unter dem Eindruck der Strafvollstreckung und der drohenden Ausweisung - für sich genommen keinen Ausnahmefall zu begründen vermögen, weil nicht sicher festzustellen ist, ob und inwieweit dieses Wohlverhalten auf einer wirklichen Läuterung der Persönlichkeit beruht. Aus Sicht der vorbeugenden Gefahrenabwehr genügt es daher in diesem Zusammenhang auch nicht, wenn der Kläger versichert, er habe sein Fehlverhalten eingesehen und wolle selbst dazu beitragen, sein Leben in Zukunft in den Griff zu bekommen. Angesichts seines Lebenslaufes ist dadurch die ernsthafte Befürchtung, er werde bei gegebenem Anlass wieder rückfällig werden, nicht zu zerstreuen, zumal er auch schon früher vorgegeben hatte, "nachhaltig und ernsthaft entschlossen" zu sein, "die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben und insbesondere für seine berufliche Existenz zu schaffen" (vgl. z. B. Entscheidungsgründe aus dem Urt. d. AG Hamburg v. 7. 8. 1997), ohne dem aber Taten folgen zu lassen.

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b) Aufgrund des dem Kläger gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes ist die Ist-Ausweisung des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zwar zur Regelausweisung herabgestuft (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG), es liegen aber auch insoweit keine besonderen Umstände vor, die ausnahmsweise ein Absehen von dieser Regelrechtsfolge rechtfertigen können.

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Dass der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde und hier aufgewachsen ist, begründet schon deshalb keinen atypischen Sachverhalt im Sinne des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG, weil diese Umstände bereits durch die Herabstufung der Ist-Ausweisung zu einer Regelausweisung Berücksichtigung gefunden haben. Der Kläger weist - wie bereits festgestellt - auch keine gefestigte Integration in die hiesigen Verhältnisse auf, so dass auch keinerlei wirtschaftliche oder sonstige Bindungen gegeben sind, die einen Ausnahmefall rechtfertigten könnten. Schließlich war er bei Erlass des Widerspruchsbescheides bereits 24 Jahre alt, so dass auch nicht davon auszugehen ist, dass er auf ein weiteres Zusammenleben mit seiner Mutter und seinem Stiefvater im Bundesgebiet angewiesen war, mithin auch keine familiären Bindungen bestanden, die im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG die Ausweisung des Klägers als Verstoß gegen das Verfassungsrecht erscheinen lassen. Insoweit wird ergänzend auf die zutreffenden Feststellungen in den angefochtenen Bescheiden Bezug genommen.

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2. Der Ausweisung des Klägers stehen auch keine völkerrechtlichen (a) oder europarechtlichen (b) Vorschriften entgegen.

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a) Gemäß Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) vom 13. Dezember 1955 ist eine Ausweisung der durch dieses Abkommen geschützten Personen unter anderem zulässig, wenn sie gegen die öffentliche Ordnung verstoßen und die Ausweisungsgründe besonders schwerwiegend sind. Da durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des Nds. Oberverwaltungsgerichtes (vgl. u. a. BVerwG, Urt. v. 29. 9. 1998 - 1 C 8.96 -, NVwZ 1999, 303 = InfAuslR 1999, 54; Nds. OVG, Beschl. v. 6. 2. 2001, a. a. O.), der die Kammer folgt, geklärt ist, dass zwischen den "schwerwiegenden Gründen" im Sinne des § 48 Abs. 1 AuslG und den "besonders schwerwiegenden Gründen" des Art. 3 Abs. 3 ENA kein qualitativer Unterschied besteht und - wie bereits oben ausgeführt - schwerwiegende Gründe im Sinne des § 48 Abs. 1 AuslG gegeben sind, ist die Ausweisung des Klägers - trotz eines über 10-jährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet - auch gemäß § 3 Abs. 3 ENA nicht zu beanstanden.

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b) Darüber hinaus kann der Kläger auch keine Rechte aus dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ARB 1/80) herleiten. Zwar können türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 oder Art. 7 ARB 1/80 innehaben, gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit ausgewiesen werden, was nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes [vgl. Urt. v. 20 2. 2000 - RS C 340/97 (Nazli) -, InfAuslR 2000, 161] bedeutet, dass eine nur generalpräventiv begründete Ausweisung ausscheidet und daher eine Aufenthaltsbeendigung bei türkischen Staatsangehörigen europarechtlich Gründe der Spezialprävention erfordert, doch greift dieser zusätzliche Ausweisungsschutz im Falle des Klägers nicht durch. Unabhängig davon, dass in seinem Fall schon nichts dafür ersichtlich ist, dass überhaupt die Voraussetzungen der Art. 6 Abs. 1 oder Art. 7. ARB 1/80 in seiner Person vorgelegen haben könnten, erfolgt seine Ausweisung nicht nur aus Gründen der Generalprävention, sondern gerade wegen der konkreten Gefahr weiterer Straftaten, wie ebenfalls bereits im Einzelnen dargelegt wurde. Ist aber die Aufenthaltsbeendigung nach § 14 Abs. 1 ARB 1/80 gerechtfertigt, führt auch das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 zu keinem anderen Ergebnis (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 23. 1. 2002 - 11 MA 4254/01 -, a. a. O.).

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Schließlich kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 berufen.

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Zwar ist der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK insoweit weiter als der des Art. 6 Abs. 1 GG, als er über die Kernfamilie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern hinaus auch die volljährigen Kinder und Familienangehörige im weiteren Sinne erfasst, doch kommt ein auf der Grundlage des § 8 Abs. 2 EMRK unverhältnismäßiger Eingriff in das Familienleben nur dann in Betracht, wenn neben einem engen und auch tatsächlich praktizierten Familienleben zwischen Eltern und erwachsenen Kindern eine Beistandsgemeinschaft im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 6 Abs. 1 GG besteht (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 14. 8. 2001 - 11 LA 564/01 -). Ein derartiger Fall ist hier aber nicht gegeben. Abgesehen davon, dass es schon seit Jahren an einem tatsächlich praktizierten Zusammenleben zwischen dem Klägern und seiner Mutter sowie seinem Stiefvater bzw. seinem leiblichen Vater sowie seinen Halbgeschwistern gefehlt hat, ist hier aber auch nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger selbst oder seine Familienangehörigen im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides auf die Lebenshilfe des jeweils anderen Familienmitgliedes angewiesen waren,

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Eine Verletzung des in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann aber auch dann in Betracht kommen, wenn es sich um Ausländer handelt, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Einzelfalles ein Leben in dem Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29. 9. 1998 - 1 C 8.96 -, a. a. O.). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Der Kläger ist zwar im Bundesrepublik Deutschland geboren worden und hat sich hier auch seither durchgängig aufgehalten. Ferner lebten im Ausweisungszeitpunkt auch seine Mutter, sein Stiefvater, sein leiblicher Vater und seine Halbgeschwister im Bundesgebiet. Eine Eingewöhnung in die Verhältnisse der Türkei wird ihm daher nicht leicht fallen, wobei allerdings das Vorbringen, dass er keine türkischen Sprachkenntnisse habe, obwohl er bis zum Verlassen der Hauptschule nach der 9. Klasse im Haushalt seiner türkischen Mutter gelebt und aufgewachsen ist, nicht glaubhaft ist. Andererseits sind aber auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu seinen Ungunsten die bei den von ihm begangenen Straftaten deutlich gewordene erhebliche kriminelle Energie und die sich daraus ergebende Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Außerdem fehlte es bei ihm in dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt an einer ausreichende Integration in die hiesigen Verhältnisse, so dass auch nicht festgestellt werden kann, dass er faktisch zu einem Inländer geworden ist. Unter Berücksichtigung seines Alters und der damit verbundenen Arbeitsfähigkeit kann davon ausgegangen werden, dass es ihm - trotz aller Eingewöhnungsschwierigkeiten - gelingen wird, in dem Land seiner Staatsangehörigkeit, auch wenn zu diesem noch keinen Bezug hat, Fuß zu fassen.

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Bedenken gegen die Abschiebungsanordnung aus der Haft und die Abschiebungsandrohung sind weder vorgetragen noch ersichtlich.